Die LINKE führt eine Strategiedebatte
von Thies Gleiss
Nach dem enttäuschenden Wahlergebnis für die LINKE bei den EU-Wahlen im letzten Jahr, wo sie mit 5,5 Prozent nur halb so gut abschnitt als gehofft, zogen bei der Partei vollends Frust und eine kollektive Krisenstimmung ein.
Die Wahleinbrüche für die LINKE bei den darauffolgenden Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg waren viel gravierender und deren materielle Auswirkungen auf den Parteiaufbau umfassender, aber politisch-moralisch war es die Wahl zum Europaparlament, bei der das politische Gesamtangebot der LINKEN zur Ansicht und Auswahl stand – und dabei hat sie die Arschkarte gezogen.
Nach dem Pyrrhus-Sieg bei den Wahlen in Thüringen, wo ein Wahlerfolg vom Landesvater Ramelow nicht wirklich als Sieg der LINKEN verkauft werden konnte und auch nicht zur Stabilisierung der Partei im engeren Sinn beitrug, entschied der Parteivorstand, die Partei in eine «Strategiedebatte» zu führen, bei der alle unklaren Fragen erörtert, alle Streitigkeiten auf den Tisch sollen.
Mit einem längeren Fragenkatalog an alle Mitglieder und der Aufforderung, sich schriftlich zu Wort zu melden, wurde zu einer Konferenz am 29.Februar dieses Jahres in Kassel eingeladen. In einigen Regionen werden in Eigenregie zusätzlich noch Länderkonferenzen zur Vorbereitung angeboten.
Sechs Wochen vor dem Termin dieser Konferenz zeigt sich, dass das Bedürfnis nach einer solchen Debatte groß ist. Mehr als 200 schriftliche Beiträge wurden eingereicht und auf der extra eingerichteten Website veröffentlicht (strategiedebatte.die-linke.de/beitraege). Die Anmeldungen haben die lokalen Raumkapazitäten bereits ausgeschöpft, sodass es eine Warteliste gibt. Die nicht berücksichtigten InteressentInnen müssen sich mit dem Live-Streaming-Angebot zufriedengeben.
Was ist «Strategie»?
Die LINKE ist bekanntlich eine Allianz sehr unterschiedlicher politischer Strategien. Sie reicht von der nur dürftig kaschierten, persönlichen Karrierestrategie über die klassisch reformistische Politik der Trennung von Tages- und Endziel (wobei letzteres gern auch einmal ganz aus dem Blick gerät) bis hin zu nicht weniger klassischen, revolutionären Strategien des Bruchs mit den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen, der auf allen gesellschaftlichen Ebenen ansetzen muss und in erster Linie Opposition, Verweigerung, Streik und Aufbau von Gegenmacht als Mittel betrachtet.
Gar nicht einfach also, in dieser Gemengelage eine Strategiedebatte zu führen ohne aneinander vorbeizureden. Viele der sich zu Wort Meldenden haben es sich deshalb zu leicht gemacht und eine Verbesserung der Erfolge bei Parlamentswahlen zur Strategie erklärt. Mehr Zuspruch bei Wahlen zu erhalten – unabhängig für welche Inhalte und von und für welche gesellschaftlichen Kräfte – ist allerdings überhaupt keine Strategie. Das ist vielleicht Taktik, die mit darüber entscheidet, wie eine strategische Festlegung vermittelt wird, aber nicht mehr. Diese Beschränkung auf taktische Fragen wird gerne mit willkürlichen Festlegungen verbunden: Die LINKE müsse doch mehr von Wahlverlusten der anderen Parteien profitieren. Bei den Umfragen zu Einzelforderungen der LINKEN würden doch immer zwei Drittel und mehr der Befragten die Positionen der LINKEN gut finden.
Bei dieser taktischen Debatte über die Wahlauftritte fällt auf, dass sich dabei doch immer wieder strategische Fragen unbemerkt in die Debatte einschleichen: Die Hälfte der LINKEN meint, die Wahlkämpfe müssten genauso sein wie die der Konkurrenzparteien, man müsse mit noch mehr Aufwand die Papier- und Plakateschlacht gewinnen. Unterscheidbar sein in der Ununterscheidbarkeit – so könnte das Dilemma dieser WahlkämpferInnen bezeichnet werden. Die andere Hälfte der LINKEN will gerade die Andersartigkeit in den Wahlkämpfen betonen: Die Protestpartei, die Ablehnung der konventionellen Wahlschlachten und ihrer Materialien, andere Formen und Orte der Wahlkämpfe. Eine Einigung dieser beiden Taktiken ist nicht möglich, weil dahinter unvereinbare Strategien stehen.
Klassenpartei
Bei denen, die sich nicht mit Fragen der Wahlkampftaktik aufhalten wollen, besteht Einigung darüber, dass die LINKE ihre besondere Rolle in der Gesellschaft nur als Klassenpartei finden wird – als die für die gesellschaftlichen Bereiche und Klientele sprechende und organisierende Kraft, die von den anderen Parteien vernachlässigt werden. Die Partei als gesellschaftliches Verhältnis – das scheint auch mir die sinnvollste strategische Ausgangsbasis zu sein.
In der Diskussion darüber, was heute Klassenpolitik heißt, zeigt sich allerdings die tiefe Zerrissenheit der LINKEN. Der sozialdemokratische Flügel der Partei ist breit gefächert, findet aber immer wieder Mehrheiten, oft durch prinzipienlose Bündnisse, mit dem nicht kleinen Block in der Partei, dem neben der persönlichen Karriere als BerufspolitikerInnen eigentlich alles egal ist. Ansonsten kennzeichnen ihn zwei Haupttendenzen:
Eine Truppe vormarxistisch denkender GenossInnen – allen voran Sahra Wagenknecht –, die von einer Fehlentwicklung des Kapitalismus ausgehen und von der Rückkehr zu einem Kleinkapitalismus ohne Gier und Shareholderökonomie träumen. Das ist fast zwangsläufig verbunden mit dem Beharren auf dem Nationalstaat als angeblich «natürliche Form» der Politikgestaltung und notwendige Heimat der Demokratie. Das ist ziemlich schräger National-Sozialdemokratismus, der auf die großen Fragen der Zeit – Weltwirtschaft und ihre Krisen, Klimakatastrophe, Migration, asymmetrische Kriege – keine Antworten findet.
Den zweiten großen Teil des sozialdemokratischen Flügels bilden die Anhänger der Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus. Sie finden in der LINKEN ihre letzte Heimstatt. Sie sind papier- und textmäßig die fleißigsten in der aktuellen Debatte. Das waren sie in ihrer vorherigen Heimstatt, der SPD, auch jahrelang. Sie werden von der fixen Idee getrieben, es müsse nur ein möglichst detailliertes, durchgerechnetes und gegenfinanziertes Konzept zur Ablösung des Kapitalismus aufgeschrieben, mit dem müssten dann Wahlen gewonnen und der Staat als politischer Monopolist übernommen werden – und alles würde gut, wenigstens besser. In diesem Konzept ist der Ökonomismus die treibende Kraft und eine entsprechende vereinfachte Definition, was Klassenpolitik ist, vorherrschend.
Diesem bunten Häufchen von SozialdemokratInnen stehen in der LINKEN Bewegungslinke gegenüber. Sie verfolgen eine strategische Orientierung, die erfolgversprechender ist. Die Überwindung des Kapitalismus ist das Ziel und diese Überwindung erfolgt nicht durch Wahlen (darin wird sie höchstens mal bekräftigt), sondern durch die reale Bewegung der Aufhebung kapitalistischer Strukturen. Das ist ein Prozess der Wiederaneignung, ein Prozess des Aufbaus von Gegenmacht und baut auf vielen, sich ergänzenden sozialen Bewegungen auf.
Die heutigen Schlüsselprobleme – weltweite kapitalistische Ausbeutung, Klimagefährdung, Zwang zur Flucht – sind zwangsläufig Themen für die Bewegungslinke, in denen sich die klassischen Konflikte zwischen dem Kapital und den abhängig Beschäftigten nicht nur wiederfinden, sondern ihr brandaktuelles Gesicht haben.
Wer setzt sich durch?
Die LINKE muss sich entscheiden. In wichtigen Fragen hält ihr Gründungskonsens, sehr unterschiedliche strategische Konzepte miteinander zu auszuhalten, nicht mehr. Gerade die neuen Bewegungen für Klimagerechtigkeit, für ein soziales Recht auf Migration und gegen die asymmetrischen Kriege zeigen, dass nicht nur eine politische, sondern auch eine zeitliche Radikalität erforderlich ist. Wir hoffen, dass die Konferenz in Kassel dafür neue Wege eröffnet, und werden uns auf der Seite der verschiedenen Gruppen der Bewegungslinken einbringen.
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