Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2020

Kampf um die Hoheit im städtischen Raum
von Heiko Koch*

Seit Anfang dieses Jahrhunderts ist es zu beobachten: Die verschiedenen Fraktionen der politischen Rechten in Deutschland transformieren ihre Inhalte, modernisieren ihre Ausdrucksformen und passen sich dem Zeitgeist an.

Das heißt nicht, dass der menschenfeindliche Gehalt ihrer Ideen und Ziele verschwindet – er tarnt sich nur besser und sucht sich Mittel und Wege, seine toxischen Botschaften effektiver zu platzieren.
Es gilt die ehedem geschwächte, menschenrechtliche Resilienz in dieser westlichen Demokratie zu täuschen, ihre Wahrnehmung zu unterlaufen, ihre ProtagonistInnen zu verwirren und ihre Abwehrmechanismen auszuhebeln. Und es gilt die Akzeptanz und Attraktivität rechter, menschenfeindlicher Lösungsvorschläge zu steigern. Dabei reagieren die Rechten auf die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen und Herausforderungen und bieten gekonnt Renationalisierung, Resouveränisierung und völkische Vergemeinschaftung als Lösung für eben diese an. Nicht ohne Erfolg, wie die jüngsten Landtagswahlen in Thüringen mit 23,4 Prozent der abgegebenen Stimmen für die AfD beweisen.

Hier einige Beispiele für die sich verändernden Performances und den Modernisierungsschub bei den Rechten:
Kurz nach der Jahrhundertwende begannen Neonazis, ihren Kleidungsstil und ihr öffentliches Auftreten durch die Adaption linker Dresscodes, Stile und Designs zu modernisieren. Sie wurden von Nazis zu «Autonomen Nationalisten».
Die sich intellektuell gebende «Neue Rechte» gewann immer mehr Anhänger, jugendliche Anteile nannten sich ab dem Jahr 2012 nach französischem Vorbild «Identitäre Bewegung». Sie kopierten Stile und Aktionsformen französischer und italienischer Faschisten, übten sich in populistischen Inszenierungen und fanden medial viel Beachtung.
Zunächst in Sachsen, dann aber auch in anderen Bundesländern, traten ab 2014 rechtsorientierte Bürger unter dem Label «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» – kurz Pegida – auf und bildeten eine extrem rechte Straßenbewegung. Sie zeigten auf den Straßen und Plätzen, wie stark Teile der bürgerlichen Mitte nach rechts gerutscht sind und wie groß ihr Hass auf alles ist, was ihrer Meinung nach nicht «deutsch» ist. Sie gelten den Medien gemeinhin als «Wutbürger» und labeln sich selber als «besorgte Bürger».
Den noch gewalttätigeren Anteil der rechten Straßenbewegung bildeten die im gleichen Jahr entstehenden «Hooligans gegen Salafisten» – kurz HoGeSa. Die rechten Hooligans ließen und lassen keinen Zweifel aufkommen, wie sie gedenken, ihre Machtansprüche auf «Volk und Heimat» umzusetzen.
Und als eine Art geistiger Brückenschlag aus dem genannten deutschnationalen Bürgertum und völkischen Schlägerbanden konstituierte sich ab dem Jahr 2013 die äußerst rechte AfD. Dieses toxische Amalgam sitzt mittlerweile in jedem Landtag und im Bundestag. Und das nicht ein-, sondern zweistellig.
Seit der Jahrhundertwende wurden 78 Menschen aus rassistischen und faschistischen Motiven in Deutschland ermordet. Der NSU (flankiert durch die diversen bundesdeutschen Geheimdienste) führte in diesen Jahren ungehindert seine Mord- und Sprengstoffanschläge durch. Und Polizeibehörden ermittelten gegen die NSU-Opfer und nicht gegen das NSU-Netzwerk. In sozialen Medien radikalisierte Männer sehen sich veranlasst, in «Eigenregie» Terroranschläge zu verüben, wie der rechtsextreme Schüler David Sonboly, der in München 2016 neun Menschen im Olympia-Einkaufszentrum ermordete. Oder Stephan Balliet, der am 9.Oktober dieses Jahres die Syn­agoge in Halle angriff und zwei Menschen erschoss.

«Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt’ einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.»
Bertolt Brecht, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui

Rechte Bürgerwehren
Zum aktuellen Vorgehen der Rechten gehört nicht nur die Adaption linker Aktionsformen, das Experimentieren mit neurechten Kommunikationstrategien, sondern auch das Aufgreifen alter Methoden der symbolischen wie faktischen Raumaneignung durch physische, gewaltbestimmte Präsenz. Ihr steigendes Selbstbewusstsein und ihren Machtanspruch setzen die Rechten mit Bürgerwehren um. So haben sich in den letzten Jahren diverse rechte Kleinstparteien, aber auch Hooligans und Teile der «Wutbürger» daran gemacht, lokale Bürgerwehren zu gründen.
Diese rechten Gruppierungen monieren einen Anstieg an Kriminalität, Gewalt und Unsicherheit in Deutschland. Schuld daran seien die Migrant­Innen und diejenigen, die diese ins Land geholt hätten. Sie sprechen von einer «kulturellen Überfremdung» und einem «Bevölkerungsaustausch», sehen sich apokalyptischen Zuständen gegenüber, prophezeien einen anstehenden Bürgerkrieg und bereiten sich auf diesen vor. Um ihren «völkischen» Machtanspruch auf dieses Land symbolisch wie real umzusetzen, inszenieren sie die Bürgerwehren. Dabei verkaufen sie sich der Bevölkerung als Garant von «Recht und Ordnung» auf «deutschen» Straßen. Laut Zeitungsberichten soll es hunderte solcher Bürgerwehren in Deutschland geben. Aus einigen, wie z.B. die «Bürgerwehr Freital» sind dabei rechtsterroristische Gruppen geworden.
Auch in NRW sind in den letzten Jahren solche Bürgerwehren entstanden. So in Köln, Düsseldorf, Mönchengladbach, Essen und zuletzt in Herne. Auf die Situation in Essen und Herne soll hier etwas mehr eingegangen werden.

Die «Steeler Jungs» aus Essen
Seit dem Herbst 2017 marschiert an jedem Donnerstag eine Bürgerwehr durch Essen-Steele. Ausgehend vom Grend-Platz patrouillieren bis zu 100 Männer im Alter von 20 bis 50 durch die Straßen des Stadtteils. Sie selber nennen sich «First Class Crew – Steeler Jungs». Bei ihren Rundgängen lassen sie sich von Kameraden von auswärts unterstützen. Sei es aus den Essener Stadtteilen Huttrop und Altenessen, oder aus Düsseldorf und Herne. Als Ort der sozialen Vergemeinschaftung dient ihnen die «Sportsbar 300». Diese Bar liegt unweit vom Grend-Platz und wird von einem führenden Mitglied der Rockergruppe Bandidos betrieben.
Die als «Spaziergänge» klassifizierten Umzüge ähneln einem Aufzug gewaltbereiter Hooligans auf den Weg ins Stadium. Zumeist in schwarz gekleidet und mit einheitlich bedruckten T-Shirts der «Steeler Jungs» bilden die Teilnehmer eine bedrohlich wirkende Phalanx oft wütend dreinblickender Männer. Frauen sind hier eine verschwindende, aber sehr aggressiv auftretende Minderheit. Auf den Straßen, Plätzen und in der Einkaufszone verdeutlichen sie den PassantInnen und AnwohnerInnen, dass sie es sind, die die Macht über diesen Raum für sich beanspruchen. Und dass sie willens und bereit sind, dies mit Gewalt durchzusetzen.
Mit dieser gewaltbestimmten Performance und einschlägigen T-Shirts rechter Modemarken und völkischen Signes bedienen sie eindeutige kulturelle Codes, die das Verwenden von Transparenten und Sprechchören obsolet machen. So finden die Umzüge auch schweigend und ohne Banner statt. Allein die massive Präsenz gewaltbereiter Männerkörper mit ihren rechten Codes macht klar, wer die Macht, diesen Raum und für welche Ziele er ihn beansprucht. Die so ausgetragene symbolische Repräsentanz der Bürgerwehren dient einer völkischen Exklusion.
Und die Strategie geht auf. Die «Steeler Jungs» ernten für ihre Raumnahme Zuspruch aus nicht geringen Teilen der Bevölkerung und lange gab es keinen Protest gegen die Bürgerwehr. Die demokratische Resilienz versagte. Das gewohnte Wahrnehmungsradar für rechte Aktivitäten wurde unterlaufen, die eindeutige Uneindeutigkeit täuschte und verwirrte die demokratischen ProtagonistInnen und unterlief deren Abwehrmechanismen.

Es gilt die Straßenverkehrsordnung
Lange Zeit brauchte es, bis sich in Steele ein antifaschistisches Bündnis, bestehend aus Kirchen und bürgerlichen Kreisen, gegen die Bürgerwehr bildete. Seitdem protestiert dieses monatlich einmal gegen die Aufmärsche. Am Rande des rechten Aufmarschs sang das Bündnis Kirchenlieder – worauf die «Steeler Jungs» mit Halleluja antworteten. Das Bündnis kritisierte die schwarze Bekleidung – worauf die «Steeler Jungs» mit Luftballons kamen. Das Bündnis zeigte den «Steeler Jungs» aus lauter Verachtung die «kalte Schulter», usw.usf.
Ähnlich wie bei dem seit August 2019 bestehenden Herner Bündnis gegen die dortige Bürgerwehr scheint man sich dazu entschlossen zu haben, die Aufmärsche nicht zu verhindern, sondern lediglich dem antifaschistischen Protest einen Rahmen geben zu wollen. Gemäß den Vorgaben der Polizei, die einen geregelten Verkehrsablauf zu sichern hat, wird abseits der Naziroute demonstriert. Hier die einen, dort die anderen. Alles andere würde Chaos schaffen und nicht der Verkehrsordnung und den von oben verordneten demokratischen Spielregeln entsprechen.
Geht es nach dem Herner Bündnis, soll markiert, problematisiert und skandalisiert werden. Dass ein solcher Appellcharakter an die Behörden aber schon seit langem ins Leere läuft, kann man in Essen-Steele sehen und ist allen bewusst. Aber es gilt halt, «Zeichen zu setzen».
Dies führte seitens des Essener Bündnisses dazu, zu einer großen Demonstration aufzurufen. Aus Essen und den umliegenden Städten kamen im September 2019 2500 Menschen zu einer Demonstration gegen die Bürgerwehr. Wie gehabt, wurde die Straßenverkehrsordnung eingehalten. Geändert hat sich somit in Essen nichts. Alles blieb wie gehabt. Aber das stimmt nicht. In Essen versuchen weitere rechtsgerichtete Gruppen, mit den «Steeler Jungs» gleichzuziehen und beginnen ebenfalls Bürgerwehren zu installieren.
Alte Rezepte aus dem letzten Jahrhundert scheinen nicht mehr geeignet, die Demokratie vor ihren Feinden zu schützen. Es gilt, sich neue und andere Strategien im Umgang mit der Rechten zu überlegen. Dies bedarf genauer Beobachtung und Analyse der Strategien und Taktiken der Rechten. Und gezielter Regelverletzungen der von oben verordneten Straßenverkehrsordnung.

* Heiko Koch ist Sozialarbeiter und lebt und arbeitet in NRW. Er ist Mitbegründer und Autor diverser antifaschistischer Zeitungen, Buchautor, Teamer und Dozent gegen «Rechtsextremismus».
Aus:
Amos, Nr.4, 2019.

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