Wir lagen vor Madagaskar…und hatten die Pest an Bord
von Klaus Engert
Die Quarantäne war schon in den Zeiten von Pest, Pocken und Cholera ein bewährtes Mittel der Seuchenbekämpfung. Heutzutage liegt man eher mit dem Kreuzfahrtschiff vor Yokohama fest und hat das Coronavirus auf Ober- und Zwischendeck.
Ob damit allerdings, ebenso wie bei den Massenquarantänemaßnahmen – zunächst in China und inzwischen weltweit –, in deren Rahmen ganze Städte, Regionen oder Länder abgeriegelt werden, die Pandemie zu stoppen ist, ist fraglich.
Zum Verständnis ein paar grundlegende Fakten:
Im Grunde weiß jeder seriöse Epidemiologe, dass im vorliegenden Fall die Ausbreitung der SARS-COVID-19-Epidemie dadurch allenfalls verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden kann. Das wird inzwischen auch offen zugegeben. Der Grund dafür ist relativ simpel: Nur ansteckende Krankheiten, die einen sehr hohen Manifestationsindex* haben, können erfolgversprechend mit Quarantäne bekämpft werden. Dieser Index beschreibt, welcher Prozentsatz der mit dem entsprechenden Erreger infizierten Menschen auch tatsächlich erkrankt. Bei den (inzwischen ausgerotteten) Pocken z.B. lag dieser bei fast 100 Prozent, also jeder, der mit dem Erreger in Kontakt kam, erkrankte und konnte infolgedessen auch dingfest gemacht werden. Außerdem war der Mensch der einzige Wirt für das Pockenvirus, sodass, nachdem der letzte Pockenpatient verstorben oder geheilt war, die Krankheit auch als ausgerottet gelten konnte.
Anders sieht es bei den meisten anderen Viruserkrankungen aus: Der Erreger der Kinderlähmung, das Poliovirus bspw., hat zwar einen hohen Kontagionsindex** von 98 Prozent (98 Prozent derer, die mit dem Virus in Kontakt kommen, infizieren sich), aber einen extrem niedrigen Manifestationsindex von nur 1 Prozent, das heißt, nur einer von 100 Infizierten erkrankt auch tatsächlich erkennbar, allerdings können alle anderen das Virus auch weitergeben, sind also ansteckend.
Beim aktuellen Virus sieht es so aus, dass bisher weder Sicheres über den Kontagions-, noch über den Manifestationsindex gesagt werden kann. Die anfänglichen Zahlen lagen gemäß kleineren derzeitigen Studien mit Sicherheit zu hoch, da ja Tests nur bei Personen mit Symptomen oder im näheren Umfeld vorgenommen wurden. Da man aber inzwischen weiß, daß etwa 80 Prozent der Infizierten keine oder nur leichte Symptome zeigen, schätzen verschiedene Autoren, dass insgesamt die angegebenen Fallzahlen um das Zehn- bis Zwanzigfache zu niedrig sind. Hinzu kommt, dass es in gewissen Ländern keine oder nur unzulängliche Testmöglichkeiten gibt und ein großer Teil der Bevölkerung keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung hat. Hier dürfte die Mehrzahl der Fälle gar nicht bekannt werden/geworden sein.
Eine wirkliche Ausrottung des Virus ist folglich nicht mit Quarantänemaßnahmen, sondern nur mit flächendeckenden Impfungen möglich – oder mit einem wirksamen Medikament, und das ist derzeit, wie bei den meisten Viruserkrankungen, nicht in Sicht.
Deshalb die Taktik der Verzögerung: Es handelt sich um einen Wettlauf zwischen dem sich ausbreitenden Virus und der Impfstoff- und Medikamentenindustrie. Und da wird fleißig investiert – garantieren doch sowohl ein Impfstoff wie auch ein wirksames antivirales Mittel exorbitante Profite. In mindestens zwanzig Laboratorien weltweit wird derzeit die Impfstoffentwicklung vorangetrieben, die ersten Tests mit möglicherweise wirksamen, antiviralen Substanzen (u.a. aus der HIV-Behandlung; aber auch Uraltmedikamente wie das Antimalariamittel Chloroquin wurden aus der Schublade geholt) sind bereits angelaufen.
Was für Probleme entstehen können, wenn man dabei die eigentlich üblichen Sicherheitsvorkehrungen mit dem Argument der Dringlichkeit außer acht lässt, haben wir übrigens vor gut zehn Jahren bei dem Hype um die sog. Schweinegrippe bereits kommentiert (siehe SoZ 9/2009): Unwirksame bis schädliche Medikamente, Impfstoffe mit kleinen Nebenwirkungen…
Der lange Hein war der erste…
…und der starb in Wuhan in China. Jede Pandemie kostet Leben, die entscheidende Frage im vorliegenden Fall ist wohlgemerkt nicht, ob sie zu verhindern gewesen wäre (war sie nicht, obwohl ganz Schlaue die chinesische Regierung für zu spätes Reagieren in Haftung nehmen wollen). Epidemien und Pandemien sind und waren seit jeher natürliche Phänomene, mit denen die Menschen auf die eine oder andere Art umgehen mussten. Die Frage ist eher die, ob die rasante Ausbreitungsgeschwindigkeit ebenso wie gewisse Schwierigkeiten bei der Bekämpfung sozusagen naturgegeben oder nicht eher auf die derzeitige Art zu leben und zu produzieren zurückzuführen sind.
In der Geschichte traten, wie eingangs erwähnt, periodisch epidemische Ausbrüche von Infektionskrankheiten auf. Größere Ausmaße nahmen sie immer dann an, wenn in der entsprechenden Periode ein hohes Ausmaß von Mobilität zu verzeichnen war und/oder die Krankheiten auf eine immungeschwächte Bevölkerung trafen. Zunächst einmal waren das in erster Linie Kriege – in Europa etwa der Dreißigjährige Krieg oder auf dem amerikanischen Kontinent die Invasion aus Europa, die bis dahin unbekannte Erkrankungen einschleppte, durch die dort ganze Völker ausgerottet wurden.
Ohne diese erhöhte Mobilität blieben manche Infektionserkrankungen trotz wiederholten Auftretens lokal oder regional begrenzt. Beispiele aus der neueren Vergangenheit sind die Ebolaerkrankung, die zunächst über lange Zeit auf ein relativ kleines Gebiet begrenzt war, oder die in der Endphase des Ersten Weltkriegs aufgetretene Spanische Grippe, die eine erheblich höhere Sterblichkeit aufwies als heute der SARS-COVID-19 (geschätzt 25–50 Millionen Tote bei einer damaligen Weltbevölkerung von 1,65 Milliarden). Von letzterer nimmt man inzwischen an, dass sie mit den amerikanischen Soldaten aus den USA eingeschleppt wurde.
Das derzeit grassierende Coronavirus hat sich allerdings nicht durch einen Krieg so rasant verbreitet, sondern durch die inzwischen verallgemeinerte Mobilität auf allen Ebenen. Und es ist deshalb trotz relativ geringer Sterblichkeit ( je mehr Menschen getestet werden, desto mehr werden die Zahlen nach unten korrigiert) so heimtückisch, weil sich erstens die Krankheitssymptome von leichteren Fällen einer Grippe (oder Malaria, dazu unten mehr) kaum unterscheiden lassen und zweitens, weil der größte Teil der Betroffenen keine oder nur leichte Symptome entwickelt. Bei den Pocken oder der Beulenpest war das anders – da konnte man die Erkrankten relativ gut erkennen.
Heute ist es die internationale Arbeitsmigration, gekoppelt mit dem Massentourismus, der es einem derartigen Erreger leicht macht, sich über den Globus zu verbreiten. Die durch die Konzentrationsprozesse im Rahmen der Kapitalverwertung einerseits erzwungene Mobilität, beschönigend Globalisierung genannt, gekoppelt mit der freiwilligen Mobilität, gemeinhin Urlaub genannt, bietet die besten Voraussetzungen für eine rasche Ausbreitung dieser (und anderer) Erkrankungen.
Herausgekommen ist im Rahmen der Pandemie allerdings auch, dass die Risiken und Nebenwirkungen des globalisierten Kapitals nicht nur in der Mobilität, sondern auch in der Konzentration der Produktion, auf der Jagd nach den billigsten Löhnen und den günstigsten Produktionsbedingungen, liegen. Der Mangel an Schutzausrüstung – 80 Prozent der entsprechenden Produkte werden in China hergestellt – ebenso wie z.B. der Einbruch der Versorgung mit bestimmten Arzneimitteln, die fast ausschließlich in der Region Wuhan produziert werden, zeigen, was ein Krankheitsausbruch in einem zunächst begrenzten geographischen Rahmen heute anrichten kann.
Wir lagen schon 14 Tage…
In den Ländern des globalen Südens hat es etwas länger gedauert, bis Wind in die Segel kam. In den letzten Tagen haben eine Reihe von Ländern in Afrika die Grenzen dicht gemacht. In Nigeria, mit etwa 200 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas, werden ab dem 23.3. die Schulen geschlossen. Merkwürdigerweise gibt es bisher aus diesen Ländern nur sehr geringe Fallzahlen – in Nigeria sind es 12 bestätigte Fälle von SARS-COVID-19 (Stand vom 20.3.).
Theoretisch kann das drei Gründe haben: Entweder es wird einfach nicht getestet (in Nigeria haben fünf relativ kleine Labore landesweit die entsprechende Ausrüstung), es wird gelogen, oder im besten, aber nicht sehr wahrscheinlichen Fall, das Virus ist doch etwas temperaturempfindlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass es bereits erheblich mehr Erkrankte gibt, die aber schlicht nicht unter Corona firmieren – Fieber, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen sind klassische Malariasymptome, und an Malaria sterben in Nigeria jeden Tag mehr Menschen als in Deutschland am Coronavirus bisher insgesamt gestorben sind. Und eine Totenschau gibt es auch nicht.
Quarantänemaßnahmen und Ausgangssperren wie in Europa sind in Ländern, in denen der große Teil der Bevölkerung von der Hand in den Mund lebt, schlicht nicht durchführbar – wer heute nichts auf der Straße verkauft, hat morgen nichts zu essen, und die hiesigen Regierungen machen keine Anstalten, entsprechende Hilfsprogramme aufzulegen, außer vielleicht – da sind sie sich mit ihren europäischen Kollegen einig – für notleidende Wirtschaftsbetriebe.
Man muss kein Prophet oder Epidemiologe sein, um zu prognostizieren, dass im Süden die Probleme gerade erst anfangen. Aber um die Malaria- und Tbc-Toten kümmert sich ja auch keiner, solange sie vor Madagaskar liegenbleiben…
P.S.: An der Schweizer Grenze wurden, wie in der Zeitung zu lesen stand, kürzlich vom deutschen Zoll Lastwagen mit Schutzmasken aufgehalten, weil die deutsche Regierung ein Ausfuhrverbot für derartige Artikel verhängt hat. Ob mit dieser Maßnahme Leben in Deutschland gerettet werden konnten (und in der Schweiz gefährdet), ist eher fraglich. Ein ebenso konsequentes Vorgehen gegen jegliche Waffenexporte allerdings würde mit Sicherheit erheblich positivere Wirkung zeigen…
Der Autor ist Arzt und arbeitet für ein medizinisches Zentrum in Abuja, der Hauptstadt von Nigeria. (Stand: 20.3.2020.)
* Der Manifestationsindex gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine mit einem Erreger infizierte Person manifest, also erkennbar erkrankt. Je kleiner der Index, umso mehr Infektionen verlaufen klinisch stumm.
** Der Kontagionsindex beschreibt jenen Anteil einer nichtimmunen Population, bei dem es nach Kontakt mit einem Krankheitserreger zu einer Infektion kommt. Dabei ist unerheblich, ob die Infektion auch zu einer Erkrankung führt.
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