Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Buch 1. Februar 2020

Marcel Reich-Ranicki gegen Günter Grass
von Paul Kleiser

Volker Weidermann: Das Duell. Die Geschichte von ­Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019. 309 S., 22 Euro

Der Spiegel-Autor Volker Weidermann – ein begabter Vielschreiber, dem es aber häufig auf Genauigkeit nicht ankommt – hat mit Das Duell eine Art Doppelbiografie von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki verfasst. Zwangsläufig befasst sich das gut lesbare Buch auch mit der westdeutschen Nachkriegsgeschichte und den Normen der alten BRD.
Bei der Betrachtung der Literatur- und Politikfehden von damals kann man den Abstand ermessen, der das heutige Deutschland von dem des «geteilten Landes» trennt. Reich-Ranicki hat als Jude nur mit viel Glück das Warschauer Ghetto überlebt, ihm halfen seine deutschen Sprachkenntnisse, denn er war in Berlin aufgewachsen und hatte dort Abitur gemacht; ab 1940 arbeitete er dann als Übersetzer beim «Judenrat». Zahlreiche seiner Verwandten, darunter seine Eltern und ein Bruder, sind in den Vernichtungslagern gestorben.
Demgegenüber war Grass als 17jähriger einige Monate Mitglied der Waffen-SS, was er, gleich Hunderttausenden, lange Jahrzehnte verschwieg. Diesen Fakt wiederholt Weidermann mehrfach in seinem Buch, doch fehlt ihm ein rechtes Verständnis von der deutschen Verdrängungsgeschichte.

Literaten
Marcel Reich-Ranicki hatte ab 1929 zehn Jahre bei seiner Tante in Berlin gelebt. Kurz vor Kriegsbeginn wurde er als Jude von den Nazis nach Polen ausgewiesen. 1958 floh er mit seiner Frau aus Polen in die Bundesrepublik und arbeitete 13 Jahre lang als «freier Mitarbeiter» für die Hamburger Zeit. Daneben hielt er an zahlreichen Universitäten im Ausland, von Schweden bis Australien, Vorlesungen über deutsche Literatur. 1973 bot ihm der FAZ-Herausgeber Joachim Fest – der gerade seine höchst umstrittene, weil die deutsche Bourgeoisie stark verschonende, Hitler-Biografie veröffentlicht hatte – die Stellung als Literaturchef an, wo er zum gefürchteten Kritiker avancierte.
Spätestens nachdem Helmut Kohl Bundeskanzler geworden war, baute er die Literaturredaktion zu seinem Machtapparat aus. «Sein Machtbewusstsein, seine rhetorische Meisterschaft, sein Witz, seine Bosheit und vor allem seine Entschlossenheit, seine Machtposition auszunutzen, hatten ihn zum deutschen ‹Literaturpapst› gemacht. Die Deutschen hatten ihn rausgeworfen. Er war zurückgekommen. Jetzt entschied er, wer zum Kanon der deutschen Literatur dazugehörte – und wer nicht» (Weidermann).

Grass und Reich-Ranicki stammten beide gewissermaßen «von der Weichsel» (Danzig und Warschau); sie trafen erstmals 1958 in einem Hotel in Warschau aufeinander, als Grass gerade am Roman Die Blechtrommel arbeitete, der zu einem Welterfolg werden sollte. Für diesen Roman bekam er 1999 den Nobelpreis.
Die meisten Kritiker lobten das Buch über den grünen Klee, doch am 1.Januar 1960 erschien eine Kritik von Reich-Ranicki, in der er den Roman mit schwachen Argumenten zerriss. (Später musste er sein Urteil zurücknehmen.) Damit begann eine Art Hassliebe zwischen den beiden, die «aneinandergekettet durch die Geschichte, ihre Herkunft und die Bedeutung, die sie einander verliehen» in vielen Hin und Hers einen lebenslangen Streit ausfochten. Grass klagte einmal, das deutsche Scheidungsrecht sehe leider keine Trennung zwischen Autor und Kritiker vor, man sei also lebenslang an einen Kritiker gekettet.
Im Inland stieß Die Blechtrommel auf die Vorbehalte deutscher Spießer, die meinten, der Roman sei «pornografisch». In den USA hingegen wurde er als das bedeutendste literarische Ereignis seit Thomas Mann Zauberberg gefeiert. 1965 wurde Günter Grass – der wegen seiner Teilnahme am Weltkrieg nie studiert und kein Abitur hatte – sogar die Ehrendoktorwürde verliehen.
Ab 1960 engagierte sich Grass auch als Redenschreiber und Wahlkämpfer für Willy Brandt. Dies vor dem Hintergrund, dass ein erheblicher Teil der CDU-Führung früher Mitglied in der NSDAP oder einer der Nazi-Unterorganisationen gewesen war, allen voran Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger oder sein Vorgänger Ludwig Erhard. Seine Erfahrungen (und seine Kritik an der Studentenbewegung) verarbeitete er im Tagebuch einer Schnecke (1972).
Dieses Werk trägt – wie später Beim Häuten der Zwiebel (2006) – deutlich autobiografische Züge. Vier verschiedene Geschichten werden miteinander verwoben: einige Mitschriften der Wahlkampfauftritte des Autors für die SPD, die Geschichte der Danziger Juden und ihres «Verschwindens» in der Nazizeit sowie die Geschichte eines Deutschen, der dies alles «übersah». Sodann der Bericht des Juden «Zweifel», der im Keller eines Anwesens überlebt, weil er dem Eigentümer jeden Abend Geschichten aus der Weltliteratur erzählt (hier finden wir Ähnlichkeiten mit dem jungen Leben von Reich-Ranicki), außerdem die Darstellung des SS-Manns Manfred Augst, der nach dem Krieg, wie Grass, zu einem Linken wurde, aber große Schwierigkeiten hat, mit seinem «Nazi-Erbe» zu leben. Auf dem Evangelischen Kirchentag 1969, an dem Grass teilgenommen hatte, stand ein Mann plötzlich auf, «grüßte seine Kameraden von der SS» und trank Gift; er starb vor aller Augen.

Der Streit
Im November 1979 veröffentlichte der Feuilletonchef der Zeit, Fritz J. Raddatz, ein Dossier über Schriftsteller, die in der Nazizeit Mitläufer gewesen waren. Man kann dies auch ein bisschen als Vorwegnahme des «Historikerstreits» der 1980er Jahre sehen. Er nannte in seinem Artikel u.a. die Autoren Erich Kästner und Wolfgang Koeppen.
Raddatz und Reich-Ranicki galten seit längerem als Intimfeinde. Der Literaturchef der FAZ zerpflückte Raddatz’ Text nach allen Regeln der Kunst und wies ihm zahlreiche sachliche Fehler nach – in einem Tonfall, als würde er ein Todesurteil verlesen. Nach seiner Rückkehr von einer Reise nach China setzte sich Grass für seinen Freund Raddatz ein und schrieb von dem, was Kohl später «die Gnade der späten Geburt» nannte. «Keine Stunde Null schlug uns. Fließend waren die Übergänge. Das große, bis heute anhaltende Entsetzen über das Ausmaß der geduldeten, direkt oder indirekt geförderten, in jedem Fall mitzuverantwortenden Verbrechen kam erst später, mehrere Jahre nach der angeblichen Stunde Null, als es schon wieder aufwärts ging. Und dieses Entsetzen wird bleiben.»
Der Streit eskalierte, als Günter Grass 1981 auf Einladung von Stephan Hermlin bei einem west-östlichen Schriftstellertreffen eine Rede hielt. Sie wurde von Reich-Ranicki in harten Worten verurteilt; in Polen hatte die Bewegung der Solidarnosc begonnen. Daraufhin beschuldigte Grass Reich-Ranicki, sein «Antikommunismus» habe «stalinistische Züge», worauf letzterer erwiderte, er sei bereits 1950 wegen «ideologischer Entfremdung» aus der Partei ausgeschlossen worden und habe einige Wochen im Gefängnis gesessen. Das Publikationsverbot sei erst während des Tauwetters nach Stalins Tod Ende 1954 wieder aufgehoben worden. Das Tischtuch zwischen den beiden war nun zerschnitten.

Der Zensor
Nach dem Ende seiner Karriere bei der FAZ trat Reich-Ranicki ab 1988 (bis 2001) in der Fernsehsendung des ZDF Literarisches Quartett auf, mit dem er auch einem Massenpublikum bekannt wurde. Seine Urteile waren häufig apodiktisch, und er warf mit Adjektiven nur so um sich. Einzig die Österreicherin Sigrid Löffler widersprach ihm mit guten Argumenten.
Zu Grass’ Roman Örtlich betäubt meinte er etwa, er sei «statisch, linkisch, mühselig, beliebig, willkürlich, gelähmt, betulich, unfreiwillig komisch, marionettenhaft, schemenhaft, läppisch, geschwätzig, albern, gefährlich, monoton, primitiv, dürr, dürftig» usw. Letztlich war er kulturell in der Zeit vor 1945 stehen geblieben; seine Normen leiteten sich aus der Zeit des bürgerlichen Realismus (von Gustav Freytag über Gottfried Keller bis Theodor Fontane) und von Thomas Mann ab. Einige Zeit war er in Polen Parteimitglied gewesen; offensichtlich hatten die Schriften von Georg Lukács über den Realismus seinen Wertekanon stark beeinflusst. Besonders die neuen Entwicklungen seit den 60er Jahren (von Peter Handke bis Heiner Müller) betrachtete er mit großem Argwohn. 1994 wurde bekannt, dass er einige Zeit sogar für den polnischen Geheimdienst gearbeitet hatte.
Reich-Ranicki konnte zwar auch loben, aber «berühmt, geliebt, gefürchtet und legendär war [er] für seine Verrisse, seine Wutausbrüche, sein öffentliches Leiden an den schlechten Büchern, die er lesen musste. Schauderhaft. Grauenvoll. Langweilig. Eine Qual. Niemand litt so laut und theatralisch und für die meisten Zuschauer im Publikum so nachvollziehbar wie Marcel Reich-Ranicki.»

Aneinandergekettet
Anlässlich der Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München 1994 ging Günter Grass auch auf seine «lebenslänglichen Kritiker» ein, die ihn öffentlich ausgepeitscht hätten. Diese Kritiker – und er meinte vor allem einen bestimmten – wären ohne die Autoren «arbeitslose Sozialfälle». Heftig griff er die «permanente Selbstfeier des Sekundären» und die «Selbstherrlichkeit der Dirigenten» an, die den Betrieb auf «parasitäre Weise» beherrschten. Gegenseitig warf man sich vor, auf Goebbels’ Spuren zu wandeln.
Darauf die kulturpessimistische Antwort von Reich-Ranicki: Die Literatur ist die der Krise, und «wenn Seuchen um sich greifen, werden die Ärzte immer wichtiger». An Selbstbewusstsein mangelte es ihm wahrlich nicht. Mit seiner Kritik an Grass’ Fontane-Roman Ein weites Feld schaffte er es sogar aufs Spiegel-Titelbild.
1999 erhielt Grass den Literatur-Nobelpreis. In seiner Rede in Stockholm erklärte er: «Ich komme aus dem Land der Bücherverbrennung. Wir wissen, dass die Lust, das verhasste Buch in dieser oder jener Form zu vernichten, immer noch oder schon wieder dem Zeitgeist gemäß ist.» Damals gab es noch keine AfD!

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