Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2020

Ein Korrekturvorschlag
von Penthesilea Wassermann

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,
leider ist Ihnen ganz offensichtlich das falsche Redemanuskript für Ihre Fernsehansprache am 18.März in die Hände geraten. Bitte korrigieren Sie diesen höchst bedauerlichen Fehler so schnell wie möglich – hier der richtige Text:

«Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
angesichts der chaotischen Verhältnisse in der Politik und den völlig unklaren Ansagen, die häppchenweise von Tag zu Tag, sogar von Stunde zu Stunde verändert werden, möchte ich mich bei Ihnen allen zuallererst für Ihrer aller Besonnenheit und Ruhe bedanken. Trotz der unvollständigen und widersprüchlichen Aussagen sind Sie nicht in Panik verfallen und haben planvoll gehandelt.
Selbstverständlich mussten Sie sich, nachdem Sie mit 14tägiger Quarantäne bedroht und darauf hingewiesen wurden, dass es sich dabei um eine mit Bußgeld belegte polizeiliche Maßnahme handelte, bevorraten.
Leider haben all die, die Ihnen so gedroht haben, Sie nicht auf folgendes hingewiesen:
Im Falle einer angeordneten Quarantäne werden die betroffenen Haushalte täglich von zuständigen Behörden angerufen, um zu erfahren, wie es Ihnen geht, ob Sie Hilfe irgendeiner Art benötigen, und Ihnen alle Waren, die Sie benötigen, nach Hause zu liefern. Nach Ende der Quarantäne können Sie die Rechnungen, die den Lieferungen jeweils beiliegen, überweisen. Hamsterkäufe sind also völlig überflüssig – trotzdem bedanke ich mich bei allen, die bereits Vorräte angelegt haben, weil das die Behördenmitarbeitenden natürlich entlastet.
Geradezu fahrlässig war die bisherige Informationspolitik hinsichtlich der Hilfen, die ‹der Wirtschaft› versprochen wurden. Der Wirtschaft hilft am ehesten, wer die unteren Einkommensgruppen mit mehr Kaufkraft versieht (Studium der Volkswirtschaft, 1.Semester). Die Drohung mit Kurzarbeitsgeld hätte in dieser Gruppe Panik auslösen müssen – auch hier wieder mein aufrichtiger Dank an die Betroffenen, die darauf nicht hereingefallen sind – denn es ist ja so schon fast unmöglich, von diesen Löhnen menschenwürdig zu leben, mit 60 Prozent davon ist das ausgeschlossen.
Selbstverständlich bekommen alle ihre Löhne in bisheriger Höhe weiter, und der Niedriglohnsektor wird so weit aufgestockt, dass Sie alle Ihre Kosten tragen können. Städtische Vermieter reduzieren ihre Forderungen auf ein tragbares Maß, alle anderen werden dazu verpflichtet und anderenfalls enteignet.
Niemand ist somit gezwungen, beispielsweise als Frisörin weiterhin in unverantwortlich nahen Kontakt zu Menschen kommen zu müssen, um überleben zu können.
Die Produktion von Schutzkleidung und Medikamenten wird sowohl ausgebaut als auch regionalisiert. Damit wird nicht nur der unsinnige Warenverkehr und mit ihm die Belastung der Umwelt erheblich reduziert, sondern auch eine schnellere Reaktionsfähigkeit und größere Unabhängigkeit erreicht.
Wir werden prüfen, welche Produkte notwendig und welche verzichtbar sind. Nur die notwendige Produktion wird aufrechterhalten, alles andere wird (erst einmal vorläufig) eingestellt. Diejenigen, die in verzichtbaren Bereichen arbeiten, können bei Bedarf die notwendige Produktion unterstützen.
In dieser Krise wird aber darüber hinaus unübersehbar, dass die Privatisierung des Gesundheitswesens ein grundfalscher Weg war, der zu unhaltbaren Zuständen geführt hat. Wir werden, dem Beispiel Spaniens folgend, alle Krankenhäuser und sonstigen Gesundheitseinrichtungen entschädigungslos in kommunale Hände überführen. Weiterhin führen wir, um der bestehenden Überlastung der dort Beschäftigten wirkungsvoll entgegenzutreten, die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und Angleichung der Löhne auf ein angemessenes, sehr viel höheres Niveau ein. So hoffen wir auch, die vielen Berufsflüchtlinge in diesem Bereich zurückzugewinnen, um eine menschenwürdige Pflege sicherzustellen.
Mit Hilfe dieser Maßnahmen möchten wir sicherstellen, dass Sie alle die medizinisch gebotenen Empfehlungen zur Verlangsamung der Ausbreitung dieser Erkrankung befolgen können. Notwendige Wege können Sie mit dem Taxi zurücklegen, die Kosten werden erstattet. Auf diese Weise werden die öffentlichen Verkehrsmittel wirksam entlastet und auch unter den jetzt gegebenen Umständen wieder benutzbar.
Zu guter letzt möchte ich allen Eltern, die mit ihren Kindern auf unabsehbare Zeit in häufig kleine und wenig schallisolierte Wohnungen eingesperrt sind, Unterstützung zusichern: Die öffentlichen Bibliotheken bieten einen Lieferservice für Bücher und Spiele an, das Fernsehprogramm wird tagsüber Beschäftigungsprogramme senden, und für absehbar trotzdem überforderte Eltern und Betreuungen wird ein telefonischer Beratungsdienst rund um die Uhr eingerichtet. Weitere Unterstützung wird von Fachmenschen entwickelt und in Kürze verfügbar gemacht.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld mit den bisher so unverantwortlich politisch Handelnden und hoffe, dass Sie uns in dieser Krise trotz allem neues Vertrauen entgegenbringen. Diese notwendige Kurskorrektur werden wir alle gemeinsam schaffen!»

Liebe Frau Bundeskanzlerin, nachdem Ihre Rede so schrecklich schief gegangen ist – mögen Sie bitte in Windeseile für die Verbreitung des richtigen Textes sorgen?

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