«Weg mit der Flasche unter den Bahnhöfen»
von Paul Michel
So lautete das Motto der 500.Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21 am 3.Februar. Die doch ganz ansehnliche Zahl von Teilnehmenden an der Demonstration zeigt, dass der Protest entgegen Unkenrufen der Betreiber von S21 nach wie vor vorhanden ist.
Es fanden sich etwa 4000 Menschen ein, um gegen das wohl über 10 Milliarden Euro teure Murksprojekt zu demonstrieren, das, falls es je in Betrieb geht, eine Verschlechterung der Leistungsfähigkeit gegenüber dem bestehenden Kopfbahnhof bringen wird.
Mit Herrmann Knoflacher aus Wien und Heiner Monheim war es dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 gelungen, zwei herausragende Verkehrswissenschaftler als Redner zu gewinnen. Die beiden Experten warnen eindringlich davor, Stuttgart 21 zu Ende zu bauen. Sie verfassten anlässlich der 500.Montagsdemo einen «Stuttgarter Appell» mit fünf Forderungen an alle Verantwortlichen – darunter Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Verkehrsminister Winfried Hermann, OB Fritz Kuhn und Bahnchef Richard Lutz. In Punkt 5 des Appells heißt es: «Moratorium wagen.» Wenn sowohl W.Hermann als auch R.Lutz einräumten, dass das Projekt aus heutiger Sicht «eigentlich falsch ist, dass es der Bahn große Verluste beschert, dann muss auch ein Moratorium für einen kompletten Baustopp möglich bleiben».
«Ein Bosheitsakt gegen die Zukunft»
Hermann Knoflacher stellte fest, Stuttgart 21 sei «ein Bosheitsakt gegen die Zukunft». Hier werde Geld vergraben, «das wir dringend brauchen für Nebenbahnen, für den öffentlichen Verkehr und dafür, die Autos aus der Stadt zu bringen». Heiner Monheim ergänzte:
«S21 passt überhaupt nicht zur Verkehrswende. Denn Verkehrswende erfordert Tausende von kleinen Bahnprojekten für einen massiven Systemausbau des öffentlichen Verkehrs. Aber im Südwesten monopolisiert das völlig überzogene Großprojekt die Planungs- und Investitionsmittel einer ganzen Generation. Gleichzeitig verlottern im deutschen Bahnsystem Tausende Bahnhöfe, warten Tausende Kilometer von eingleisigen Strecken dringend auf ihren Ausbau, können 6000 neue Bahnhöfe und Haltepunkte nicht geplant und gebaut werden, die für eine kundennahe Bahn nötig wären, weil dafür Personal und Geld fehlt. Ganz zu schweigen davon, dass Hunderte von Strecken nicht reaktiviert werden können, weil das bei den Bahnoberen keine Priorität hat.»
Monheim skizzierte in seinem Beitrag, wie sinnvolle Zukunftskonzepte für eine Flächenbahn aussehen können: «Dafür braucht sie ein dichtes Netz, das weniger auf Höchstgeschwindigkeit und mehr auf Systemgeschwindigkeit setzt, ohne Verspätungen, ohne Zeitverluste beim Umsteigen, ohne lange An- und Abfahrtzeiten, weil der nächste Bahnhof erst nach 20 oder 30 Kilometern erreichbar ist. Dafür braucht die DB wieder dringend einen Interregio, und zwar im Halbstundentakt zwischen allen Mittel- und Oberzentren. Dafür braucht sie 250 S-Bahn-Systeme mit dichtem Taktverkehr. Und ca. 6000 neue Bahnhöfe und Haltepunkte.»
«Katastrophe mit Ansage»
Als «Katastrophe mit Ansage» bezeichnete Hans-Joachim Keim, ein international renommierter Brandschutzexperte, Stuttgart 21, wegen der eklatanten Mängel beim Brandschutz von Stuttgart 21. Der Bahnexperte Arno Luik wies darauf hin, dass «Zug- oder Lokbrände erschreckend häufig passieren – im Schnitt alle vier Tage in Deutschland. Selbst Züge, die als unbrennbar erklärt worden sind, brennen gelegentlich.» Etwa in Montabaur ein ICE auf der Schnellstrecke Köln–Frankfurt am Main: Die vielbefahrene A3 musste wegen des Rauchs komplett gesperrt werden. Dieser eigentlich «unbrennbare» Zug hatte einen Tag lang gebrannt – im Freien!
«Wenn so ein Zug in den zu engen Tunneln unter Stuttgart brennt, dann dauert die Löschung fünf Tage», sagte der Stuttgarter Brandschutzexperte Joachim Keim. «Ratzfatz entsteht dabei ein tödlicher Cocktail aus Senfgas, Phosgen, Blausäure. Reisende, die plötzlich zu panisch Fliehenden werden, sind ohne Überlebenschancen.»
Bei diesem «Metallbrand» entwickeln sich Temperaturen bis zu 2000 Grad Celsius. «Man stelle sich das in den Tunneln von Stuttgart 21 vor, die in zehn Minuten völlig verraucht sind. Die Fluchtwege in den beiden 9 Kilometer langen Filder-Tunneln sind nur 120 cm, an Engstellen sogar nur 90 cm breit. Im ungünstigsten Fall müssen einige hundert Fahrgäste, darunter Behinderte, Kleinkinder und Senioren bis zu einem halben Kilometer bergauf zur nächsten Rettungsschleuse fliehen. Separater Rettungsstollen? Fehlanzeige! Im internationalen Vergleich haben die S21-Tunnelröhren ein fast fünfmal so hohes Risiko im Brandfall wie andere Tunnel!», erklärte Arno Luik.
Im Tiefbahnhof sind die Fluchtwege bis zu 190 Meter lang statt nach den üblichen Vorschriften maximal 40 Meter. Am Ende geht es für Tausende in steile Treppenhäuser. Je Bahnsteig-Ende steht nur eine Treppe mit 2,4 bis 3 Metern Breite zur Verfügung. Ist eine Seite durch Feuer blockiert, ist der Fluchtweg zum anderen Ausgang 380 Meter lang. Bis zu 4000 Personen müssen dann über eine einzige Treppe flüchten. Zum Vergleich: Bei Hallen wie der Porschearena wird die siebenfache Breite gefordert. Alles zu eng, zu steil, zu lang, nicht behindertengerecht und nicht vor Verrauchung geschützt. Da darf kein Koffer im Wege stehen.
Hans-Joachim Keim, der gerufen wird, wenn passiert ist, was eigentlich nie hätte geschehen dürfen – etwa die Tunnelkatastrophe von Kaprun im Jahr 2000, bei der 155 Menschen ums Leben kamen –, hat das Brandschutzkonzept von Stuttgart 21 analysiert. Er meint: «Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Im Unglücksfall haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?»
Nicht nur ein schwäbisches Problem
Die Bahn hat sich lange Zeit geweigert, den Kritikern von Stuttgart 21 Einsicht in ihre Unterlagen zu gewähren. Die Kritiker mussten sich das Recht dazu erst vor dem Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim erstreiten. Nach einem Vergleich des VGH auf Basis des Umweltinformationsgesetzes durften die Gegner des Bahnprojekts das Gutachten einer Schweizer Firma zum Brandschutz einsehen. Die Ingenieure bemängeln darin, dass den Ausführungen keinerlei Übungen mit Rauch zugrundeliegen. Sie bezweifeln, dass mit computergestützten Simulationsprogrammen Probleme mit Rauchentwicklungen realistisch abgebildet werden können.
«Der vorgelegte Bericht ist eine reine Trockenübung und wurde lediglich unter Laborbedingungen erstellt», bemängelte ein Mitglied der «Ingenieure gegen S21». Nicht einmal Erfahrungen mit anderen Tunnelbränden seien aufgenommen worden.
Natürlich sind die Menschen in Baden-Württemberg die Leidtragenden, falls Stuttgart 21 je in Betrieb gehen sollte. Jetzt schon ist klar, dass der «Deutschlandtakt» aufgrund mangelnder Kapazitäten mit Stuttgart 21 nicht machbar ist. Aber es sind eben nicht nur Schwaben betroffen. Das Verbuddeln von Milliarden in der Stuttgarter Bahnhofsgrube ist ein Hindernis für die Verkehrswende in der ganzen Republik.
Das Geld, das in Stuttgart sinnlos vergraben wird, fehlt überall. Es ist nötig für die Elektrifizierung der Bahn, für die Wiederinbetriebnahme stillgelegter Strecken, für die Instandsetzung der maroden Bahninfrastruktur und für neue Züge. Und die über 60 Kilometer Tunnel rund um Stuttgart 21 sind nicht nur für Schwäbinnen gefährlich. Es soll ja Menschen geben, die aus anderen Teilen Deutschlands mit dem Zug nach Stuttgart fahren oder diesen Bahnhof auf der Fahrt nach München durchqueren.
Und es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb AktivistInnen für eine Verkehrswende dem Fall Stuttgart 21 mehr Beachtung schenken sollten: In der Bewegung gegen Stuttgart 21 gibt es viele Menschen, die sich seit Jahren damit befassen, wie eine bessere Bahn geht. Da ist Stuttgart nun tatsächlich einmal «Spitze».
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