Zum 100.Geburtstag
von Kai Böhne
Am 21.Dezember jährte sich der 100.Geburtstag des lange Zeit vergessenen tschechischen Dichters Ivan Blatný.
In den letzten Jahren stieg das Interesse an seiner Person. 2015 wurde Martin Reiners Roman über das Leben Blatnýs mit dem «Magnesia Litera», dem wichtigsten tschechischen Literaturpreis, als Buch des Jahres ausgezeichnet.
Die Hörfunkautorin Christine Nagel widmete der außergewöhnlichen Lebensgeschichte dieses Lyrikers ein Hörspiel, das 2018 ausgestrahlt wurde. Zum runden Geburtstag veröffentlichte die tschechische Post eine Sondermarke, um an diese eigentümliche und eigenwillige Dichterpersönlichkeit zu erinnern.
Wer war dieser Blatný? Bereits als Kind verlor er seine Eltern. Ivan wuchs bei seiner Großmutter auf. Als Erbe des optischen Betriebs seines Großvaters war er materiell abgesichert. Blatný studierte in Brünn tschechische und deutsche Sprache sowie Esperanto. In dem surrealistischen Schriftsteller Vítezslav Nezval fand Blatný einen literarischen Mentor und Unterstützer. Mit 21 Jahren publizierte der junge Poet seinen ersten idealistischen Gedichtband. Ein Jahr später, 1941, gewann er mit seiner zweiten Lyriksammlung Melancholické procházky («Melancholische Spaziergänge») einen Literaturwettbewerb. Nachdem er mit 28 Jahren für mehrere Zeitschriften geschrieben und bereits fünf Lyrikbände verfasst hatte, war es Blatný gelungen, sich Anerkennung als aufstrebender Lyriker zu erarbeiten.
1948 kehrte Blatný von einer Schriftstellerreise nach London nicht wieder in die Tschechoslowakei zurück. Die «Gruppe 42», eine avantgardistische Künstlervereinigung, der er sich zugehörig fühlte, war verboten worden. Sie galt der herrschenden KP in Prag als dekadent und kosmopolitisch. Im BBC-Rundfunk kritisierte Blatný die Unterdrückung der Freiheit und Kultur in seiner Heimat. Daraufhin wurde er in der Tschechoslowakei als Verräter eingestuft; seine Staatsangehörigkeit wurde ihm entzogen, sein Vermögen konfisziert und seine Gedichte verboten.
Für Blatný war die Entscheidung, in England zu bleiben, folgenschwer. Mit dem harten, entbehrungsreichen Nachkriegsalltag kam er nicht zurecht. Fortan war sein Leben geprägt von materiellen Sorgen und psychischen Auffälligkeiten. Vergeblich versuchte er, als Journalist Fuß zu fassen.
Buchautor Martin Reiner verweist auf den massiven Bruch in Blatnýs Biografie: In der Tschechoslowakei war er ein «erfolgreicher und reicher Mann». Die Frauen umschwärmten ihn. Nach der Emigration war er ein Niemand. Er kannte die Landessprache nicht und hatte kein Geld. Blatný fühlte sich ständig vom tschechoslowakischen Geheimdienst verfolgt und lebte gehetzt in teils realer, teils eingebildeter Furcht vor Observation und Einsamkeit. Er entwickelte paranoide Ängste und suchte Schutz, indem er sich freiwillig in verschiedene psychiatrische Kliniken begab.
Über dreieinhalb Jahrzehnte lebte er hinter dem Schutz klinischer Mauern und schrieb unentwegt weiter, bis zu seinem Tod am 5.August 1990. Blatný lebte in seiner Sprache, die ihm Lust und einziges Vergnügen war. Viele seiner Gedichte, die er in den Kliniken verfasste, wurden achtlos weggeworfen.
Mitte der 70er Jahre schrieb die aufmerksame Krankenschwester Frances Meacham Literaturgeschichte. Freunde aus Brünn hatten sie auf das Leben des hospitalisierten Dichters aufmerksam gemacht. Sie besuchte ihn, ermunterte ihn zu schreiben, sammelte seine Aufzeichnungen und leitete sie an den tschechoslowakischen Exilverlag «68 Publishers» in Toronto weiter. Dort erschien 1979, nach über 30 Jahren, mit Alte Wohnsitze wieder ein Gedichtband von Ivan Blatný.
Im gleichen Jahr traf sich der Mitbegründer der «Gruppe 42» und ebenfalls vom Surrealismus geprägte Künstler Jirí Kolár mit dem wiederentdeckten Blatný und riet diesem, alles Alltägliche in einem dichterischen Tagebuch festzuhalten. Der Zuspruch motivierte Blatný. Aus seinen späteren Notaten entstand der Gedichtband Hilfsschule Bixley. Im Folgejahr berichtete ein Journalistenteam in einer Stern-Reportage über den vergessenen Poeten und dessen Schicksal. Der Beitrag machte Blatný auch außerhalb von Emigrantenkreisen bekannt. Er bekam Hilfsangebote und eine Schreibmaschine.
In seinen Assoziationstexten wechselte Blatný zwischen mehreren Sprachen, er schrieb in Tschechisch, Englisch, Französisch und Deutsch und reimte über Sprachgrenzen hinweg. In seinen Gedichten und Geistesblitzen sprang er zwischen Gegenwart und fernsten Erinnerungen hin und her. Den englischen Klinikalltag und das ferne, unerreichbare Brünn mit seinen ehemaligen Dichterfreunden verpackte er zu einem Vers. Daher ist es außerordentlich schwer, seine Aufzeichnungen zu übersetzen.
Die Berliner Germanistin Bettina Hartz mutmaßt: «War die Flucht ins Krankenhaus nicht nur Lebensuntüchtigkeit und Flucht vor vermeintlichen Geheimdienstspitzeln, sondern vielleicht auch die einzige Möglichkeit zur Rettung einer dichterischen Technik?» Der Status als Patient schützte Blatný nicht nur als Person, sondern auch sein surrealistisches Werk. Da er ohnehin als «verrückt» galt, konnte er seine innere Zensur auf ein Minimum herunterschrauben und seine inneren und äußeren Stimmen viersprachig ungezügelt sprechen lassen.
«Schreiben Sie schnell, ohne vorgefasstes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein zu überlegen», hatte André Breton 1924 im ersten «Surrealistischen Manifest» formuliert. Blatný konnte seine Sprache fließen lassen, er musste niemanden beeindrucken, kein Geld verdienen – beste Voraussetzungen für das von Breton postulierte Schreiben ohne die Kontrolle der Vernunft.
Ivan Blatný: Alte Wohnsitze. Gedichte. Wien: Edition Korrespondenzen, 2005.
Ivan Blatný: Hilfsschule Bixley. Gedichte. Wien: Edition Korrespondenzen, 2018.
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