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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2019

Und immer wieder Gewalt gegen Minderheiten
von Dominik Müller

Mit dem Wahlsieg der Bharatiya Janata Party (BJP – Indische Volkspartei) hat sich auch in Indien eine Partei der äußersten Rechten durchgesetzt. Sie wird von Konzernen und Wirtschaftsgrößen hofiert. Dafür stand auch der Besuch von Angela Merkel und Gefolge Anfang November.

Indien wird als auf dem Weg zur Weltmacht gesehen: Raumfahrtprogramme, militärische Aufrüstung, Sonderwirtschaftszonen – Indien als Investitionsstandort. 2018 sogar mit höheren Wachstumsraten als China.
Den Preis dafür bezahlen Angehörige der Minderheiten: Lynchmorde an Muslimen und Dalits (ehemals «Unberührbare») haben deutlich zugenommen. Viele blieben ungeahndet, in einigen Fällen wurden die Täter von Politikern der BJP sogar als Helden gefeiert.
Seit 2014 regiert die BJP mit absoluter Mehrheit. Bei den Wahlen 2019 konnte sie ihre Stimmenanteile sogar noch erhöhen. Der überwältigende Wahlsieg kam überraschend, denn der Modi-Regierung war es nicht gelungen, ihre Wahlversprechen zu erfüllen. Die Bargeldentwertung, Ende 2016 über Nacht angeordnet, stürzte die Ärmeren in große Not. Umsatz- und Mehrwertsteuer haben vor allem dem Straßenhandel geschadet. Die Verschuldung der Landwirte hat weiter zugenommen. Die Zahl der Selbstmorde steigt stetig.
Auch breite Proteste gegen die Regierungspolitik konnten die Wahl nicht entscheidend beeinflussen. Weder die der Landbevölkerung im Dezember 2018, noch der zweitägige Generalstreik im Januar 2019, an dem sich etwa 180 Millionen beteiligten.
Die BJP gewann die Wahlen mit einem stark auf Modi zugeschnittenen Wahlkampf und viel Geld. In den letzten Monaten vor der Wahl bestritt er etwa 200 Auftritte, präsentierte sich als oberster «Wachmann», bediente das Lager der Hindutva («Indien den Hindus»), die die hinduistische Bevölkerungsmehrheit als Opfer von Verschwörungen islamischer Kräfte sehen.
Die BJP ist der politische Arm einer viel mächtigeren Struktur verschiedener hindunationalistischer Organisationen. Dazu zählen der mächtige Weltrat der Hindus als religiöse Vorfeldorganisation, Studierenden- und Jugendverbände, ein Netzwerk von 20000 Schulen und der mittlerweile größte Gewerkschaftsdachverband. Beim nationalen Freiwilligencorps Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) laufen die Fäden zusammen.
Unter Narendra Modi als Chefminister des Bundesstaats Gujarat gab es 2002 den schlimmsten Pogrom auf dem Subkontinent im neuen Jahrhundert: niedergebrannte Siedlungen, vergewaltigte Frauen, Massenvertreibung und mehr als tausend mehrheitlich muslimische Tote. Modi hatte den hindunationalistischen Mob, darunter einige hochrangige Politiker der BJP, tagelang gewähren lassen.

Herold der Konzerne
Ein Jahr später lud er zum ersten internationalen Wirtschaftsgipfel «Vibrant Gujarat», «Dynamisches Gujarat», ein. Indische und ausländische Konzernchefs kamen, darunter Shell und General Motors. Seitdem findet das alle zwei Jahre statt und zieht mehr als 100000 Führungskräfte aller Welt an.
Bei jedem Gipfel, heißt es, werden mehr als 10000 Geschäfte abgeschlossen und Dutzende Investoren nach Gujarat geholt. Hyundai, Ford und Peugeot sind dort, die deutschen Chemieriesen BASF, Bayer und Lanxess und ihr US-amerikanischer Konkurrent Dupont, der Maschinenbauer Bosch und der Flugzeug- und Zugfabrikant Bombardier.
Mit Vibrant Gujarat war es Modi gelungen, ein neues Bild von sich und dem Bundesstaat Gujarat zu kreieren: ein Investorenparadies. Zweistelliges Wirtschaftswachstum. Nirgends in Indien wurden Kleinbauern schneller für Sonderwirtschaftszonen enteignet, nirgends Streiks effektiver im Keim erstickt.
Auch Wirtschaftskapitäne wie Ratan Tata, der eines der größten Konzernkonglomerate aufgebaut hat und lange als liberales Aushängeschild des indischen Kapitals galt, setzen heute auf die Hindunationalisten. Narendra Modi zog ihn 2009 auf seine Seite, indem er den Großkonzern Tata dazu bewegte, die Produktionsstätte des Nano, des billigsten Autos der Welt, in Gujarat anzusiedeln.
Die neoliberalen Wirtschaftsreformen unter der früheren Regierung der Kongresspartei gingen vielen Investoren viel zu langsam voran. Das «Modell Gujarat» wurde hingegen gelobt. Die Vertreter der indischen Großkonzerne hatten 2009 ein besonderes Geschenk für Modi parat: Die Tatas, Ambanis, Adanis und Mittals wollten Narendra Modi in naher Zukunft als «Indiens Nummer Eins» sehen.
Ausländische Investoren folgten dieser Einschätzung. Ende 2013, wenige Monate vor den damaligen Wahlen, aus denen Modi als Premier hervorging, veröffentlichte die US-Bank Goldman Sachs eine Prognose zur Entwicklung der Wirtschaft in Indien. Schon der Titel «Modi-fying our view» war eine ungeschminkte Wahlempfehlung. Modi sei «ein Agent des Wandels, der Indien von einem Leichtgewicht zu einem Marktschwergewicht aufwertet».
Eigentlich wurde Modis Aufstieg lange für unmöglich gehalten. Die USA und einige europäische Länder betrachteten ihn wegen seiner Rolle bei den Pogromen 2002 als Persona non grata. Doch 2012 sprach ihn eine Sonderkommission, eingesetzt vom Obersten Gericht in Indien, von jeder Verantwortung frei. Dieses Urteil sei allerdings «durch die Unterdrückung einer großen Menge belastender Beweise durch die Sonderermittlungskommission zu Stande gekommen», befand die Tageszeitung Times of India.
Nachdem er im September 2013 zum Spitzenkandidaten der BJP gekürt worden war, rissen die Besuche von Wirtschafts- und Politikerdelegationen aus dem Ausland bei Modi nicht mehr ab. Auch der Geschäftsführer der deutsch-indischen Handelskammer, Bernhard Steinrücke, ist von der Unschuld Modis überzeugt, schließlich sei «Indien eine Demokratie und ein Rechtsstaat».
Nicht weit entfernt von Steinrückes Büro im «Maker Tower», einem der Hochhäuser der beeindruckenden Skyline Mumbais, steht das größte Einfamilienhaus der Welt, mit 27 Stockwerken, 600 Dienstboten und drei Hubschrauberlandeplätzen. Dort lebt einer der wichtigsten Modi-Vertrauten und Förderer: Mukesh Ambani mit seiner Familie. Er ist Multimilliardär und Lenker von Reliance Ltd., dem größten indischen Industriekonglomerat.
Das Antila-Hochhaus steht in einer Stadt, in der 11 Millionen von 22 Millionen Einwohnern in Slums leben, in einem Land, in dem 200 Millionen Menschen chronisch unterernährt sind und mehr als 80 Prozent im informellen Sektor arbeiten, ohne Kranken-, Renten- oder Unfallversicherung.
Nicht nur der Mediensektor setzt auf Modi: Kohle, Bauxit, Zinn und vor allem hochwertiges Eisenerz lagern in mehreren zentralindischen Bundesstaaten in großen Mengen unter der Erde. Erst ein Bruchteil davon wird abgebaut – unter anderem, weil Adivasi, die indigene Bevölkerung Indiens, sich gegen ihre Vertreibung zur Wehr setzten. Aber indische und ausländische Konzerne stehen bereit. Auf 80 Milliarden schätzt eine Londoner Beratungsfirma das Investitionsvolumen – vorausgesetzt, die Operationen der indischen Paramilitärs sind erfolgreich. Die BJP-Regierung hat die Anzahl der Soldaten in der Region auf mehr als 100000 erhöht.
Als einer der wichtigsten Förderer von Modi gilt der Industrielle Gautam Adani und sein gleichnamiger Konzern. Schon während Modi Ministerpräsident in Gujarat war, konnte Adani mit seiner Hilfe Großprojekte durchsetzen und z.B. auf einer Fläche von 60 Quadratkilometern eine Sonderwirtschaftszone mit Containerhafen errichten. Es ist der größte Häfen Indiens, und in der Sonderwirtschaftszone steht das größte Kohlekraftwerk des Subkontinents.
Mangrovenwälder wurden dafür großflächig abgeholzt, die angrenzenden Fischerdörfer klagen über Wasserverschmutzung und Flugasche. Die Vorgängerregierung in Delhi hatte deshalb von Adani umgerechnet 25 Mio. Euro Strafzahlungen gefordert. Ein Gericht untersagte sogar die weitere Ansiedlung von Unternehmen in der Wirtschaftszone. Im Juli 2014, die Regierung Modi war kaum an der Macht, stellte sie Adani die lang ersehnte Umweltunbedenklichkeitsbescheinigung aus.

Repression und Spaltung
Dem Widerstand gegen diese Politik begegnet die Regierung Modi mit harter Repression. Schon in der vergangenen Legislaturperiode wurden viele Menschenrechts- und UmweltaktivistInnen inhaftiert und mit fadenscheinigen Begründungen als «Maoisten» verurteilt.
Die UNO und Amnesty International sind deshalb bei der indischen Regierung interveniert – aber Politiker der BJP weisen das als Einmischung in innere Angelegenheiten zurück.
Im Juli 2014, kurz nachdem Narendra Modi sein Amt angetreten hatte, wurde ein als «vertraulich» klassifizierter Bericht des indischen Inlandsgeheimdienstes im Internet geleakt. Aus dem Ausland finanzierte indische NGOs würden darauf hinarbeiten, «Entwicklungsprojekte zu verhindern». Das umfasse «die Agitation gegen Atomkraftwerke, Uranminen, Kohlekraftwerke, genetisch modifizierte Organismen, industrielle Großprojekte, Staudämme und andere, extraktive Industrien, mit negativer Auswirkung auf das Wachstum».
Die BJP ist heute eine der reichsten Parteien weltweit. Während sie NGOs anordnet, ihre Konten einzufrieren, fließen auf die eigenen Konten Spenden in nie gekanntem Ausmaß. Dazu beigetragen hat ein 2017 verabschiedetes Gesetz zur Parteienfinanzierung. Barspenden an Parteien wurden zwar von umgerechnet 250 auf 25 Euro begrenzt, «zur Bekämpfung der Korruption». Allerdings kann jeder Bürger und jede in Indien ansässige Körperschaft der Partei ihrer Wahl ein Vielfaches an Geld über die Staatsbank zukommen lassen. Allein in den Monaten März und April 2019 gingen auf diese Weise 500 Millionen US-Dollar ein, fast ausschließlich für die BJP. Anders als in den USA bleiben in Indien die Spender für die Öffentlichkeit anonym.
Das Ende der Gewaltspirale gegen Minderheiten ist längst nicht erreicht. Der Terror wird «institutionalisiert». Eine regelrechte ethnische Säuberung wird derzeit im nordöstlichen Bundesstaat Assam vorbereitet. Alle 35 Millionen Einwohner müssen beweisen, dass sie oder ihre Eltern bereits vor 1971 in Assam lebten. Sonst verlieren sie ihre Staatsbürgerschaft.
Anfang September wurde eine Liste mit 1,9 Millionen Namen veröffentlicht, die ihre Staatsbürgerschaft verloren haben – vor allem Muslime. Die Behörden haben damit begonnen, sie aus ihren Siedlungen zu vertreiben und zu internieren.
Assam ist nur ein Versuchslabor. Innenminister Amit Shah, der die vermeintlichen Einwanderer auch als «Ungeziefer» bezeichnet, hat angekündigt, die Staatsbürgerschaft ähnlich wie in Assam überall in Indien zu überprüfen.

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