Europa und Großbritannien nach der Brexit-Wahl
von Ingo Schmidt
Besser Brexit als Corbyn. Das war wohl die Meinung jener gut betuchten Briten, die lieber in der EU bleiben würden. Es war auch der Tenor der deutschen Medienberichte über die britischen Unterhauswahlen im letzten November.
Im Vorfeld der Wahlen wurde Corbyn fast durchgängig als eine Art Lafontaine hoch 10 bezeichnet.
Nach den Wahlen verloren die Medien schnell ihr Interesse und trösteten sich über den nun doch nicht mehr zu vermeidenden Brexit mit Schadenfreude hinweg. Viel wurde darüber berichtet, dass es zu einem neuen Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands, vielleicht sogar zu einem Anschluss Nordirlands an die Republik Irland kommen werde.
Das mag stimmen. Zu Schadenfreude haben die Pro-EU-Medien aber wenig Anlass. So viele Spaltungslinien wie das Vereinigte Königreich durchziehen die Europäische Union schon lange.
Die deutsch-französischen Spannungen
Das deutsch-französische Verhältnis ist schon lange zerrüttet. Macron macht einen Vorschlag zur politischen Weiterentwicklung der EU nach dem anderen. Merkel schweigt. Die Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin und Christine Lagardes zur Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) schien Entspannung anzudeuten. Wie in den guten alten – aus der Sicht kleiner Länder eher schlechten – Zeiten hatten sich die Regierungschefs aus Berlin und Paris auf einen Vorschlag geeinigt, der dann nach viel Gezerre und mit Bauchschmerzen angenommen wurde.
Als ehemalige Kriegsministerin passt von der Leyen gut zu Macrons Vorstellungen einer außenpolitisch selbständigeren und entsprechend aufgerüsteten EU. Lagarde hat sich als IWF-Chefin Sporen als harte Sparpolitikerin verdient. Insbesondere in Griechenland wird man sich daran erinnern, dass sie in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission und der EZB einer lockeren Geldpolitik und steuerfinanzierten Rettung pleitebedrohter Banken in Deutschland und Frankreich zustimmte, im Gegenzug aber bei der Senkung sozialer Mindeststandards und der Kürzung öffentlicher Dienste mitwirkte.
Einen Neustart in den deutsch-französischen Beziehungen markierte der Deal von der Leyen/Lagarde keineswegs. Im November erklärte Macron die NATO in einem Interview mit dem britischen Economist für hirntot und knüpfte daran zum wiederholten Mal Forderungen nach einer eigenständigeren Außenpolitik der EU. Und bekam von Merkel prompt einen Korb.
Auch früher war die deutsch-französische Partnerschaft keineswegs immer Garant und Motor der europäischen Einigung, auch wenn dies in Festreden immer wieder behauptet wird. Eher war es so, dass Einigungsschritte von der Montan- bis zur Währungsunion immer dann unternommen wurden, wenn sie mit den durchaus unterschiedlichen politischen Strategien in Berlin bzw. Bonn und Paris kompatibel waren. Die Montanunion legte einen der Grundsteine für die exportgetriebene Akkumulationsstrategie des deutschen Kapitals. Daran halten die deutschen Eliten bis heute fest, ebenso wie an der unverbrüchlichen Treue zu den USA.
Damit haben es die französischen Eliten aber nie so genau genommen. Sie haben immer unklar gelassen, mit wem sie außenpolitische Bündnisse ohne oder sogar gegen die USA eingehen wollten. Dafür zeigten sie eine durchgängige Vorliebe für die politische Regulierung der Kapitalbewegung. Daher die wiederkehrenden Forderungen nach einer europäischen Wirtschaftsregierung. Der deutschen Bourgeoisie sind solche Vorstellungen fremd. Vielleicht weil sie sich zu sehr an ihre staatskapitalistischen Verstrickungen mit Kaiser- und Drittem Reich erinnert fühlt. Aber sie kann sich mit dem französischen Regulierungsfaible arrangieren, wenn es in ein ordnungspolitisches Korsett gezwängt wird. Wie im Maastrichter Vertrag 1992 oder dem Fiskalpakt 2011.
Sprengsatz Währungsunion
In diesem Korsett wäre die Währungsunion beinahe erstickt. Ihre Wiederbelebung im Laufe der Eurokrise hat soziale und politische Spaltungen innerhalb der Eurozone, aber auch in der EU insgesamt massiv verschärft. Das gilt auch für den Aufschwung von UKIP, ohne den es keinen Brexit gegeben hätte. Beide haben ihren Ursprung in der britischen Bankenrettungs- und Sparpolitik außerhalb der Währungsunion. Aber die «Man-spricht-Deutsch»-Haltung, mit der Merkel und Schäuble dieselbe Politik gegenüber den südeuropäischen Euro-Ländern durchgesetzt haben, hat sicher das Ihre zur Euroskepsis auch in Großbritannien beigetragen. Selbst in Deutschland, dessen politische Elite sich als Schützerin deutscher Spar- und Steuergroschen gerierte und damit den Anstoß zur Gründung der AfD gegeben hat.
In den Jahren vor der Eurokrise war es zu einer Polarisierung zwischen den Gläubigerländern im Nordwesten des Euro-Raums und den Schuldnerländern im Süden und Osten gekommen. Während der Krise haben die osteuropäischen Eliten den von ihnen mehr verwalteten als beherrschten Ländern harte Sparmaßnahmen auferlegt. Nicht zuletzt, um ihre guten Beziehungen zu den Machtzentren in den Gläubigerländern zu wahren. Als sich in Südeuropa Widerstand gegen solche Maßnahmen regte und langwierige Umschuldungsverhandlungen geführt wurden, fühlten sich die osteuropäischen Eliten um die Früchte ihres vorauseilenden Gehorsams betrogen. Nicht anders als AfD, UKIP und ähnliche Truppen in den Gläubigerländern waren sie, ebenso wie erhebliche Teile der Bevölkerung, der Meinung, die Südeuropäer würden für ihren Schlendrian auch noch belohnt. Dagegen würde ihnen der Lohn für freiwillig erbrachte Sparleistungen vorenthalten. Gleichzeitig mussten die Südeuropäer erleben, dass ihre durch Proteste, Platzbesetzungen, Streiks und mitunter auch Wahlen bekundete Ablehnung der Sparpolitik gegen die Gläubiger nichts ausrichten konnte. Letztere konnten ihre Macht zwar behaupten, haben sich aber quer durch Europa mehr als unbeliebt gemacht.
Der seit der Eurokrise grassierende Unmut richtet sich jedoch weniger gegen die ökonomischen Eliten und ihr gut betuchtes Umfeld, als gegen die Politiker und Institutionen, die die Macht des großen Geldes durchsetzen und absichern. Ist das Vertrauen der Bevölkerung erst einmal verspielt, hat es mit dem Absichern der Herrschaft seine liebe Not. Eine neue Rechte kostet diese Not weidlich aus. Ihr Auftauchen hat für die Eliten aber auch sein Gutes, weil sie einen guten Teil des aus ökonomischen und sozialen Spaltungen resultierenden Unmuts auf Flüchtlinge, Feministinnen und Klimaaktivisten umlenkt – und es den Institutionen der EU sowie zentristischen Regierungschefs wie Macron und Merkel erlaubt, sich als eigentlich doch ganz fortschrittlich darzustellen. In jedem Falle besser als alles, was nach ihnen kommen wird. Und nicht einem so rückwärtsgewandten Fortschritt verpflichtet wie Genosse Corbyn.
Linke in Europa
Dem wurde zum Verhängnis, dass viele der weniger Begüterten die Politik und nicht die Wirtschaft für ihre Sorgen und Nöte verantwortlich machen. In den deindustrialisierten Gegenden Englands identifizierten sie Politik zumeist mit Brüssel. Entsprechend wählten sie Johnson. Im nicht minder deindustrialisierten Schottland wurde das Londoner Politikestablishment für diese Nöte verantwortlich gemacht. Corbyn, der soziale Probleme in England wie in Schottland jenseits der Brexitfrage zu thematisieren versuchte, galt als unsicherer Kantonist. Das Resultat: Mit einem Stimmenanteil von 45 Prozent konnte die proeuropäische Scottish National Party (SNP) 48 der 59 schottischen Sitze im britischen Parlament abräumen.
Nur nebenbei: Würde in Großbritannien nach dem Verhältniswahlrecht statt nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt, hätten die Tories mit ihren 43,6 Prozent Stimmenanteil die absolute Mehrheit klar verfehlt. Und damit auch das eindeutige Brexitmandat, das Johnson für sich reklamiert. Von den anderen im Parlament vertretenen Parteien ist Labour noch die EU-kritischste. Ob Johnson unter Bedingungen eines weniger archaischen Wahlrechts die Bildung einer Regierungskoalition gelungen wäre, darf also bezweifelt werden.
Welchen Unterschied das Wahlrecht machen kann, zeigt ein Blick nach Spanien. Dort haben Sozialdemokraten und Podemos einer von den katalanischen Linksnationalisten tolerierte Minderheitsregierung gebildet. Eine wacklige Konstruktion. Weit davon entfernt, die Beziehungen zwischen Madrid und Barcelona auf eine neue Grundlage zu stellen, ist der neuen Regierung immerhin eine Prioritätenverschiebung von der nationalen zur sozialen Frage gelungen. So herum lassen sich die Beziehungen zwischen Provinz- und Zentralregierungen, oder auch EU-Mitgliedern und EU-Institutionen, vielleicht besser aushandeln als, wie im Falle des Brexit, andersherum. Eine von Labour geführte Koalitionsregierung hätte Corbyn, wenn es denn in Großbritannien ein Verhältniswahlrecht gäbe, vielleicht auch zustande gebracht.
Wie die Dinge nun liegen, werden die im Vorfeld der Wahl nur mühsam unterdrückten Spannungen innerhalb der Labour Party offen aufbrechen. Wie zu erwarten, machen die immer noch reichlich vorhandenen Blair-Getreuen Corbyns Linkskurs für den Verlust der Wahlen verantwortlich. Dabei haben die letzten Spitzenkandidaten aus ihren Reihen weniger Stimmenanteile eingefahren als Corbyn mit seinen 32,2 Prozent. Gordon Brown brachte es 2010 auf 29, Ed Miliband 2015 auf 30,4 Prozent. Dass es dafür mehr Parlamentssitze gab, lag – genau: am Mehrheitswahlrecht. Andererseits ist unter Corbyns Führung eine neue Generation von Labour-Aktivisten herangewachsen, die auf der Straße besser mobilisieren kann als die unter Blair groß gewordenen Apparatschiks.
An Gelegenheiten dazu wird es nicht mangeln. Johnsons Brexitmandat ist wesentlich schwächer, als er selber glaubt oder zu glauben vorgibt. Wie immer er in Brüssel über die Post-Brexit-Beziehungen zur EU verhandelt – irgendwer in England, Schottland, Wales oder Nordirland wird darüber unglücklich sein. Dabei wird so manchen Johnson-Wählern aufgehen, dass Brüssel nicht Vertreter feindlicher Nationen, sondern Statthalter des Kapitals ist. Nicht viel anders als der Londoner Politikbetrieb. Es sei denn, dieser Betrieb, ob in London, Brüssel oder anderswo, wird durch Bewegungen von unten zu einer Bastion sozialer Gegenmacht aufgebaut.
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