Die Epidemie befördert den Zerfall der Weltwirtschaft
von Martine Orange
«Wir erleben den kritischsten Moment seit der Finanzkrise», ist aus Finanzkreisen zu hören. Erdöl, Finanzmärkte, alles fällt in sich zusammen.
Die Corona-Epidemie ist dabei, einen gigantischen Kurzschluss in der Weltwirtschaft auszulösen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Bei der Eröffnung der Wall Street am Montag, dem 9.März, mussten die Notierungen suspendiert werden, die Kurse fielen um mehr als 7 Prozent. In Europa sackte der französische Aktienindex CAC40 um 8,39 Prozent ab, der Dax um 7,26 Prozent, der italienische Index um 9,92 Prozent. An der Wall Street sank der Dow Jones um mehr als 7 Prozent.
Während sich die Epidemie auf alle Kontinente ausdehnt und zu beispiellosen Maßnahmen zwingt, macht sich unter den sog. Investoren überall Panik breit. Erdöl, Rohstoffe, Luxusgüter, zyklische und antizyklische Sektoren, Finanzen – nichts findet Gnade in ihren Augen. Der Volatility Index VIX, der berühmte Index der Angst, der die Nervosität auf den Märkten misst, erzielt neue Rekorde und hat seinen bisher höchsten Stand beim Absturz von Lehman Brothers im September 2008 übertroffen.
«Die Gefahr einer weltweiten Rezession ist gestiegen … Ein langandauernder Rückgang des Konsums mit längeren Schließungen von Unternehmen würde die Profite angreifen, zum Verlust von Arbeitsplätzen führen und auf die Moral drücken», äußert sich jetzt die Ratinagentur Moody’s, der französische Finanzminister Bruno Le Maire warnt, die Epidemie könne «mehrere Zehntelpunkte des Bruttoinlandsprodukts» kosten. Zahlreichen Analysten zufolge geht es hier nicht nur um eine Rezession von einigen Monaten, sondern um einen größeren Bruch. Die vom Virus provozierte Lähmung ist ihrer Meinung nach dabei, die Weltwirtschaft in unbekannte Gewässer zu leiten.
«Wir stehen vor dem kritischsten Augenblick seit der Finanzkrise», meint der Anlagestratege eines Investmentfonds. Die Epidemie gilt inzwischen als der neue «schwarze Schwan», ein unerwartetes – in diesem Fall unvorhersehbares – Ereignis, das den Zusammenbruch des Systems hervorruft.
Die Folgen sind umso schwerwiegender, als die Schockwellen sich aus China, dem Produktionszentrum der Welt, inzwischen in mehreren aufeinanderfolgenden Schüben ausgebreitet haben, während das Gesamtsystem seit der letzten großen Krise nur höchst unvollkommen stabilisiert werden konnte.
Die Finanzkrise von 2008 ist noch lange nicht verdaut, es gab nur den unbedingten Willen, das System zu bewahren, ohne es zu reformieren. Auf diesen Resonanzboden treffen die neuesten Verwerfungen und können eine beispiellosen Krise auslösen. Das ist es, was die Märkte zittern lässt.
Die OPEC ist tot
Saudi-Arabien hatte zweifellos nicht vorausgesehen, zu solchen Spannungen beizutragen. Mit der Entscheidung vom 7.März, seine traditionelle Rolle als Garant des Welt-Ölmarkts aufzugeben und einen totalen Preiskrieg gegen Russland und die amerikanischen Erdölproduzenten zu führen, hat Riyad die Ölmärkte ins Chaos gestürzt.
Brent, die für Europa wichtigste Rohölsorte, hat mehr als 20 Prozent seines Werts verloren und ist auf 34 Dollar je Barrel gefallen. WTI, das Rohöl des amerikanischen Markts, ist unter die 30-Dollar-Marke gefallen und danach nur leicht wieder auf 33 Dollar gestiegen. Derart niedrige Preise gab es seit dem Krieg um Kuwait 1991 nicht mehr. Die Kurse der großen Ölkonzerne – Shell, Total, Exxon – haben mit Verlusten zwischen 16 und 20 Prozent einige der schlimmsten Tage ihrer Geschichte erlebt. Der Rubel, die norwegische Krone, der kanadische Dollar, der mexikanische Peso – alle Währungen der Förderländer sind betroffen.
Mehr als die Gefahr einer Rezession scheint die fehlende Koordination unter den Ölländern zu beunruhigen. Denn die OPEC ist definitiv tot. Saudi-Arabien hat dem Kartell der Erdölförderländer, das seit Jahren in Auflösung begriffen ist, am Ende der jüngsten Versammlung am 6.März in Wien den Rest gegeben. Russland, das nicht Teil des Kartells ist, aber seit 2016 eine entscheidende Rolle auf dem Erdölmarkt spielt, hatte sich geweigert, seine Produktion gleichzeitig mit den anderen Förderländern zu reduzieren.
Wegen des Zusammenbruchs der Nachfrage, hervorgerufen durch die Lähmung der Weltwirtschaft infolge des Coronavirus, wollte Saudi-Arabien eine sofortige Reduktion von 1,5 Millionen Barrel pro Tag durchsetzen, um den Ölpreis zu stabilisieren. Russland weigerte sich und wollte lieber bis Ende April zu warten, um die Marktsituation besser einschätzen zu können.
Erzürnt über die russische Weigerung, beschloss der saudische Kronprinz Mohammed ben Salman eine radikale Kursänderung. Schon am 7.März verkündete Riyad beispiellose Preisnachlässe – in der Größenordnung von 20 Prozent – auf Ölverkäufe nach Asien, Europa und in die USA, um das Niveau seiner Exporte zu halten. Nie hat Saudi-Arabien in den letzten dreißig Jahren derartigen Preissenkungen zugestimmt.
Um ihre Offensive zu vervollständigen verkündete die saudische Regierung zugleich auf informellem Weg, sie sei bereit, die Erdölförderung zu steigern, und zwar auf bis zu 12 Millionen Barrel pro Tag (heute: weniger als 10 Millionen). Seit 1985 hat Riyad keine so bedeutende Steigerung seiner Förderung mehr beschlossen. Damals wurde dies als einer der entscheidenden Faktoren für den Zusammenbruch der UdSSR gewertet.
Zum erstenmal seit 2008 hat die Internationale Energieagentur einen starken Rückgang des Ölverbrauchs vorhergesagt. Damit konnte die Steigerung der Produktion in einem derart von Überproduktion geprägten Markt die Panik nur anheizen.
Auch wenn der Fall der Ölpreise Unternehmen, die viel Öl verbrauchen, eine leichte Linderung bringen kann – etwa den gegenwärtig stark gebeutelten Transportunternehmen –, wird er doch keinesfalls als eine gute Nachricht gewertet, sondern als Signal dafür, dass die Maschine der Weltwirtschaft ins Stottern gerät. Wie dies schon einmal in den letzten Jahren geschehen ist. Denn den Barrel zu 30 Dollar hat die Welt zuletzt im Jahr 2004 erlebt.
Auch da kam Saudi-Arabien die Hauptverantwortung zu: Es hatte gehofft, mit einem Preiskrieg Teile des Marktes von den unabhängigen amerikanischen Ölförderern zurückzuerobern und die OPEC durch eine Anbindung Russlands wieder stark zu machen. Der Versuch scheiterte jämmerlich.
Riyads neuem Ölkrieg, der sich gleichzeitig gegen die USA und gegen Russland richtet, wird nicht mehr Erfolg beschieden sein. Gewiss hat die saudische staatliche Ölgesellschaft Aramco die niedrigsten Förderkosten der Welt: etwa 2,80 Dollar je Barrel gegenüber 20 Dollar für die russischen Ölkonzerne und etwa 50 Dollar für die amerikanischen Produzenten von Schiefergas und -öl. Aber Aramco ist auch der haushaltstechnische Anhang Saudi-Arabiens, das trotz seiner Versuche, sich vom schwarzen Gold zu lösen, davon außerordentlich abhängig bleibt. Um seine Pläne zu finanzieren – seinen Krieg im Jemen, den Übergang in die Nach-Erdöl-Zeit – braucht Riyad einen Kurs um die 83 Dollar je Barrel. Russland, wenngleich sehr abhängig von der Rohstoffproduktion, begnügt sich mit einem Kurs um 40 Dollar je Barrel, um seinen Haushalt auszugleichen.
Die Blase Schiefergas
Inzwischen zeichnen sich – wie beim ersten saudischen Preiskrieg – beträchtliche Schäden ab. Langfristig am verwundbarsten sind die anderen Erdölförderländer. Nigeria, Mexiko, der Irak, Algerien haben schwer unter dem Einbruch der Kurse für Rohöl und Gas gelitten, sie machen den wesentlichen Teil ihrer finanziellen Einnahmen aus. Es drohen ihnen ökonomische und in der Folge soziale Krisen.
Diesmal könnten die Erschütterungen allerdings auch andere Länder nicht verschonen, besonders die Erdölmonarchien. Dubai hat eine Explosion seiner Immobilienpreise erlebt, sein Wirtschaftswachstum verlangsamte sich noch vor dem Coronavirus; der Zusammenbruch des Rohölpreises könnte dem Emirat nun einen starken Schlag versetzen, es benötigt einen Barrelpreis von 70 Dollar zu seiner Finanzierung.
Noch aber haben die Erdölmärkte die Augen fest auf das gerichtet, was ihnen das schwache Glied des Sektors zu sein scheint: die amerikanischen Produzenten von Schiefergas und -öl. Seit 2005 hat sich die Ausbeutung nichtkonventioneller Erdölförderstätten in den USA so vervielfacht, dass diese mit über 11 Millionen Barrel pro Tag zu weltgrößten Erdölproduzenten geworden sind. Diese abnormale Entwicklung, die wesentlich zum Aufschwung der US-Ökonomie nach der Krise von 2008 beigetragen hat, vollzog sich jedoch auf der Grundlage einer gigantischen Kreditblase.
Der Höhenflug wurde erstmals 2015 abgeschwächt, als der Kurs unter 50 Dollar je Barrel sank. Darauf haben die Konzerne mit einer Änderung ihrer Fördermethoden reagiert, sie haben Kosten gesenkt, aber auch das Produktionsvolumen erhöht und sich weiter verschuldet.
Bereits vor dem jetzigen Zusammenbruch des Ölmarkts hatten sie größte Schwierigkeiten, ihre Förderkosten und ihre Rückzahlungen zu decken. Im dritten Quartal 2019 – die Kurse des WTI schwankten damals zwischen 53 und 62 Dollar je Barrel – erklärten 32 Erdölgesellschaften, darunter einige sehr große, Konkurs und wurden unter den Schutz von Kapitel 11 des US-Gesetzbuchs (Insolvenzrecht) gestellt, das für Unternehmen in Schwierigkeiten gilt.
Sollte sich das Preisniveau von 30 Dollar je Barrel über einen längeren Zeitraum halten, werden die meisten von ihnen große Schwierigkeiten haben fortzubestehen und nicht von ihren Schulden zerdrückt zu werden. Diese, seit 18 Monaten als junk bonds klassifiziert, explodieren gerade. Anleihen des Erdölsektors werden bereits mit 10,5 Prozent verzinst. Um Erdöl und Schiefergas hat sich eine Kreditblase gebildet, die wahrscheinlich platzen wird – mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben: Die Kreditschulden der unabhängigen amerikanischen Produzenten betragen über 250 Milliarden Dollar.
Corona meets Finanzmärkte
Finanzmärkte haben ihre Totems, US-amerikanische Staatsanleihen nehmen darunter den ersten Platz ein. Als am 8.März die Rendite von 30jährige US-Anleihen unter die Marke von 1 Prozent fiel, bekamen die Investoren es mit der Angst zu tun. Derart niedrige Zinsen gab es zuletzt in den 1930er Jahren. Die verzweifelte Suche nach Sicherheit äußert sich in kolossalen Verschiebungen von Liquiditäten. Alles, was verkauft werden kann, wird liquidiert, egal zu welchem Preis, wenn nötig zum Schrottwert.
Die Hauptangst betrifft den Kreditmarkt. Die Hunderte von Milliarden, die Zentralbanken jahrelang freigiebig ausgegeben haben, haben Finanzinvestoren vergessen lassen, welche Risiken sie damit eingehen. Gigantische Blasen von Aktiva, Hebeleffekte in praktisch allen Sektoren sind entstanden. Jetzt werden sie des Risikos plötzlich gewahr. Plötzlich wird manchen Investoren bewusst, dass es nicht normal ist, Unternehmen auf der Basis vom 17- bis 18fachen ihres erwarteten jährlichen Profits zu bewerten, wenn sie im Durchschnitt bestenfalls um das 6- bis 7fache darüber lagen, und dass es reine Torheit ist, sich zu verschulden, um die eigenen Aktien zurückzukaufen.
Laut dem Institut für Internationale Finanzen (IFF) sind die Schulden im dritten Quartal 2019 weltweit auf ein historisches Hoch von 253 Billionen Dollar aufgelaufen. Davon stellen private Schulden den größten Teil dar. Wenn das Coronavirus sich weiter ausbreitet und die Aktivität lähmt, wird das Risiko, dass sie nicht erstattet werden, und werden die Bankrotte zunehmen. Das Virus läuft Gefahr, das Finanzsystem anzustecken und eine neue Schuldenkrise auszulösen.
Der kranke Mann Eurozone
Viele haben so getan, als ob die Krise von 2008 überwunden wäre. Doch die derzeitigen finanziellen Verwerfungen legen die in den letzten Jahren verborgenen Brüche wieder frei: die Fragmentierung der Eurozone. Die unkonventionelle Geldpolitik der EZB, die Negativzinsen, die Milliarden, die jeden Monat an die Banken gehen, haben eine Weile die Realität kaschiert: Die Zone hat sich nie von der Krise des Euro erholt. Trotz wiederholter Anmahnungen einer europäischen Bankenunion durch die Politik existiert diese weniger denn je.
«Der Geldverkehr in der Eurozone ist zum Stillstand gekommen», erkannte kürzlich der frühere Leiter der Banque de France, Christian Noyer. Deutsche und französische Banken wollen spanischen oder italienischen Banken keine Anleihen mehr geben, weil diese nur noch am Tropf der Europäischen Zentralbank hängen. Versicherer und Pensionsfonds kaufen nur noch Obligationen des eigenen Staates – oder Deutschlands, dessen Anleihen weiter als Fluchtwert betrachtet werden.
Diese Entwicklung wird auch wieder auf den europäischen Rentenmärkten spürbar. Die Zinsen für italienische Anleihen, die Anfang des Jahres bei 0,94 Prozent lagen, sind auf 1,3 Prozent gestiegen, ihre Differenz zu den deutschen Anleihen beträgt nun 2,11 Prozent. Das erklärt sich nicht allein aus der Tatsache, dass Italien am stärksten von der Corona-Epidemie betroffen ist, weshalb es außerordentliche Maßnahmen ergreifen muss, die unausweichlich Gefahr laufen, zur Rezession zu führen.
Die Entwicklung wird auch durch Zweifel an der Angemessenheit der Reaktionen der politisch Hauptverantwortlichen gesät. Sie scheinen nicht die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen. Während die italienische Regierung sofort 7,5 Mrd. Euro gegen die Folgen der Epidemie für den Gesundheitssektor und Wirtschaft mobilisieren will, verweist die Kommission darauf, dass das italienische Haushaltsdefizit für 2020 voraussichtlich nicht 2,2 Prozent, sondern 2,5 Prozent des BIP betragen wird!
Die Finanzwelt fängt an zu befürchten, dass die europäischen Antworten erneut unzureichend, verspätet und sogar völlig unangemessen sein können. Und diese Befürchtungen könnten sich sehr schnell bewahrheiten, wenn die EZB, als einziges Bollwerk betrachtet, bei ihrer monatlichen Zusammenkunft am 19.März ihre Erwartungen nicht erfüllt.
Die Maßnahmen, die die EZB ergreifen kann, beschränken sich allerdings darauf, dem System die unentbehrliche Liquidität zu sichern. Damit kann sie nur wenig zur Linderung des Corona-Schocks beitragen: Geldpolitik kann nicht alles, wie die FED jüngst gezeigt hat, als sie die Zinsen senkte, ohne dass dies die geringsten Auswirkungen gehabt hätte. Und auch dies versetzt die Finanzmärkte in Panik. Nachdem sie sich vierzig Jahre lang unter dem schützenden Schirm der Zentralbanken maßlos bereichert haben, wird ihnen nun klar, dass diese nicht mehr viel für sie tun können.
Stand: 9.März 2020. Quelle: www.europe-solidaire.org/spip.php?article52363.
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