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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2020

Michael Löwy über Rosa Luxemburg
von John Will

Michael Löwy: Rosa Luxemburg. Der zündende Funke der Revolution. Hamburg: VSA, 2020. 14 S., 14,80 Euro

Die Zahl an Veröffentlichungen zu Rosa Luxemburg ist kaum zu überblicken. Nicht zuletzt durch ihr Wirken in der Novemberrevolution 1918 und ihre brutale Ermordung durch Soldaten der Freikorps im Januar 1919 ist die jüdisch-polnisch-deutsche Revolutionärin ein Fixstern im Kosmos der deutschen und internationalen Linken.
Allzu oft steht jedoch in der Literatur der biografische Aspekt im Vordergrund, während die Frage nach ihren theoretischen Leistungen seltener thematisiert wird. Bereits vor zwei Jahren auf französisch erschienen, hat nun die Rosa-Luxemburg-Stiftung be VSA die deutsche Übersetzung des Büchleins von Michael Löwy herausgegeben. Damit hat sie einen kleinen, aber wichtigen Schritt geleistet, das Ungleichgewicht zwischen biografischer «Ikonisierung» Luxemburgs und der notwendigen Wiederaneignung verschütteter, marxistischer Erkenntnisse zu berichtigen.
Der Soziologe Michael Löwy, dessen Werk einen weitgespannten Blick auf die revolutionären Theorien von u.a. Karl Marx, Che Guevara, Lucien Goldmann, Georg Lukács und Walter Benjamin wirft, setzt sich seit Jahrzehnten mit den politischen Ideen der KPD-Gründerin auseinander. Er strebt – zugleich in Sympathie wie auch in kritischer Distanz zu seinem Thema stehend – eine Aktualisierung der wichtigsten theoretischen Beiträge Luxemburgs für das marxistische Denken an. Zusammengestellt aus verschiedenen Aufsätzen und Artikeln, die über die Jahre entstanden sind, ergibt sich dennoch ein kohärentes Bild von ihren Auffassungen.
Löwy gibt einen detaillierten Einblick in die verschiedenen Themen ihrer Theorie. Er stellt ihr Verständnis von Demokratie im Verhältnis zu den bürgerlichen Institutionen, die sie einer erbarmungslosen Kritik unterzog, wie auch zur anzustrebenden sozialistischen Gesellschaft, die über den Weg der Massenaktion zu erreichen war, vor. Drei Einzelkapitel des Buches sind Leo Trotzki, Georg Lukács und dem rumänisch-französischen Historiker Georges Haupt gewidmet, sie verbinden die jeweiligen Intellektuellen mit der Protagonistin auf theoretischer und lebensgeschichtlicher Ebene.
Eine der interessantesten Beiträge des Buches behandelt den Fortschrittsgedanken. Auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie stehend, konnte sich Luxemburg zunächst von einigen Elementen des Marxismus der II.Internationale nicht lösen. So erwartete sie in ihrem Werk Sozialreform oder Revolution? den unvermeidlichen Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft – ein «sozialistischer Fatalismus», wie er auch von der zentralen Gestalt des marxistischen Zentrums, Karl Kautsky, geteilt wurde.
Die Katastrophe des Ersten Weltkrieges erschütterte jedoch ihre politischen Gewissheiten. Die folgenreiche Auseinandersetzung mit dem Versagen der SPD mündete 1915 in die Veröffentlichung Krise der Sozialdemokratie, die auch unter dem Namen Junius-Broschüre kursierte. Hier ist nach Ansicht von Löwy ein Bruch mit dem sozialdemokratischen Positivismus zu erkennen, der in der berühmten Losung «Sozialismus oder Barbarei» kulminiert. Nach seiner Auffassung habe sich Luxemburg damit eine kritische Perspektive erarbeitet, die zu einer offenen Geschichtsperspektive führt. Löwy arbeitet präzise heraus, dass nicht mehr das Walten eines abstrakten Geschichtsverlaufs, der unvermeidlich zum Sozialismus führt, im Mittelpunkt der Luxemburgschen Theorie steht, sondern die Auffassung, die jeweiligen «‹materiellen› und konkreten geschichtlichen Bedingungen bestimmten die jeweiligen Möglichkeiten».
Ein Thema, mit dem Rosa Luxemburg in der gängigen Interpretation selten assoziiert wird, ist ihre unnachgiebige Haltung gegen die Unterdrückung der kolonisierten Völker. Diese äußert sich nicht allein in ihrer praktischen Verurteilung des europäischen Imperialismus und Kolonialismus. Liest man ihre 1925 von Paul Levi herausgegebenen Arbeit Einführung in die Nationalökonomie, ist man zunächst erstaunt, dass den frühkommunistischen Kommunen wesentlich mehr Platz eingeräumt wird als der kapitalistischen Produktionsweise. Und auch in ihrem Hauptwerk, Die Akkumulation des Kapitals, vertritt Luxemburg eine Sichtweise, die auf die unbedingte Solidarität mit den Ausgebeuteten der Kolonialländer drängt. Nach Löwy habe Luxemburg bemerkenswert versucht, präkapitalistische Erfahrungen im kritischen Sinne in ein sozialistisches Projekt zu überführen.
Michael Löwy ist es gelungen, in einem schmalen Buch nicht allein das bewundernswerte Denken Luxemburgs zusammenzufassen. Ebenso hat er so manche verborgene Traditionslinie des kritischen Marxismus dem Vergessen entrissen. Auch wenn einige Texte bereits 40 Jahre oder älter sind, tut dies der Lektüre keinen Abbruch. Viel eher erweisen sie sich als erstaunlich aktuell.

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