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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2020

Streiks für besseren Schutz und 100 Prozent Lohn
von Angela Klein

Allgemeines Versammlungsverbot, Verbot, die «roten Zonen» zu verlassen – aber vor den Werkstoren hören die Schutzmaßnahmen auf. Italien macht vor, wie Ausnahmesituationen genutzt werden, um den Ausnahmezustand – d.h. die Einschränkung demokratischer Rechte – durchzusetzen, und wie Arbeiter sich dagegen wehren.

Italien ist in der EU das am meisten vom Coronavirus gebeutelte Land, hier verursacht die Epidemie die stärksten wirtschaftlichen Schäden, hier lässt sich auch derzeit am besten studieren, auf welche Weise die herrschenden Eliten die Seuche im Interesse des Kapitals verwalten.
Die Ausbreitung des Coronavirus hat das öffentliche Leben stillgelegt: Läden, Bars und Schulen sind geschlossen – mit Ausnahme von Lebensmittelläden, Apotheken, Tankstellen und einigen anderen, die Grenzen sind abgeriegelt. Die Zahl der Infizierten steigt.
Dafür blüht der Schwarzmarkt – und die Spekulation. Große und kleine Händler nutzen die Verknappung vor allem bei Schutzausrüstungen, um kräftig die Preise aufzuschlagen: Desinfektionsmittel werden bis zu 900 Prozent teurer, Mundschutz um mehr als 500 Prozent, in einem Fall ist sogar von 6000 Prozent die Rede. Die Italiener reden von «pizzo» (Spitze), den sie den Händlern zahlen müssten – «pizzo» ist die Bezeichnung für das Schutzgeld an die Mafia. Sie sind die Glücksritter der Seuche.
Die Regierung schickt solchen Händlern manchmal die Finanzpolizei auf den Hals: In der Provinz Bari soll es Durchsuchungen und Beschlagnahmungen bei Dutzenden von Firmen gegeben haben. 30000 Produkte im Wert von 220000 Euro wurden eingezogen. Die Anklage lautet auf Abzocke und Spekulation. Doch sorgt die Regierung weder für eine kostenlose Verteilung der elementarsten Schutzmittel, noch greift sie Niedriglöhnern, Armutsrentnerinnen und Erwerbslosen finanziell unter die Arme.

"Wie in allen Kriegssituationen"
Der staatliche Gesundheitsdienst trägt die gesamte Last der Versorgung der Bevölkerung – Auflagen, dass auch private Kliniken und Gesundheitseinrichtungen ihre Kapazitäten zur Verfügung zu stellen hätten, gibt es keine. Wie in anderen Ländern auch wurde in Italien in den vergangenen Jahrzehnten das Gesundheitswesen jedoch rigoros kaputtgespart. Die Ärzte befürchten nun einen Kollaps.
Ärztliche Leistungen werden bereits eingeschränkt – auf Kosten der Patienten und somit auf Kosten der Möglichkeiten, die Epidemie einzuschränken. Auf Anordnung der Regierung werden nicht mehr alle Menschen getestet, die sich in einer Umgebung aufgehalten haben, in der Ansteckungen registriert wurden.
Christian Salaroli, Anästhesist in einem Mailänder Krankenhaus, hat in einem Interview mit der Tageszeitung Corriere della Sera erklärt: «Wenn jemand zwischen 80 und 95 Jahre alt ist und große Atemprobleme hat, führen wir in der Regel die Behandlung nicht fort.» Auch Menschen, bei denen mehrere lebenswichtige Organe gleichzeitig vom Virus befallen sind, würden nicht weiterbehandelt. «Diese Personen haben statistisch gesehen keine Chancen, das kritische Stadium der Infektion zu überleben. Sie werden bereits als tot angesehen.» Und weiter: «Es wird nach Alter und Gesundheit entschieden. Wie in allen Kriegssituationen.»
Der Direktor der Anästhesie- und Wiederbelebungsabteilung sah sich genötigt, dem zu widersprechen: «Es ist nicht wahr, dass wir Patienten sterben lassen.»

Produktion und Profit müssen weitergehen!
Die Regierung hat angeordnet, zur Vermeidung sozialer Kontakte bestimmte Sicherheitsabstände zwischen Personen im öffentlichen Raum einzuhalten. Die Einschnitte für die Bevölkerung sind drastisch, u.a. hat die Regierung den Frauenstreik am 8. und 9.März verboten. Es gibt jedoch Unternehmen, die sich an diese Regeln nicht halten.
ArcelorMittal zum Beispiel. Weder in den Bussen noch in den Umkleideräumen wird der geforderte Sicherheitsabstand eingehalten, Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel fehlen, Lieferwagen passieren die Werkstore ohne Kontrollen. Während in großen Supermärkten und Einkaufszentren die Polizei über die Einhaltung der Bestimmungen wacht, hört der staatliche Gesundheitsschutz am Werkstor auf. Die Nachlässigkeit ist im süditalienischen Werk höher als im norditalienischen. Am 12.März sind die Arbeiter in Taranto deshalb in einen achtstündigen Streik getreten – mit Erfolg: Die Arbeit wurde in allen Abteilungen um ein Viertel zurückgefahren, die Belegschaftsdichte in manchen Schichten um über 40 Prozent. Es wurden mehr Werksbusse zur Verfügung gestellt. 300 Beschäftigte arbeiten von zu Hause aus.
Am 1.März hat die Regierung verfügt, dass in der roten Zone der Betrieb in Produktion, Handel, im Transportsektor und bei den Behörden nur noch dort aufrechterhalten wird, wo dies für die Daseinsvorsorge absolut notwendig ist. In der «roten Zone» fährt die Regierung Polizei und Armee auf, um ihre Abriegelung von der Außenwelt und Versammungsverbote aller Art durchzusetzen. Verstöße dagegen werden mit bis zu drei Monaten Gefängnis bestraft. Außerhalb der roten Zone sind die Einschränkungen viel lockerer.
Der Unternehmerverband Confindustria protestierte sofort und forderte, weiterhin freie Hand zur Fortsetzung der Produktion zu haben – dem hat die Regierung nachgegeben, ohne irgendwelche Bedingungen zu stellen. Am 14.März haben die drei großen gewerkschaftlichen Dachverbände mit der Confindustria ein Protokoll unterzeichnet, das den Unternehmensleitungen weitgehend freie Hand lässt, weil ihnen viele Ausnahmen vom Regierungsdekret gestattet werden. Hinzu kommt, dass viele Unternehmen die zusätzlichen Kosten auf die Beschäftigten abzuwälzen versuchen, indem sie sie entlassen oder ihnen Krankenurlaub, Elternzeit oder Urlaubstage anrechnen.

Widerstand, Streik…
Gegen diese Zustände hat sich in zahllosen Fabriken und Betrieben Widerstand formiert, unterstützt oder angeleitet von den Basisgewerkschaften, von denen es in Italien mehrere gibt. Die oppositionelle Gewerkschaftsströmung in der CGIL, sindacato un’altra cosa («Gewerkschaft ist was anderes»), fordert: «Zwei Dinge sind jetzt absolut notwendig:
– eine dringende und außerordentliche Investition in das öffentliche Gesundheitswesen, einschließlich der für den Staat kostenlosen Nutzung der privaten Gesundheitseinrichtungen, bei Androhung ihrer Beschlagnahmung;
– und die Schließung sämtlicher für die Daseinsvorsorge nicht unerlässlichen Betriebe [also auch außerhalb der roten Zone] bei gleichzeitiger Arbeitsplatzgarantie auch für Prekäre und Selbständige, und bei Weiterbezug der Löhne und Gehälter in voller Höhe. Denjenigen, die weiter beschäftigt werden, müssen angemessene Sicherheitsvorkehrungen garantiert werden und den Betrieben klare Vorgaben für den Umgang mit positiv getesteten oder Risikopersonen an die Hand gegeben werden.
Es ist weder verständlich noch hinnehmbar, dass die Bewegungsfreiheit der Individuen eingeschränkt wird, solch drastische Maßnahmen den Betrieben und nicht essenziellen Dienstleistern aber nicht auferlegt werden.»
Da die Regierung auf solche Stimmen aber nicht hört, greifen viele Belegschaften zur Selbsthilfe. Bei Fiat in Pomigliano im Großraum Neapel (besser gesagt: Ex-Fiat, heute FCA) haben sie kurzerhand das Werk stillgelegt – «bis zum 16.März, um der Geschäftsleitung die Möglichkeit zu geben, die Bestimmungen des Ministererlasses umzusetzen». Am Ende wurde die «vor­über­ge­hen­de Schließung» von den Gewerkschaften mehrheitlich unterstützt, es muss darum aber eine erhebliche Auseinandersetzung im Betrieb gegeben haben.
Die Unione sindacale di base (USB) listet auf ihrer Webseite seit dem 10.März Tag für Tag ein halbes bis ein Dutzend Betriebe vor allem in Mittel- und Süditalien auf, die die Arbeit niedergelegt haben, um Sicherheitsbestimmungen durchzusetzen.
Am 13.März vermeldete die unabhängige Basisgewerkschaft S.I.Cobas: In den Logistikbetrieben müssen die Beschäftigten ohne jeden Schutz weiterarbeiten: Fahrer, Lastenträger, Sortierer usw. Deren Arbeit wurde für «essenziell» erklärt, um den Warenfluss aufrechtzuerhalten. An ihrem Arbeitsplatz fehlen all die Mindestschutzmaßnahmen, die die Regierung verordnet hat: Möglichkeiten, engen Kontakt zu vermeiden, Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken, regelmäßige ärztliche Kontrolle … In zahlreichen Logistikbetrieben hat die Gewerkschaft deshalb zum Streik aufgerufen, Arbeitsniederlegungen gab es u.a. in Bologna, Genua (die Hafenarbeiter!), Neapel, Florenz…
Die Gewerkschaft fordert u.a., dass die von der Regierung vorgesehenen Schutzmaßnahmen auch im Betrieb eingehalten werden; das Recht für die Beschäftigten, bei voller Lohnfortzahlung zu Hause zu bleiben; das uneingeschränkte Recht auf gewerkschaftliche Versammlungsfreiheit:
«Wenn wir arbeiten dürfen, müssen wir uns auch versammeln können … Die Präventivquarantäne muss für alle gelten, auch für die Millionen Beschäftigten in den Fabriken, Logistikzentren, Geschäften und Häfen. Für die Sicherheit am Arbeitsplatz hat die Regierung noch nichts getan! Gleichzeit verbietet sie aber Streiks und gewerkschaftliche Initiativen im Namen des allgemeinen Versammlungsverbots! Wenn die Regierung auf diese Forderungen nicht eingeht, gibt es einen landesweiten Generalstreik!»
Dieser Forderung hat sich auch die USB angeschlossen.

…und Flucht
Und jetzt packen auch noch die Erntehelfer ihre Koffer.
Über ein Viertel der Landarbeiter (27 Prozent), die in Italien Gemüse und Früchte u.a. für den deutschen Markt pflücken, kommen aus dem Ausland – zusammen sind es 370000. Davon sind über 100000 Rumänen, gefolgt von 35000 Marokkanern und noch einmal sovielen Indern und Albanern. Mit Abstand (jeweils 10000–14000) folgen Saisonarbeiter aus dem Senegal, Polen, Tunesien, Bulgarien, Mazedonien und Pakistan. Da einige osteuropäische Länder frühzeitig ihre Grenzen dicht gemacht und den internationalen Bahn- und Fernbusverkehr eingestellt haben, haben viele Erntehelfer ihre Koffer gepackt, aus Furcht, nicht mehr nach Hause zu kommen.

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