Die Eigentore der Regierung
von Bernard Schmid
Es ist so dumm, dass es beinahe schon wieder lustig wird. Diesmal war es nicht nur, wie Anfang Dezember, ein durchgedrehter Lokalpolitiker der Regierungspartei LREM, sondern einer ihrer Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung, der in aller Öffentlichkeit aberwitzige Vergleiche zwischen «radikalisierten» Islamisten, Jihadisten, Terror und Streikenden anstellte.
«Islamisten und radikale Gewerkschafter, der gleiche Kampf gegen die Republik und die Demokratie?», twitterte der Parlamentarier Jean-Baptiste Moreau, der in der Nationalversammlung das zentralfranzösische Département Creuse vertritt. Bezug nahm er dabei auf die Tumulte anlässlich eines Besuchs von Staatspräsident Emmanuel Macron im Pariser Theater Les Bouffes du Nord am Abend des 17.Januar. Der algerischstämmige linksradikale Journalist Taha Bouhafs, der drei Reihen hinter Macron im Saal hockte, hatte einen Twitterhinweis abgesetzt. Alles klar, dachte sich da der schlaue Parlamentarier wohl: algerischstämmig = Islamist = Terrorist – das ist doch die Erklärung für die böse Gewalt, die von den uneinsichtigen Streikenden und Protestierenden ausgeht.
Der konservative Abgeordnete und Fraktionsvorsitzende der Partei Les Républicains (LR, ungefähr vergleichbar mit dem Friedrich-Merz-Flügel der CDU in Deutschland), Damien Abad, hatte einige Tage zuvor die Stromabschaltungen, die durch die Streiks bei den Energiewerken ausgelöst wurden, als «Akte der Barbarei» bezeichnet…
Die Mehrheit des Regierungslagers wählt im Umgang mit den Sozialprotesten gegen ihre geplante «Reform» des Rentensystems ein anderes Herangehen. Seit Mitte Januar lautet ihre Sprachregelung: Der Konflikt ist weitestgehend vorbei, die Auseinandersetzung um die Rentenreformpläne «liegt hinter uns», «der Verantwortungssinn trägt den Sieg davon» (so der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei LREM im Parlament).
Wieder eine Million auf der Straße
Unterdessen sprechen die Fakten eine andere Sprache. Zwar ging um den 20.Januar herum der Streik bei der Eisenbahn und der Pariser Metro (SNCF und RATP) nach 45 Tagen und mit den entsprechenden Einkommensverlusten für die abhängig Beschäftigten weitgehend zu Ende – in Frankreich gibt es aus historischen Gründen keine gewerkschaftlichen Streikkassen. Allerdings werden nun solche Streikkassen von den Protestierenden eingerichtet – in verstärktem Maß sammeln sie Geld bei Demonstrationen, auf zahllosen Solidaritätspartys und -konzerten oder im Internet. Auf diese Weise sind schon Millionen zusammengekommen, die unabhängig von der Organisationszugehörigkeit an Streikende ausgeschüttet werden.
Doch auch nachdem die Eisenbahn- und Nahverkehrsbeschäftigten unter anderem aus finanziellen Gründen nicht weiterhin das «Zugpferd» für die allgemeine Streik- und Protestbewegung spielen können, geht der Protest auf hohem Niveau weiter. Mehrere hunderttausend Menschen – das französische Innenministerium spricht von 249000, die CGT hingegen von 1,3 Millionen – demonstrierten auch am 24.Januar wieder in zahlreichen französischen Städten gegen die «Reform».
Was die Streikbeteiligung betrifft, ist die Situation sehr ungleichzeitig. An den öffentlichen Schulen gibt es zahlreiche «Streiknester» – am 24.Januar lag die Beteiligung am Arbeitskampf dort laut Angaben der Gewerkschaften bei 40 Prozent (das Bildungsministerium behauptet: 11 Prozent). Es gibt bislang jedoch keinen Sektor, der eine solche Lokomotivfunktion übernehmen würde, wie das die Eisenbahner in der Sozialgeschichte Frankreichs oft gewesen sind. Welchen wirtschaftlichen Druck die unterschiedlichen «Streikherde» ausüben können, ist eine offene Frage.
Höchstrichterliche Schelte
Unterdessen kommt auf die Regierung neues Ungemach zu. Der «Staatsrat» (Conseil d’Etat), in Frankreich das höchste Verwaltungsgericht, hat am 24.Januar eine scharfe Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Regierung abgegeben, der am selben Tag im Regierungskabinett gebilligt wurde. Der Staatsrat heißt so, weil er historisch – bis ins 19.Jahrhundert hinein – zunächst ein Beratungsorgan des Monarchen darstellte, bevor er sich zunehmend verselbständigte und zu einer eigenständigen, vollen Gerichtsbarkeit ausgebaut wurde, deren Aufgabe die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen des Staates ist. Gleichzeitig hat sich bis heute, ähnlich einem Evolutionsüberbleibsel wie dem Blinddarm, ein Rudiment der vormaligen Beraterfunktion des Staatsrats aus früheren Zeiten erhalten: Regierungen schalten ihn regelmäßig ein, um einen Gesetzentwurf vor Beginn der parlamentarischen Beratung juristisch auf Herz und Nieren prüfen zu lassen, um möglichst geringe Risiken einer Verfassungs- oder internationalen Vertragswidrigkeit einzugehen. Letztere könnte das Verfassungsgericht, also den Conseil constitutionnel, später dazu bewegen, das Gesetz zu kassieren. Dazu ist der Staatsrat selbst nicht befugt.
Im vorliegenden Fall erteilte der Staatsrat der Regierung jedoch ausdrücklich miserable Zensuren. Er monierte das Verfahren, einen «löchrigen Text» zu präsentieren. Denn der Gesetzentwurf zur Rentenreform enthält an vielen Stellen gar keine inhaltlichen Bestimmungen, sondern verweist auf später zu verabschiedende ordonnances, also Verordnungen mit Gesetzeskraft. Diese werden von der Exekutive, nicht vom Parlament verabschiedet, haben jedoch denselben Rang und Stellenwert wie ein Parlamentsgesetz. Die geltende französische Verfassung der Fünften Republik lässt das unter bestimmten Umständen – dazu gehören eine «Dringlichkeitserklärung» und eine allgemeine Ermächtigung durch das Parlament – zu.
Per Dekret – wenn es per Gesetz nicht geht
Das Verfahren läuft darauf hinaus, Bestimmungen von der Exekutive, am Parlament vorbei, verabschieden zu können. Eine gewisse Komplizenschaft mit der Parlamentsmehrheit ist allerdings Voraussetzung: Es geht vor allem darum, die Opposition in der Sache nicht mit debattieren zu lassen.
Auf eine gewisse Aushebelung der Oppositionsrechte läuft auch das gewählte Verfahren bei der Debatte um die Rentenreform hinaus. Nachdem der Textentwurf am 24.Januar im Ministerrat abgesegnet war, begann gleich zu Beginn der darauffolgenden Wochen ein Reigen parlamentarischer Ausschusssitzungen, um die Debatte im Plenarsaal vorzubereiten. Dabei hatten die Oppositionsfraktionen genau vier Tage Zeit, um Änderungsanträge in die zuständigen Fachausschüsse einzubringen – fast ein Ding der Unmöglichkeit, denn der Entwurf umfasst (mit Begleitstudie und Finanzierungsvorschlägen) über tausend Seiten. Er soll ab dem 17.Februar dieses Jahres im Plenarsaal debattiert, in erster Lesung im März und in letzter Lesung im Juni verabschiedet werden.
Am St.Nimmerleinstag
Im konkreten Falle sieht der Gesetzesentwurf nicht weniger als 29 künftige Verordnungen vor. Gegen dieses Verfahren macht der Staatsrat, das höchste Gericht im öffentlichen Recht, nun Bedenken geltend, die natürlich Wasser auf die Mühlen der Kritiker darstellen. Er betrachtet es zudem als mutmaßlich verfassungswidrig, wenn derselbe Gesetzentwurf an anderer Stelle schlicht auf die Absicht der Regierung verweist, künftig irgendwann zu den offen gelassenen Fragen nochmal eine Gesetzesinitiative zu ergreifen.
Eine solche Leerstelle enthält der Entwurf bei der Frage des zu erwartenden, besonders starken Kaufkraftverlusts für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen infolge der Rentenreform: Hier heißt es, man erteile der Regierung den Auftrag, in späteren Gesetzesvorhaben Maßnahmen zum Auffangen der Verluste und zur Aufwertung der Einkommen der Lehrkräfte zu ergreifen. Eine gesetzliche Leerstelle wird also durch eine Absichtserklärung gefüllt, wie sie in Sonntagsreden vorkommen könnte.
Die Rolle der CFDT
Unangenehm für die Regierung ist ebenfalls, dass eine wichtige Stütze ihrer Politik, die CFDT, in den vergangenen Wochen in erheblichem Ausmaß Mitglieder verliert. 5000 Austritte räumt der Dachverband selbst ein. Am Ende der vorletzten Januarwoche erschien sogar ein Beitrag dazu auf der Webseite der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalt.
Die CFDT bzw. ihr Apparat hatte nach dem 11.Januar lauthals «Sieg!» gerufen – gemeint war in Wirklichkeit: «Hört auf zu streiken!» Das hatten sie auch als Überschrift auf ihre Flugblätter geschrieben, nachdem Premierminister Edouard Philippe ihr ein «Zugeständnis» angekündigt hatte. Dieses lautete, er werde eine in der Rentenreform enthaltene Maßnahme zurücknehmen, nämlich den Eckwert («Scharnieralter») – jedoch nicht den Rest. Zum Rest zählt die von der CGT auf 25 Prozent geschätzte zu erwartende durchschnittliche Absenkung der Renten.
Der «Gag» bei der Sache ist nun jedoch, dass dieses «Scharnieralter» eben doch im Gesetzentwurf vom 24.Januar enthalten ist. Die Gesundheitsministerin Agnès Buzyn stellten vor versammelter Presse ausdrücklich klar, es stehe nach wie vor im Entwurf. Ein guter Witz, über den die meisten Lohnabhängigen jedoch nicht lachen dürften. Denn das bedeutet nichts anderes als: Die CFDT hat nichts erreicht. Überhaupt nichts. Die Bourgeoisie liebt den Verrat, nicht den Verräter.
Laut einer Umfrage zu Beginn der letzten Januarwoche rechnen 89 Prozent der Befragten mit einer «Zunahme gewalttätiger Aktionen gegen den Staat und seine Symbole», nur 11 Prozent erwarten das Gegenteil.
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