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Arbeitskämpfe 1. Januar 2020

Um die Tarifbindung ist es in der Bundesrepublik nicht mehr gut bestellt
von Manfred Dietenberger

Die deutschen Gewerkschaften feierten letztes Jahr das sog. Stinnes-Legien-Abkommen. Am 15.November 1918, nur wenige Tage nach dem Beginn der deutschen Novemberrevolution, ging damals unter den Fabrikherren die Angst vor der Räterepublik um.

Verhandlungen mit Gewerkschaften erschienen den Firmenbossen als das kleinere Übel. Nur deshalb anerkannten die Unternehmerverbände erstmals Gewerkschaften und versprachen, die Arbeitsbeziehungen künftig durch Tarifverträge zu regeln.
Gut 100 Jahre später fürchten sich die Unternehmer längst nicht mehr vor den Gewerkschaften. Deren Mitgliederzahlen gehen seit 1990 drastisch zurück – eine Folge der gewerkschaftlichen Schwäche, Tarifverträge zu erzwingen; die Tarifbindung von Unternehmen in Deutschland erodiert in mehr als nur besorgniserregendem Umfang. Immer mehr Beschäftigten werden tarifvertraglich abgesicherte Arbeits- und Einkommensbedingungen vorenthalten, arbeiten ohne Tarifvertrag wird mehr und mehr zum Normalfall – zum Nachteil der Beschäftigten und der ganzen Gesellschaft.
Wurden in den 90er Jahren noch vier von fünf Beschäftigten nach Tarif bezahlt, ist es jetzt nur noch gut jeder zweite. In anderen europäischen Ländern ist die Tarifbindung weit höher; in Frankreich und Österreich liegt sie bei fast 100 Prozent. Nur noch 56 bzw. 45 Prozent der Beschäftigten in West und Ost arbeiten in tarifgebundenen Unternehmen. Schlusslichter unter den Bundesländern sind Thüringen und Sachsen, dort beträgt die Tarifbindung nur noch 43 bzw. 39 Prozent. Damit sinkt unaufhörlich die Zahl der Beschäftigten, die von tariflichen Bestimmungen wie Tariflöhnen, kürzeren Arbeitszeiten, mehr Urlaubstagen, Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld u.a. «profitieren».
Die Hans-Böckler-Stiftung des DGB belegt darüber hinaus in einer aktuellen Studie das Ausmaß der finanziellen Auswirkungen auf die Gesellschaft: Durch die Tarifflucht der Arbeitgeber und die damit einhergehenden Dumpinglöhne und prekären Beschäftigungen werden den Sozialkassen und der öffentlichen Hand jährlich Milliarden vorenthalten, die stattdessen die Geldsäcke der Reichen füllen – es sind jährlich rund 40 Milliarden Euro. Allein den Arbeitslosen-, Renten-, Pflege- und Krankenversicherungen entgehen rund 25 Milliarden Euro jährlich; Bund, Ländern und Kommunen fehlen dadurch bei der Einkommensteuer rund 15 Mrd. Euro. Und den Beschäftigten fehlt natürlich das Geld in der Tasche, das ihnen zusteht. Würden alle Beschäftigten nach Tarif, stiege deren Kaufkraft um 35 Mrd. Euro im Jahr.
Der DGB und seine Gewerkschaften machen sich daher schon seit geraumer Zeit für eine stärkere Tarifbindung stark und fordern die Arbeitgeber auf, in die Tarifbindung zurückzukehren. Als «wünschenswert und erstrebenswert» hat Bundeskanzlerin Merkel eine höhere Tarifbindung beim Festakt zum 70.Jubiläum des DGB im Oktober in Berlin bezeichnet. Deshalb fordern der DGB und die Gewerkschaften «politische Anstrengungen», d.h. gesetzliche Reformen, die Tariftreue als Vergabekriterium festschreiben und die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen für die ganze Branche erleichtern. Wird ein Unternehmen aufgespalten oder umgewandelt, sollen die Tarifverträge kollektiv fortgelten, damit sie nicht auf diesem Wege ausgehebelt oder umgangen werden. Eine Verbandsmitgliedschaft von Arbeitgebern ohne Tarifvertrag, sog. OT-Mitgliedschaften (ohne Tarifbindung) soll gestrichen werden. Tarifverträge sollen endlich auch gegen den Willen der Arbeitgeberverbände für allgemeinverbindlich erklärt werden können und vollumfänglich auch für Leiharbeiter, Werksverträgler und für aus dem Ausland entsandte Beschäftigte gelten.
Doch allein auf den Gesetzgeber zu vertrauen, wird nicht wirklich helfen, dazu ist der Interessengegensatz zwischen Lohn und Kapital zu groß. Und selbst gewerkschaftlich erkämpfte Tarifverträge taugen nicht immer dazu, «faire Löhne», oder «guten Lohn für gute Arbeit» zu erlangen. Dem DGB sei daher ein Zitat von Friedrich Engels (1881) ins Stammbuch geschrieben. Der hielt nicht viel vom Wahlspruch: «Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk», das sei «fehl am Platze». Stattdessen forderte er: «Begrabt darum den alten Wahlspruch für immer, und ersetzt ihn durch einen anderen: Besitzer der Arbeitsmittel – der Rohstoffe, Fabriken und Maschinen – soll das arbeitende Volk selbst sein.» Oder künftig: Wir wollen nicht nur größere Brötchen backen, wir wollen Die Ganze Bäckerei (DGB)!

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