Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Film 26. März 2020

Das goldene Kalb
von Kurt Hofmann

Auch auf den sog. Nebenschauplätzen der Berlinale gab es in diesem Jahr viel Entdeckenswertes.


Eine Kleinstadt in Ost-Texas: Neue Jobs gibt es da längst keine mehr, in die Infrastruktur des Ortes investiert auch niemand, es gibt nichts zu erben, und so hoffnungslos heruntergekommen, wie sich die Umgebung präsentiert, ist auch die Stimmungslage.
Inmitten dieses von Arbeitslosigkeit und Frustration geprägten anhaltenden Desasters gibt es für die BewohnerInnen ein alljährliches Highlight: den «Hands-on»-Wettbewerb des örtlichen Autohändlers, an dem zwanzig durch das Los bestimmte Teilnehmende einen fabrikneuen Pick-up-Truck gewinnen können. Wer als letzter der Hitze und den langen Nächten getrotzt hat und sich immer noch mit beiden Händen am Wagen festhält, Witterung und Schlafbedürfnis trotzend, hat den begehrten Preis gewonnen. Ein Spektakel, für das sich der Lokalsender ebenso interessiert wie die zahlreichen Fans, die ihre Favoriten anfeuern.
Das geht über Tage und dabeisein ist hier längst nicht alles. Jede und jeder für sich selbst gegen die anderen, da wird nicht kommuniziert, allenfalls fällt ein Blick auf die benachbarten KonkurrentInnen, ob sie endlich schlappmachen. Aufgeben ist aber keine Option, solange die Hände noch das Objekt der Begierde, das Goldene Kalb in Form einer Karosserie, berühren. Doch das Scheitern ist unvermeidlich: im besseren Fall ist es nur die nachgelassene Physis, im schlechteren Fall liegen die Nerven blank, im worst case richten sich die Aggressionen allumfassend gegen die «anderen».
Derlei Marathonwettbewerbe waren in den USA insbesondere in Krisenzeiten und -gebieten stets beliebt – ein Lob auf den Wettbewerb, in dem jede und jeder angeblich des eigenen Schicksals Schmied ist, aber ebenso das Spiegelbild eines gnadenlosen Systems, das sich als alternativlos sieht. Sydney Pollack hatte das in Form eines Dauertanzwettbewerbs bereits 1969 in Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss vorgezeigt.
Der deutsche Regisseur Bastian Günther interessiert sich in seinem penibel recherchierten Film One of these Days (Deutschland/USA 2020; Panorama) für die Zu-kurz-Gekommenen, deren Hoffnungen manipuliert werden, die niemals aktiv ins Spiel eingreifen können, stets Spielball bleiben, in dieser besten aller Welten.

Jane ist die Assistentin eines Medienmoguls. Sie organisiert dessen Terminkalender, muss wissen, wen sie am Telefon abwimmeln und wen zu hofieren hat, Launen des Chefs (der nur am Telefon präsent ist) widerspruchslos ertragen und – ungeachtet ihres hervorragenden Universitätsabschlusses – für ihre männlichen Kollegen die Zuträgerin und Putzfrau spielen. Als sie beobachtet, wie eine jugendliche Geliebte des Bosses trotz mangelnder Qualifikation ein- und ihr gleichgestellt wird, beschwert sie sich und wird prompt beim Chef angepatzt…
The Assistant (USA 2020; Regie: Kitty Green; Panorama) erweckte nicht zuletzt im Zusammenhang mit «Me too» großes Interesse, doch die Belästigung, der Jane in The Assistant ausgesetzt ist, geht weit über sexuelle Übergriffe hinaus. Sie ist einer ebenso omnipräsenten wie arroganten Männerdomäne ausgesetzt und als Person (weil weiblichen Geschlechts) im Büro «nicht vorhanden» … Begeht sie «Fehler», muss sie dem Chef ein unterwürfiges Entschuldigungsmail schicken (eine Art «elektronischer Stalinismus», aber bereits in der demokratisch-kapitalistischen Praxis etabliert). The Assistant erzählt explizit von den Unterwerfungsritualen, die (männliche) Macht einfordert.

Endlich steht der Lehrer Bakhtiyar nach Jahren der Versetzung von Schule zu Schule vor einer Festanstellung. Nicht allein seine kurdischen Wurzeln, auch die (drei Jahrzehnte zurückliegenden) politischen Aktivitäten seines Vaters, welche diesen ins Gefängnis brachten, hatten Bakhtiyars Fortkommen behindert. Doch nun scheint er, mit seiner Familie in einer kurdischsprachigen Stadt des Iran lebend, endlich beruflich wie privat Fuß zu fassen.
Doch der gute Kontakt zu seinen Nachbarn wird brüchig, als ein Wagen in seiner Straße parkt und dort tagelang, samt Fahrer und Beifahrer, die etwas mustern, stehen bleibt. Naturgemäß blühen die Vermutungen, was denn die Insassen dieses mysteriösen Autos, mutmaßlich Geheimdienstagenten, in dieser abgelegenen Gegend suchen und vor allem, nach wem sie Ausschau halten.Alle verdächtigen alle, idealerweise bietet sich da Bakh­tiyar, der «Zugereiste», als «Täter» an – schuldig per Verdacht.
Nader Saeivars Erstlingsfilm Namo (The Alien; Iran 2020; Forum) zeigt, wie in einem Klima der Angst Opportunismus, Denunziation und Ausgrenzung gedeihen. Was die «Agenten» im geparktem Auto wirklich wollen, will man gar nicht so genau wissen, wichtig ist die Absicherung für den «Fall der Fälle» und – einen Schuldigen zu finden…

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