Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2020

Hintergründe für den politischen Absturz von Evo Morales
von Peter Strack

«Evo es Pueblo – Evo ist Volk», heißt weiterhin einer der Twitteraccounts des im November zurückgetretenen Präsidenten Boliviens. Doch das Volk, das ihn vor wenigen Jahren noch mit über 60 Prozent der Stimmen wiedergewählt hatte, folgte dem international in der UNO und in der linken Szene als Lichtgestalt gehandelten Morales immer weniger.

Heute ist seine Partei, die früher den gesamten Staatsapparat und die sozialen Organisationen dominierte, in der Opposition und dazu gespalten. Wie ist es dazu gekommen?
Bereits Ende der 60er Jahre hatte der indigene Schriftsteller Fausto Reynaga ein Manifest für eine indianistische Partei in Bolivien veröffentlicht. Und inmitten der Strukturanpassungsprogramme der 80er Jahre war mit der MRTKL (Movimiento Revolucionário Tupaj Katari de Liberación – Revolutionäre Befreiungsbewegung Tupaj Katari) eine politische Partei gegründet worden, die unter Berufung auf den Führer des Indígena-Aufstands am Ende der spanischen Kolonialzeit, Tupaj Katari, auf die öbernahme der politischen Macht zielte. Doch erst mit dem Scheitern der neoliberalen Wirtschaftspolitik, dem Erstarken der indigenen Bewegungen und der Erweiterung ihrer Beteiligungsmöglichkeiten durch das Volksbeteiligungsgesetz schien die Zeit reif, dass die indigene Bevölkerungsmehrheit sich auch den Staatsapparat aneignen konnte.
Der Wasseraufstand von Cochabamba im Jahr 2000 gegen die Privatisierung der Wasserressourcen war ein Wendepunkt, der sog. Schwarze Oktober oder Gaskrieg in El Alto drei Jahre später brachte das Fass zum Überlaufen. Den städtischen Mittelschichten wurde mehrheitlich klar, dass die Zeit reif war für einen indigenen Präsidenten, wollte man einen andauernden gewalttätigen Konflikt entlang ethnischer Zuordnungen vermeiden.
Evo Morales, der Gewerkschafter aus der Kokaanbauregion des Chapare, schien 2005 gegenüber dem wesentlich radikaler auftretenden «Mallku»* Felipe Quispe aus Achacachi die gemäßigtere Option. Seine Partei, die MAS (Bewegung zum Sozialismus), war ursprünglich nur das legale Vehikel, um sich an Wahlen beteiligen zu können, daher kommt der Zusatz «Politisches Instrument für die Souveranität des Volkes» (IPSP).
Unter dem Kürzel IU (Vereinigte Linke) hatte sie bereits früher Bürgermeisterämter im Chapare und Direktmandate im nationalen Parlament errungen. Parteien waren in der öffentlichen Wahrnehmung Synonym für Klientelismus und Korruption. Deshalb wollte die MAS auch keine Partei sein.

Die MAS
Die Kandidatinnen und Kandidaten für Wahlämter wurden von den sozialen Organisationen aufgestellt: der Bergarbeitergewerkschaft und dem Gewerkschaftsdachverband, den Verbänden der Bauern und Siedler, die sich jetzt «Interculturales» nannten, den Nachbarschaftsorganisationen oder den Zusammenschlüssen von Händlern oder Handwerkern in den Städten – und nicht zu vergessen, von den Dachverbänden der indigenen Völker. Um die bürgerlichen Mittelschichten nicht zu verschrecken, wurden frühzeitig auch Vertreterinnen und Vertreter des linken, intellektuellen Milieus, der Medien oder auch Musiker oder Fußballer eingeladen, alles, was Knowhow oder Stimmen bringen konnte. Viele von ihnen sahen sich dabei nicht als Unterstützer der MAS, sondern als «Evistas». Trotz oder wegen der Breite des beteiligten sozialen und politischen Spektrums wurde «Evo» zum gemeinsamen Nenner einer ideologisch alles andere als einheitlichen oder gefestigten politischen Bewegung.
Es reichte 2005 jedenfalls für die absolute Mehrheit, die Präsidentschaft und eine Periode massiver Reformen, Stärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und vor allem Einbeziehung der bislang marginalisierten indigenen Mehrheit in den Staatsapparat, einschließlich einer neuen Verfassung. Diese wurde gegen massive Widerstände der traditionellen Eliten verabschiedet, aber auch unter Inkaufnahme von Kompromissen, u.a. mit einer erneuten Aufwertung der diskreditierten Parteien.
Da die MAS ja die Regierung der sozialen Organisationen war, schien der Umweg über die Parteistruktur verkraftbar. Zumal die Verfassung ausdrücklich auch direkte politische Beteiligung, die Selbstorganisation indigener Gemeinden und die Möglichkeit vorsah, sich auch als Bürgerinitiative ohne Parteistruktur an Wahlen zu beteiligen.
Die Konflikte im Vorfeld der Verabschiedung der neuen Verfassung führten jedoch auch dazu, dass sich im Laufe der Zeit in der MAS immer mehr die Polittaktiker und Machtstrategen gegenüber den eher konsensorientierten, gutmütigen Vertreterinnen und Vertretern der Basisorganisationen durchsetzten. Und nachdem sich die MAS als hegemoniale politische Kraft etabliert hatte, wurde sie auch für diverse Interessengruppen attraktiv.
Im kleinen entwickelten sich klientelistische Beziehungen, etwa bei den Arbeitsbeschaffungsprogrammen. Im großen suchten die Agrarindustrie, das Transportwesen und selbst Schmuggel oder Drogenhandel, ihre Interessen in der Regierung zu sichern – im Gegenzug zu Gefolgschaft oder auch finanzieller Unterstützung. Sie wurden auch Teil des politischen Systems.
Immer wieder wurden in den letzten Jahren – zumeist im Ausland – Parteimitglieder oder Staatsfunktionäre wegen Drogenhandel festgenommen. Versuche, den Schmuggel einzugrenzen, den damit verknüpften, florierenden informellen Handel in das allgemeine Steuersystem zu integrieren oder den zum Kapitalismus mutierten Sektor der Bergbaukooperativen zu regulieren, scheiterten an der Mobilisierungskraft dieser Sektoren, die zu einer wichtigen sozialen Basis der Regierung geworden waren.

Unbequeme Indigene
Umgekehrt verstärkte ein über die Jahre wachsender Personenkult die Tendenz, dass sich die kleinbäuerliche, indigene Basis entpolitisierte und wieder ihren landwirtschaftlichen Aktivitäten oder dem öberlebenskampf als Tagelöhner oder Hausangestellte in den Städten widmete. Eine Ausnahme bildeten die Kokabauern des Chapare, deren Beschlüsse für Evo Morales verbindlich waren: Sie stellten selbst den Vizeminister für Drogenkontrollen. In keiner Region wurden so viele staatliche Gelder investiert wie in der Tropenregion von Cochabamba.
Das Interesse der Kokabauern, ihr Siedlungsgebiet in das indigene und Naturschutzgebiet an den Flüssen Isiboro und Secure (TIPNIS) mit einer öberlandstraße auszudehnen, kratzte am Image von Evo Morales als Verteidiger der Natur und der Rechte der Indigenen und führte zur erneuten Mobilisierung ihrer Organisationen gegen den Straßenbau, aber auch gegen Großprojekte in anderen Naturschutzgebieten wie geplante Staudämme, Bergwerksprojekte oder Erdölexplorationen.
Fortan war die Strategie der Regierung, die sozialen Organisationen zu spalten oder über gezielte Zuwendungen zu kontrollieren und bei der Stange zu halten. Die Gelder des Entwicklungsfonds für indigene und Kleinbauerngemeinden FONDIOC wurden von politischer Gefolgschaft abhängig gemacht. Ein Gutteil landete auf Privatkonten regierungsfreundlicher Statthalter.
Die Büros des Dachverbandes der Indígenas des Tieflandes, CIDOB, oder des Zusammenschlusses der traditionellen Gemeinden des Hochlandes, CONAMAQ, die den Protest gegen den Straßenbau im TIPNIS angeführt hatten, wurden mit Polizeiunterstützung besetzt, um Platz für unkritische Gefolgsleute zu machen, die hier eine Chance für ihren individuellen Aufstieg sahen. Gewerkschaftsführer wurden für politische Treue mit der Finanzierung neuer Gewerkschaftssitze belohnt, Kritiker wurden mit bürokratischen Hürden behindert oder gar mit Strafverfahren überzogen und – auch ohne Urteil oder Beweise – ins Gefängnis gebracht.
Im Ergebnis waren viele Gemeinden gespalten. Die Idee einer Regierung der sozialen Bewegungen, die «dem Volk gehorcht», war umgekehrt worden: Nun wurden die sozialen Bewegungen von der Regierung gesteuert.

Erneuert sich die MAS?
«Wir werden dafür sorgen, dass Evo wiedergewählt wird», sagte mir kurz vor den Novemberwahlen ein Aktivist aus El Alto, der die Rückkehr der alten Eliten an die Macht befürchtete. «Aber danach bekommt er Prügel. Wie kann er so mit uns umgehen?!» Zu offensichtlich war die Abkehr der MAS von der ursprünglichen Idee, nur ein rechtliches Vehikel für die Beteiligung an Wahlen zu sein. Mit einem eigens geschaffenen Wahlgesetz hatte die MAS-Regierung trotz anderslautender Verfassungsbestimmungen Bürgerinitiativen und indigene Organisationen explizit von der Kandidatur ausgeschlossen.
Ausgerechnet die MAS, die entgegen dem in indigenen Organisationen verankerten Prinzip der Ämterrotation für Evo Morales das Menschenrecht forderte, unbegrenzt kandidieren zu können. In mehreren Regionen des Landes war die Basis zudem unzufrieden, weil eine Gruppe vor allem mestizischer und weißer Minister und Berater und auch Evo Morales selbst die Kandidatinnen und Kandidaten per Fingerzeig nominiert und die Basis nicht gefragt hatte – in Potosí etwa einen Bergwerksunternehmer, der schon für frühere neoliberale oder rechte Regierungen aktiv gewesen war.
So verwundert nicht, dass nach Bekanntwerden des Wahlbetrugs, den massiven wochenlangen Protesten, dem dadurch erzwungenen Rücktritt von Morales und der Regierungsübernahme durch die öbergangspräsidentin Áñez, der Versuch der MAS-Spitze, einen Volksaufstand anzuzetteln, um Morales’ Rückkehr an die Macht zu ermöglichen, letztlich an mangelnder Unterstützung der eigenen Basis scheiterte. Selbst in der Parlamentsfraktion der MAS haben die sogenannten «Versöhnler», die auf einen geregelten öbergang und Neuwahlen setzen, inzwischen die Mehrheit gegenüber dem sogenannten «radikalen» Flügel, dessen Vertreterinnen und Vertreter sich zumeist in dessen argentinischem Exil um Evo Morales scharen. In der derzeit gespaltenen Parteiorganisation gibt es noch eine dritte Fraktion, die sich bezeichnenderweise selbst als «los oprimidos» (die Unterdrückten) nennt, weil sie in der MAS nicht zu Wort gekommen sei.
Als Morales zuletzt eine Massenveranstaltung von tausend Personen in Buenos Aires ankündigte, um den neuen Präsidentschaftskandidaten zu bestimmen, kamen am Ende vielleicht 50. Diverse Bauernorganisationen, aber auch der «Versöhnungsflügel» hatten schon vorher kritisiert, die Wahl müsse in Bolivien und an der Basis erfolgen, nicht durch jene, die sich eine Reise nach Buenos Aires leisten können. Die hätten der Partei großen Schaden zugefügt, sagt Eva Copa, die aktuelle Parlamentspräsidentin, über ihre Partei, die MAS, in einem Interview mit Mery Vaca in der Tageszeitung Página Siete:
«Bisher gab es eine privilegierte Gruppe, die das Sagen hatte … Jetzt haben wir in sehr schwierigen Zeiten diese Ämter übernommen. Dass wir das Land im Blick haben und nicht Interessen, führt zu unseren abweichenden Meinungen. Angeblich folgen sie der Organisationsdisziplin, aber welcher Organisation gehören sie überhaupt an, um das sagen zu können? Der Präsident Evo hat das Land verlassen, weil er weitere Todesfälle verhindern wollte, und vermutlich auch, um sein eigenes Leben zu schützen. Und ich bin ihm sehr dankbar, denn er hatte den politischen Willen, dass Frauen, Jugendliche und andere soziale Schichten jetzt im Parlament sind. Aber er hat ein Machtvakuum hinterlassen.»
Auf die Frage, ob es innerhalb der MAS Rassismus gegeben habe, antwortet die junge Aymara aus El Alto, die von manchen als mögliche Präsidentschaftskandidatin gehandelt wird: «Ich habe nie einen Indígena gesehen, der die Verfassungskommission geleitet hättet. Aber wir Indígenas sind heute akademisch und professionell gut vorbereitet und vor allem haben wir ethische Maßstäbe.»
Die Zukunft der MAS ist ungewiss. Der harte Kern der Wählerschaft hat sich durch die Konflikte von früher konstant gut 30 Prozent auf etwa 20 Prozent reduziert. Eine Rückkehr an die Regierung bei den kommenden Wahlen ist dennoch möglich, angesichts der für die ärmere Bevölkerungsmehrheit wenig attraktiven Alternativen – vielleicht auch nur im Rahmen eines Bündnisses mit anderen Kräften. Zumindest, wenn sich die Kräfte durchsetzen, die von Konfrontation Abstand nehmen und sich wieder mehr auf basisdemokratische Prinzipien und die Wurzeln der Partei besinnen.
Mit dem langjährigen keynesianischen Wirtschaftsminister Luis Arce als Präsidentschaftskandidaten und dem langjährigen Außenminister und Aymara-Intellektuellen David Choquehuanca als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft erteilt die MAS dem radikalen Flügel zumindest nach außen eine Absage. Sie versucht, sich gegenüber den Mittelschichten und Wirtschaft als Garant der Stabilität zu präsentieren und gleichzeitig bei der indigenen Basis verlorenes Terrain gutzumachen.

*«Führer» in der Aymara-Sprache.

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