Betr.: Greta Thunberg und die fff-Bewegung
dokumentiert
Beschreiben können wir diese neue Bewegung. Einschätzen können wir sie nicht.
Und nicht nur den Linken geht es so. Auch der «Politik». Das politische Establishment flippt aus, gerät in Panik. Nicht weil Greta mit der Apokalypse droht, sondern weil sie alle politischen Regeln und Gewissheiten umstößt.
Ja, auch die ehernen Gewissheiten der Linken.
Der Klassenkampf, der Kampf gegen Rassismus, für die Frauen-Befreiung, gegen Ausbeutung, ja sogar für die Umwelt – welchen Stellenwert hat das alles angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass in 10 Jahren die Menschheit nicht mehr gerettet werden kann? Wenn nicht alle unsere Anstrengungen auf das eine Ziel gerichtet sind: dass die Treibhausgasemissionen gestoppt werden, dass innerhalb dieser 10 Jahre die Naturzerstörung beendet wird. Greta: Wir müssen unser ganzes Sein auf den Klimawandel konzentrieren. Denn wenn wir das nicht tun, waren all unsere Errungenschaften und Fortschritte vergebens.
Stellen wir uns vor, wir setzen in diesen 10 Jahren die 30-Stunden-Woche durch, den freien Zugang aller Migranten in die reichen Länder, die Befreiung der Frau im Orient und bei uns, die Stilllegung aller Atomkraftwerke… – nur eines gelingt nicht: der Klimazerstörung vor Erreichung der «Kipp-Punkte» Einhalt zu gebieten. Dann wird bis Ende des Jahrhunderts das Chaos ausbrechen und die menschliche Zivilisation untergehen. Und mit ihr alle unsere Errungenschaften und «Siege».
Das wissen wir doch alles!
Das Problem ist: Dieses Wissen können wir nicht verarbeiten. Nicht mit dem Verstand, um daraus die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen, für Strategien und Taktiken. Und mit den Gefühlen gleich gar nicht. Panik? Nirgends.
Verstand und Gefühle des Menschen funktionieren nicht für solche Dimensionen der Gefährdung. Bin ich in großer Gefahr, kann ich Todesangst spüren. Die kann sich steigern, wenn ich meine Familie gefährdet sehe. Aber ist eine ganze Stadt, ein ganzes Volk, die ganze Menschheit in Todesgefahr – dann steigert sich meine Todesangst nicht ins Unendliche. Eine Art natürlicher Schutz der menschlichen Natur. Die Massen in Todesgefahr kriegen es nicht hin, entsprechend der Dimension der Gefährdung zu handeln.
Greta Thunberg als Autistin hat diesen «natürlichen Schutz» nicht. Die Wahrscheinlichkeit der Apokalypse erdrückt sie ungefiltert, ihren Verstand und ihre Gefühle. Ist sie krank? Oder sind wir alle krank, nur sie nicht? Greta selbst: «Das Asperger-Syndrom ist keine Krankheit, sondern eine Gabe.»
Jedenfalls bin ich jeden Freitag perplex, wie leicht die Jugendlichen und Kinder die Dramatik der Zukunft verstehen und verarbeiten. Und wie schwer sich die Erwachsenen damit tun – gerade die Älteren, gerade die Linken. Realitätsverweigerung.
Was tun?
Greta und fff sind unpolitisch – in dem Sinne, dass sie außerhalb der Logik der existierenden politischen Strukturen denken und handeln. (Greta: …was nötig ist – und nicht, was möglich ist.) Insofern sind sie im Grunde revolutionär. Freilich entwickeln sie noch keine revolutionären Alternativen, sondern appellieren brav an die Politik.
Alle politischen Kräfte versuchen, die fff-Bewegung ins Korsett unserer politischen Strukturen und Denkweisen zu pressen: Parlamentarismus, Gesetze, Demokratie, Öffentlichkeit… Dazu wir linken Leute: gegen Rassismus, für Frauenbefreiung, gegen Plastikmüll, industrielle Landwirtschaft, gegen S2 … bis hin zum Anti-Kapitalismus. Und wir AktivistInnen in solchen Bewegung träumen: Wenn doch die fff auch bei uns mitkämpften – schließlich gibt es überall Verbindungen zur Klimakatastrophe. Letztlich stecken die Zwänge des kapitalistischen Systems dahinter – das müssen die fff doch auch erkennen!
Stopp! Die fff sind keine zusätzliche zu den bereits existierenden Bewegungen, irgendeine weitere Umweltinitiative. Erstens sind sie eine panikartige Reaktion der Jugend auf die Wahrscheinlichkeit der Apokalypse. Diese Qualität hat keine unserer Bewegungen. Zweitens beweisen sie mit ihrer Aktionsform, den freitäglichen Schulstreiks, wie ernst sie es meinen. Alle Argumente gegen die fff (Lindner!) werden da lächerlich.
Für uns Linke müssen diese Eigenschaften der fff geradezu heilig sein. Denn sie machen die fff einzigartig, kraftvoll, explosiv. Nur wenn wir das verstanden haben, wenn wir die Eigendynamik der fff respektieren, können wir sie unterstützen und mit ihnen reden. Auf keinen Fall dürfen wir versuchen, sie in unsere bestehenden Bewegungen zu integrieren. Das hieße, die fff zu kastrieren. Denn schließlich sind unsere Bewegungen, so verdienstvoll sie auch sein mögen, Teile der politischen Strukturen, die die Klimakatastrophe bisher nicht verhindert haben. Greta: «Alles muss verändert werden». Das gilt auch für unsere politische Arbeit!
Unser Engagement für die 30-Stunden-Woche, für offene Grenzen, gegen S21, für Rojava und überhaupt gegen das ganze kapitalistische System sind nur dann interessant und glaubwürdig für die fff, wenn sie Teile eines 10-Jahres-Plans zur Verhinderung des Klimakollaps sind.
Als Greta Thunberg in Davos gefragt wurde, was müssen wir ändern, um das Klima zu retten, antwortete sie nach kurzem Überlegen: «Everything.» In dieser Einsicht hat sie Recht. Alles muss verändert werden. Auch grundlegende Konzepte der Revolution aus dem 20.Jahrhundert müssen wir aufgeben. Jetzt geht es um die Rettung des Klimas, nicht um die Machtergreifung durch das Proletariat.
Nicht dass wir unser oberstes Ziel, die Zerstörung des Kapitalismus, aufgeben müssen. Die Einsicht, dass die kapitalistischen Zwänge (und nicht menschliche Schwächen) die Menschheit und den Planeten zugrunde richten, haben wir vielleicht Greta voraus. Aber diese Einsicht müssen wir aus den Diskussionen und Kampferfahrungen um die Klimarettung ableiten und aufzeigen, jeden Tag von neuem. Und nicht plakativ unserem «revolutionären Flügel» der Umweltbewegung aufkleben. Vielleicht ist die vegane Lebensweise heute so wichtig für die Zerstörung des Kapitalismus wie im letzten Jahrhundert die Bewaffnung des Proletariats?
Ingo Speidel, Stuttgart
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