Noch lange nicht im Ruhestand
von Gisela Notz*
Bert Brechts Oma war 72 Jahre alt und seit kurzem Witwe, als sie ihr Leben schlagartig änderte und «die kurzen Jahre der Freiheit» begannen.
Bis dahin lebte sie in Armut, Abhängigkeit und Unfreiheit. Sie hatte fünf Kinder großgezogen, den Mann und den ärmlichen Haushalt versorgt. Ihr neues Verhalten, zu dem der Umgang mit einem sozialistischen Flickschuster, Essen im Gasthof, Rotweintrinken und Kartenspiel gehörte, passte damals nicht zu der in 72 Jahren erreichten und aufrechterhaltenen Würde und widersprach dem konservativen kleinbürgerlichen Normensystem, wonach sich eine Greisin an ihre Familie zu halten hatte. Brechts «unwürdige Greisin» konnte die Freiheit nur zwei Jahre genießen, dann ist sie gestorben.
Die Geschichte spielt im Jahr 1910. Heute sind Frauen nicht unbedingt Greisinnen, wenn sie 72 Jahre alt sind. Die Lebenserwartung und auch die Erwartungen an das Leben sind gestiegen. Viele alte und ältere Frauen wollen auch heute nicht die Rolle, die ihnen im «Ruhestand» zugedacht wird, erfüllen.
Die Welt ist dennoch nicht einfacher geworden. Wenn die «Omas» noch rüstig sind, erwartet man auch heute, dass sie die Enkel (mit)versorgen, anderen Alten helfen, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind wie sie, und auch sonst allerlei Gutes tun. Unausgeschöpfte Potenziale für ehrenamtliches Engagement sehen die Wohlfahrtsverbände und blicken auf die alten Frauen.
Im «Freiwilligensurvey» des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend von 2009 war man sich bereits nicht mehr ganz sicher, wohin die Potenziale führen werden: «Wegen ihrer steigenden Fitness und ihres verbesserten Bildungsniveaus werden die älteren Menschen weiterhin für freiwilliges Engagement aufgeschlossen sein, sich jedoch in steigendem Maße als kritische und selbstbewusste Engagierte erweisen. Zwar kümmern sich engagierte Seniorinnen und Senioren, vor allem im sozialen Bereich, verstärkt um ältere Menschen, dennoch richtet sich ihr Engagement zunehmend auch direkt auf das Gemeinwesen.» Die Vermutung hat sich bestätigt.
Die «Omas gegen Rechts» sind die aufmüpfigen Frauen, die ihr Erfahrungswissen einsetzen, um gegen den nicht mehr zu übersehenden Rechtsruck in unserer Gesellschaft zu demonstrieren. Sie fürchten auch die Schwierigkeiten nicht, die sie mit ihren Kindern bekommen, weil sie nicht als «richtige Omas» für die Betreuung der Enkel zur Verfügung stehen, sondern ihre eigenen Terminkalender haben.
Sie leisten politischen Widerstand. Manche ältere Frauen waren schon in den 1970er Jahren in der Frauenbewegung aktiv, andere haben im Herbst 2012 lautstark ihre Begegnungsstätte in der «Stillen Straße» in Berlin besetzt, «voll cool» Occupy organisiert, den Spruch «Wir bleiben alle» auf die Transparente geschrieben, um in Mieterinitiativen oder im Engagement für Geflüchtete lautstark ihren Protest zu artikulieren. Jetzt mischen sie sich in den Kampf gegen den Rechtsruck in Europa und anderswo ein. Sie wollen keine Ruhe geben und sich politisch nicht ausklinken.
Die «Omas gegen Rechts» sind überall dort, wo Protest und Widerstand notwendig ist. Ihr Name ist Programm Die Botschaft ist klar und eindeutig und kann von keiner Partei, Organisation oder Kirche falsch interpretiert oder vereinnahmt oder gar ins Gegenteil verkehrt werden. «Omas gegen Rechts», so steht es schwarz auf weiß auf ihren immer gleichen Schildern in der immer gleichen Schrift.
Egal ob es um die «Unteilbar»-Demo in Dresden geht, die Gegendemos gegen den «Marsch für das Leben» oder die Proteste für den Erhalt der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA und die Klimademo von Fridays for Future, die «Omas» sind dabei und nicht zu übersehen. Sie gehen auf die Straße und in die Veranstaltungen, zusammen mit den jungen Menschen. Und das ist gut so, denn ihre Mission ist wichtig.
Gegründet haben sie sich als Reaktion auf die Nationalwahlen im November 2017 in Wien, als die konservative ÖVP unter Sebastian Kurz mit 31,5 Prozent stimmenstärkste Partei und die rechtspopulistische FPÖ mit 26 Prozent drittstärkste Partei geworden war. «Wir möchten allen Mut machen, die noch zu Hause sitzen und glauben, es ginge sie alles nichts an oder sie wären hilflos», schreibt Monika Salzer, eine der Gründerinnen in ihrem Buch Omas gegen rechts. Warum wir für die Zukunft unserer Enkel kämpfen.
Ihre Treffen sind allerdings für alle interessierten und unterstützenden Menschen offen, die bereit sind, sich gegen den Rechtsruck in Europa einzusetzen. Alle, die sich mit den Grundsätzen der «Omas» identifizieren, können jederzeit mitmachen.
Zu ihren Grundsätzen gehört, dass bedrohliche Entwicklungen wie Antisemitismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Faschismus erkannt und benannt werden und konkret politischer Widerstand und die Bewusstseinsbildung organisiert werden. Die Devise lautet: «Alt sein heißt nicht stumm sein!» Das machte Hildegard Rugenstein im Interview mit der Märkischen Allgemeinen deutlich: «Unser Ziel ist es, die vergiftetete Atmosphäre aus unserer Oma-Perspektive aufzumischen. Unser Engagement ist auch ein Verzweiflungsruf meiner Generation. Wir haben Lebenserfahrung und können und müssen jetzt Prioritäten setzen.»
Eine der zahlreichen phantasievollen Aktionen, die mir sehr gut gefallen hat, kam aus der Gießener Gruppe der «Omas gegen Rechts». Sie hatten nicht nur an einer Veranstaltung am 10.September 2019 teilgenommen, bei der es um «Rechtsextreme und Lebensschützer» ging, sie stellten sich auch im Februar 2019 mit 50 Omas einer Handvoll «Lebensschützer» entgegen, die eine Mahnwache vor der Praxis einer Ärztin hielten.
Die Ärztin war zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt worden, weil sie auf ihrer Internetseite Informationen zum Schwangerschaftsabbruch veröffentlicht hatte. Während die Abtreibungsgegner laut beteten und Bilder von «ungeborenen Babys» – so nennen sie die Föten – gen Himmel streckten, sangen die Frauen Lieder wie «Die Gedanken sind frei» und den alten Partisanensong «Bella Ciao». Auch die umgedichtete «Moritat von Mackie Messer» aus Brechts Dreigroschenoper gehört zum Repertoire, das die Omas regelmäßig als Mittel gegen gebrüllte Parolen einsetzen.
Zu hoffen ist, dass sich noch mehr Menschen den Bündnissen gegen Rechts und auch den «Omas» anschließen. Denn die Erkenntnisse der (Frauen-)Bewegungen der 1970er Jahre: «Allein machen sie dich ein» oder «Wer kämpft kann verlieren – wer nicht kämpft hat schon verloren», sind heute wichtiger denn je.
* Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, Autorin zahlreicher Bücher, gehört u.a. dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung an.