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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2019

An der Uniklinik Jena erstreiten die Beschäftigten bessere Sanktionsmöglichkeiten
von Max Manzey

Am Uniklinikum in Jena (UKJ) konnte die Bewegung für mehr Personal in den Krankenhäusern einen Durchbruch erzielen. Der Erfolg wurde möglich durch den systematischen Aufbau gewerkschaftlicher Stärke.

Die Pflege galt lange als schwer organisierbar, der Pflegeethos als nicht überwindbares Hindernis für betriebliche Konflikte und Streikbewegungen. Doch der Kostendruck, der seit Einführung des Fallpauschalensystems auf den Krankenhäusern lastet und zu einem rasanten Personalabbau und einer deutlichen Verschlechterung der Patientenversorgung geführt hat, wurde zum Auslöser für eine der bedeutsamsten gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre.
Seit Beginn der Auseinandersetzungen 2016 wurden in 15 Krankenhäusern sog. Tarifverträge Entlastung von den Beschäftigten durchgesetzt. Vorreiterin war die Charité in Berlin, die 2016 den ersten Tarifvertrag Entlastung abschloss. Seitdem wurde der Staffelstab weitergegeben an Unikliniken in Baden-Württemberg, die Unikliniken Essen und Düsseldorf bis nach Augsburg und die Uniklinik im Saarland. Die bisherigen Tarifverträge Entlastung bauten aufeinander auf und wurden von Krankenhaus zu Krankenhaus besser. Trotzdem führten sie bisher nirgendwo zu einer spürbaren Entlastung. Mit der jüngsten Bewegung am Uniklinikum in Jena könnte sich dies ändern.

Was wurde am Uniklinikum Jena erreicht?
Es ist eine zentrale Lehre der bisherigen Tarifverträge Entlastung, dass vereinbarte Stationsbesetzungen wertlos sind, wenn die Nichteinhaltung der Personalstärke nicht hart sanktioniert wird. Im letzten Jahr konnte ein solcher Sanktionsmechanismus, der sog. Belastungsausgleich, erstmalig in Homburg und in Augsburg durchgesetzt werden. Jetzt haben die Beschäftigten des UKJ eine neue Qualität durchgesetzt: In Zukunft erhalten sie bereits ab der sechsten Schicht, die sie unterbesetzt arbeiten, eine Freischicht (zum Vergleich: in Homburg sind es zwölf Schichten).
Der zweite große Fortschritt ist, dass im Tarifvertrag am UKJ erstmals auf Grundlage der Forderungen der Pflegeteams die einzelnen Zielbesetzungen der Stationen verhandelt wurden.
Das große Manko ist, dass sich die Entlastung zunächst nur auf die Pflege am Bett und im OP bezieht. Für die anderen Bereiche und Beschäftigtengruppen konnten keine unmittelbaren Verbesserungen erzielt werden.

Wie konnte der Tarifver­trag durchgesetzt werden?
Die Kampagne war von Anfang an auch als politische Druckkampagne konzipiert. Am 3.Juli stellten die Beschäftigten am UKJ ein 100tägiges Ultimatum auf: Entweder die Klinikleitung und die Landesregierung geben der Forderung nach einem Tarifvertrag Entlastung nach, oder es kommt zu einem unbefristeten Streik zwei Wochen vor den Landtagswahlen.
Die Grundlage für dieses Drohszenario wurde durch den systematischen Aufbau gewerkschaftlicher Stärke mit Unterstützung eines Ver.di-Organizing-Teams gelegt. Im Zentrum der Kampagne standen mehrere sogenannte Stärketests, bei denen die Beschäftigten selbst versuchen, die Mehrheit der KollegInnen für den jeweils nächsten Schritt zu gewinnen und dabei ihre eigene Reichweite und Stärke testen. Bei erfolgreicher Durchführung eines Stärketests kann dieser wiederum, mit dem Rückenwind einer Mehrheit, zum Aufbau von Druck auf Klinikleitung und Politik genutzt werden.
In einem ersten Schritt wurde eine Befragung zur Belastungssituation und zu den Forderungen der KollegInnen durchgeführt. Der zweite Stärketest war eine Unterschriftenpetition mit der Forderung nach einem Tarifvertrag und einem Ultimatum – an der Petition beteiligten sich bereits über 1300 Beschäftigte. Dies wurde im September nochmals gesteigert, als eine Mehrheit der Pflegekräfte ein Portraitfoto für eine Fotopetition einreichte.
Der letzte Stärketest war eine Streikbereitschaftspetition, bei der innerhalb von nur 72 Stunden 1133 Beschäftigte unterschrieben, dass sie bei einem Scheitern der Verhandlungen dazu bereit wären, in den Streik zu treten.
Am 14.Oktober kam es, begleitend zu den Verhandlungen, zu einem eintägigen Warnstreik, an dem über 400 KollegInnen teilnahmen. Auf diese Weise konnte Schritt für Schritt eine betriebliche Stärke aufgebaut werden, die noch wenige Monate vorher für viele undenkbar gewesen wäre.

Teamdelegierte
Neben den Stärketests waren eine Teamdelegiertenstruktur und eine partizipative Verhandlungsführung der Schlüssel zum Erfolg. Im Vorfeld der Verhandlungen wählten alle Teams ihre Delegierten, wobei die Plätze nach Teamgröße gestaffelt wurden (pro 10 Beschäftigte eine Delegierte, aber maximal 4 pro Team). Die Teamdelegierten nahmen bei den Verhandlungen eine besondere Rolle ein, da sie im Nebenraum saßen und in alle wichtigen Entscheidungen direkt eingebunden wurden. Auf dem Höhepunkt der zweiten Verhandlungsrunde waren über 130 gewählte Teamdelegierte anwesend. Nicht zuletzt die Aushandlung der Besetzungszahlen für die einzelnen Stationen wäre ohne dieses Beteiligungsmodell kaum denkbar gewesen.
Das Ultimatum vor den Landtagswahlen verbunden mit dem Aufbau einer beeindruckenden betrieblichen Stärke und Geschlossenheit zeigte Wirkung: Am Tag nach dem Warnstreik wurde in einer Kabinettssitzung der Landesregierung beschlossen, einen Tarifvertrag Entlastung am UKJ zu refinanzieren. Somit war der Weg frei für einen Abschluss, der tatsächlich materielle Verbesserungen bewirkt. Trotz dieses Rückenwinds kam es drei Tage vor den Landtagswahlen zu einer aufreibenden Verhandlungsrunde, die über 34 Stunden am Stück lief (ohne Schlafpause) und kurz vor Abschluss noch zu eskalieren drohte. Nur durch das geschlossene Auftreten der Beschäftigten mit der Streikbereitschaftspetition und den hohen politischen Druck seitens der Landesregierung, die einen Streik kurz vor den Landtagswahlen verhindern wollte, konnte der Abschluss am Ende zugunsten der Beschäftigten gelingen.

Schlussfolgerungen
Die Tarifauseinandersetzung am UKJ ist ein gutes Beispiel für die Bedeutung von Arbeitskämpfen im Bereich der staatlich organisierten sozialen Reproduktion, da es zeigt, wie Kämpfe in diesem Bereich eine hohe politische Sprengkraft entfalten können. Dabei ist das Ausnutzen politischer Zeitfenster zentral, um den maximalen Druck zu entfalten und echte materielle Erfolge zu erreichen.
Der systematische Aufbau betrieblicher Stärke durch Organizingmethoden, verbunden mit einem hohen Grad an Mitbestimmung und Partizipation im Verhandlungsprozess, legt dafür die Grundlage. Die aktuellen Auseinandersetzungen und Organizingkampagnen in den Krankenhäusern leisten einen wichtigen Beitrag zu einer gewerkschaftlichen Erneuerungsbewegung, die auf Konfliktorientierung, Demokratie und Ermächtigung der Beschäftigten setzt.
Der Tarifabschluss am UKJ ist ein weiterer Meilenstein für die Entlastungsbewegung. Aktuell befinden sich die KollegInnen an der Unimedizin Mainz und an der Uniklinik Schleswig-Holstein in der Auseinandersetzung und können diesen Rückenwind hoffentlich nutzen, um die Bewegung einen weiteren Schritt voranzubringen.

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