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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2020

Der Berliner S-Bahn drohen Zerschlagung und Privatisierung
von Bernhard Knierim

Die Berliner S-Bahn ist das Rückgrat des Berliner Nahverkehrs. Sie befördert jährlich fast 500 Millionen Menschen und verbindet mit ihrem 327 Kilometer langen Streckennetz die Innenstadt mit den Randbezirken bis hinein ins benachbarte Brandenburg.

Mit dem Wachsen der Stadt, die sich zunehmend ins Umland ausbreitet, soll das Netz in den nächsten Jahren sogar noch erweitert werden.
Stattdessen drohen dem Berliner S-Bahn-System jetzt Privatisierung und Zerschlagung: Nach den Vorgaben der EU muss der Betrieb – wie auch der sonstige Nahverkehr – ausgeschrieben und im Wettbewerb vergeben werden. Nur ein kommunales Unternehmen wie beispielsweise die BVG, Betreiberin der Berliner U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse, könnte den Betrieb direkt ohne Ausschreibung übernehmen. Die S-Bahn Berlin GmbH als bisherige Betreiberin ist ein Tochterunternehmen der bundeseigenen Deutsche Bahn AG.
Das Land Berlin hat sich nun aber unter Führung der wettbewerbsorientierten Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) für einen besonders risikoreichen Weg der Ausschreibung entschieden: Anstelle des Gesamtnetzes wird das S-Bahn-Netz in mehreren Teilen ausgeschrieben, die Fahrzeuginstandhaltung soll noch einmal davon getrennt werden. Das wird viele neue Schnittstellen und dadurch letztlich auch höhere Kosten verursachen – während der Senat vollmundig Kosteneinsparungen in dreistelliger Millionenhöhe verspricht.

Die Pläne
Schon 2012 war der S-Bahn-Ring als erstes Teilnetz ausgeschrieben worden – unter erheblichem Widerstand des Berliner S-Bahn-Tisches, einem Zusammenschluss von Fahrgästen und Beschäftigten, die sich gemeinsam für eine einheitliche S-Bahn einsetzten. Nachdem alle anderen Bieter ausgestiegen waren, wurde der Betrieb inklusive der Anschaffung neuer Züge aber wieder an die S-Bahn Berlin GmbH vergeben, sodass bislang weiter alles in einer Hand ist. Bei der nun anstehenden Ausschreibung sowohl des Nord-Süd-Netzes (S1, S2, S25, S26) als auch des West-Ost-Netzes (S3, S5, S7, S9, S75) sollen nach dem Willen der Senatorin aber verschiedene Unternehmen zum Zuge kommen.
Zwischenzeitlich war sogar eine «Loslimitierung» geplant, die von vorneherein verhindert hätte, dass der gleiche Betreiber beide Teilnetze übernehmen könnte. Das ist nun zwar formell weiter möglich, scheint aber eher unwahrscheinlich in Anbetracht der vielen interessierten Unternehmen und des politischen Willens, andere Betreiber als die DB AG zum Zuge kommen zu lassen.
Es ist also ein durchaus realistisches Szenario, dass die Berliner S-Bahn-Linien zukünftig unterschiedliche Betreiber haben und die Züge wiederum von anderen Unternehmen instandgehalten werden – während das Schienennetz weiter von der DB AG betrieben wird und das Land Berlin selbst die neuen S-Bahn-Züge anschafft.
Die Folge einer solchen Entwicklung wäre, dass die Berliner S-Bahn aufgrund der umfangreichen Umstrukturierungen über Jahre nicht wie eigentlich notwendig weiterentwickelt werden könnte. So müssten für neue Betreiber mindestens eine, möglicherweise sogar zwei neue Instandhaltungswerkstätten einschließlich vieler Abstellgleise aufgebaut werden, weil die S-Bahn Berlin GmbH ihre Anlagen anderen Betreibern nicht zur Verfügung stellen will. Um diese neuen Werkstätten aufbauen zu können, wären aufwändige neue Strecken notwendig, die jedoch keine verbesserten Verbindungen für die Fahrgäste schaffen.

Leidvolle Erfahrungen
Die Aufsplitterung des S-Bahn-Betriebs auf mehrere Unternehmen, die natürlich alle profitorientiert arbeiten, erzeugt zudem enorme Risiken. Bei anderen Vergaben von Nahverkehrsleistungen der Bahn im Wettbewerb kam es allein innerhalb des letzten Jahres immer wieder zu erheblichen Problemen:
– Sowohl im Dieselnetz Sachsen-Anhalt (Abellio) als auch im Nahverkehr in Baden-Württemberg (Go-Ahead, National Express, Abellio) kam es immer wieder zu Zugausfällen aufgrund von fehlendem Personal (insbesondere Lokführern) und technischen Problemen.
– Die Städtebahn Sachsen ist im Juli in die Insolvenz gegangen, wodurch mehrere Regionalbahnlinien über Wochen nicht mehr betrieben wurden.
– Bei der S-Bahn Rhein-Ruhr musste die Vergabe für den Betrieb von zwei S-Bahn-Linien an das Unternehmen Keolis im September 2019 nur zweieinhalb Monate vor Betriebsübernahme wieder zurückgezogen werden, weil das Unternehmen nicht genug Personal einstellte. Die dadurch erforderliche Notvergabe an die DB AG war nur mit Glück in der Kürze der Zeit möglich, verursacht nun aber nochmals Zusatzkosten.
Auch in Berlin wären solche Szenarien alles andere als unwahrscheinlich, zumal das S-Bahn-Netz eines der am dichtesten befahrenen Netze überhaupt ist und dadurch besonders hohe betriebliche Anforderungen stellt. Schon ein liegengebliebener Zug kann den Betrieb erheblich durcheinanderbringen.
Das schlimmste Szenario wäre aber der komplette Ausfall eines Betreibers, was kurzfristig wohl kaum kompensierbar wäre. Wenn aber die Qualität und die Zuverlässigkeit leiden, steigen wieder mehr Fahrgäste auf das Auto um – und zwar oft auf Dauer. Diesen Effekt konnte man schon bei der S-Bahn-Krise 2008/2009 beobachten, als zeitweise nur noch ein Drittel der S-Bahn-Züge einsatzbereit war und ganze Linien über Wochen nicht mehr bedient werden konnten.

Mehdorns Erbe
Diese Krise wird nun immer wieder als Grund angeführt, warum eine wettbewerbliche Vergabe besser sei als das bisherige, integrierte Unternehmen. Tatsächlich waren aber auch bei dieser Krise schon übertriebene Sparmaßnahmen die Ursache, denn das damalige Management des DB-Konzerns unter Bahnchef Hartmut Mehdorn hatte dem Tochterunternehmen S-Bahn Berlin GmbH völlig unrealistische Gewinnvorgaben gemacht, aufgrund derer wichtige Instandhaltungswerkstätten geschlossen wurden. Das führte dazu, dass Züge nicht mehr rechtzeitig gewartet werden konnten und aus dem Betrieb gezogen werden mussten.
Es wäre im übrigen eine bittere Ironie der Geschichte, wenn nun das französische Unternehmen Transdev den Zuschlag für einen Teil des S-Bahn-Netzes erhalten würde, dessen heutiger Geschäftsführer, Tobias Heinemann, die S-Bahn Berlin GmbH ab 2007 in eben diese Krise geführt hat.
Die Zersplitterung wäre aber nicht nur für die Fahrgäste problematisch, sondern auch für die Beschäftigten der S-Bahn. Sie leiden seit Jahren unter dem hohen Renditedruck an das Unternehmen und einer zunehmenden Arbeitsverdichtung. Es ist unklar, wie es mit der Ausschreibung für sie weitergeht; viele müssen sich möglicherweise auf einen neuen Arbeitgeber mit möglicherweise schlechteren Arbeitsbedingungen einstellen.

Es gibt Alternativen
Aber gibt es überhaupt Alternativen zur Ausschreibung im Wettbewerb, wenn diese doch von der EU vorgeschrieben ist? Tatsächlich hätte das Land Berlin durchaus andere Möglichkeiten, die die nun drohende Zerschlagung vermeiden würden:
Die einfachste Möglichkeit wäre ein landeseigenes S-Bahn-Unternehmen, an das der Betrieb ohne Ausschreibung direkt vergeben werden dürfte. Das gab es in der Vergangenheit schon einmal, als in den 1980er Jahren die Westberliner S-Bahn-Linien von der BVG mit betrieben wurden. Ein solcher landeseigener Betrieb müsste in enger Partnerschaft mit der DB AG als Betreiberin des Netzes geführt werden. Zwischen zwei öffentlichen Unternehmen sollte dies möglich sein, zumal inzwischen weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass eine Orientierung der DB AG allein am Bilanzgewinn nicht sinnvoll ist. Stattdessen soll das bundeseigene Bahnunternehmen nach anderen Zielen gesteuert werden und vor allem einen sicheren, zuverlässigen, komfortablen Bahnverkehr flächendeckend im ganzen Land gewährleisten.
Die zweite Möglichkeit wäre eine Veränderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), die das Land Berlin gemeinsam mit den ebenfalls betroffenen Ländern Brandenburg, Hamburg und weiteren im Bundesrat anschieben könnte. Ziel müsste in diesem Fall die Anpassung des GWB an das EU-Recht sein, das Art.5 Abs.4a der EU-Verordnung 1370/2007 – anders als das deutsche Gesetz – eine Direktvergabe in «Spezialnetzen» durchaus vorsieht. Das Berliner S-Bahn-Netz mit seinem eigenen Strom- und speziellem Zugsicherungssystem ist zweifelsohne ein solches «Spezialnetz» – wie im übrigen auch das Hamburger S-Bahn-Netz.
Eine Direktvergabe aller Linien an einen Betreiber – am besten in öffentlicher Hand – würde darüber hinaus viele positive Synergien ermöglichen und Risiken minimieren. So bräuchte man keine parallelen Werkstätten und keine mehrfachen Reserven an Fahrzeugen und Personal, und auch Management und Verwaltung gäbe es weiterhin nur einmal statt mehrfach.
Auch die Beschäftigten hätten dadurch eine stabile Perspektive, und alle Ressourcen könnten auf die dringend notwendige Weiterentwicklung des S-Bahn-Netzes konzentriert werden, anstatt auf Umstrukturierungen und den Aufbau von Parallelstrukturen. Schließlich wird in Zeiten der Klimakrise und in einer rapide wachsenden Stadt ein guter und stabiler öffentlicher Verkehr mehr denn je benötigt.

* Bernhard Knierim ist Politikwissenschaftler und Biophysiker, Autor mehrerer Bücher, zuletzt (gemeinsam mit Winfried Wolf) Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen (Köln: PapyRossa, 2019) und engagiert sich in verschiedenen Initiativen für eine bessere Bahn.

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