Immer noch wird zuviel nichtnotwendige Produktion geleistet
von Violetta Bock
Die Straßen leer, der Himmel blau. Draußen scheint alles zu ruhen. Der Ernst der Lage ist verstanden. Die wirksamste Maßnahme ist, ein Treffen in Gruppen zu vermeiden. Kommunale Parlamente – ausgesetzt. Spielplätze – geschlossen. Gaststätten – zu. Doch hinter den Werkstoren toben Arbeit und Klassenkampf unbeeindruckt weiter.
In Ausnahmesituationen reden wir über den Alltag, wir kommen schneller ins Gespräch, schneller zu dem, was uns nahe geht – mit gebührendem Abstand von zwei Metern, besser noch online im Chat. Schnell geht es gerade auch um die Arbeit: die einen gekündigt, die anderen vor der Pleite, im Homeoffice mit Kindern, entspannt und freigestellt oder weiter im Büro, in dem nichts zu tun ist, während der Chef in der Zeitung posiert und appelliert, zu Hause zu bleiben.
Frech. Die einen schuften am Limit, andere arbeiten fast, als ob nichts wäre, sollen dafür aber in der Freizeit Abstand halten, als gäbe es Corona nur hinter der Stechuhr. Das Unsichtbare ist spürbar und verunsichert. Eingequetscht zwischen den Stühlen. Auf dem einen thront Corona und mahnt zu Abstand. Auf dem anderen der Chef, der einen nicht zu Hause bleiben lässt. Im öffentlichen Raum sind mehr als zwei zuviel, aber hinter den Toren, egal ob aus Glas oder Blech, wird weiter produziert, nebeneinander, aneinander.
Ein VWler berichtet, wie sich Azubis in der Kantine auf die Pelle rücken. Die Unruhe spürbar, alle nervös, aber versuchen nicht panisch zu wirken. Der Betriebsrat fordert Produktionsstopp, denn wo ist die Gefahr größer als unter Tausenden Beschäftigten? Ich schreibe mit Kollegen von Daimler, die hoffen, dass auch sie zu Hause bleiben können. Dann endlich kommt die Ankündigung des Stopps. Natürlich erst, wenn die Überstunden abgebaut sind, damit die Kurzarbeit auch greift.
Ein anderes Unternehmen schickt relativ früh zumindest die Azubis nach Hause. Eine gute Sache. Eine soziale Geste? Nein. Es wird gemunkelt, dass nicht der Schutz der Azubis der Grund war, sondern der Schutz des Betriebs vor ihnen. Die feiern am Wochenende und legen damit den Betrieb lahm. Und Fachkräfte finden sich nun mal nicht so schnell.
BMW, VW, Daimler kündigen Mitte März endlich an, einen Produktionsstopp einzulegen. Fürchtet der Vorstand, dass die sichtbare Unruhe in einigen Bereichen in eine kollektive Aktion umschlägt und auf andere Bereiche überspringt? Oder sind es dann doch die Lieferengpässe?
Bei anderen brummt es richtig. Krauss-Maffai Wegmann – der Parkplatz so voll wie vorm Edeka in den letzten Tagen vor der Ausgangssperre. Bei Amazon: «Wir erfahren nichts, nur ab und zu wird jemand vom Krankenwagen abgeholt.» Jemand aus der Baubranche erzählt, irritiert lächelnd, wie ein Holzlieferant zu ihnen meint: «Wir arbeiten weiter, bis zum letzten Atemzug.» Bei Corona ist das wörtlich. Es sind Hilfeschreie, die verhallen, aber sie gehen tief ins Ohr.
Reaktionen der Belegschaften
Ich bin im Homeoffice. Außer manches aus der solidarischen Nachbarschaftshilfe lässt sich vieles online erledigen, weniger ist es deswegen nicht, alles muss anders laufen. Doch diese Distanz, in Kombination mit der Dringlichkeit da draußen, zerreißt das Herz. Ich möchte laut rausschreien: Schließt endlich die Betriebe, lasst die Arbeit liegen. Auch wenn der Chef das nicht will, der sich nach seinem Skiurlaub in Ischgl ins Homeoffice zurückzieht und um 21 Uhr vielleicht auch mal zum Klatschen raus geht.
Macht, was ihr für richtig haltet. Leute, legt die Arbeit nieder, kommt erst nach Corona wieder! In Betrieben, in denen keine Regelung gefunden, keine Schutzmaßnahme eingehalten wird, die Arbeit jetzt nicht notwendig ist, wird der Kampf gegen Corona identisch mit dem Kampf gegen den Chef. In Italien gab es nach Streiks die Entscheidung, nichtessenzielle Unternehmen vorübergehend zu schließen. In der Schweiz fordert die Gewerkschaft Unia dasselbe und macht Druck, etwa in der Baubranche, wenn Schutzmaßnahmen nicht eingehalten werden. Bei Ford in Köln hat der Vertrauensleutekörper eine Onlinepetition zum «Corona-Kurzarbeitergeld» gestartet: «Jetzt für alle auf 80 bzw. 85 Prozent erhöhen!»
Während aber in Italien, Frankreich, USA, Spanien wilde Streiks zur Durchsetzung von Zielen führen, wird hier erstmal erwartungsvoll auf überforderte Betriebsräte und sich konsolidierende Gewerkschaftsbüros und Vorstände geschaut. Auf den Internetseiten der hiesigen Gewerkschaften erfährt man zu allererst, wie es rechtlich gerade aussieht, und das bleibt meist vage, widersprüchlich wie so vieles.
Ist das Recht für Zeiten von Corona gemacht? Sollte es das? Manche Chefs verneinen dies mit großer Selbstverständlichkeit und meinen damit, dass die Mitbestimmung jetzt nicht greifen kann. Manche Betriebsräte lassen ihr Mandat zum Teil ruhen, oder produzieren Betriebsvereinbarungen am Fließband, mal hört es sich ganz gut an, mal wird breit verzichtet. Die Behörden ahnden gerade nicht und verweisen auf Abmachungen im Betrieb oder mit dem Betriebsrat. Wo es die halt gibt. Auf den Schlachtfeldern des Marktes werden mal wieder die ArbeiterInnen geopfert.
Die versorgungskritischen Bereiche
Müssten jetzt nicht Frauen oder Familienangehörige einzeln vor Betrieben stehen, um das Aussetzen der derzeit nicht notwendigen Produktion zu fordern? So lange die männerdominierten Branchen der Industrie das Risiko der Verbreitung des Virus nicht mindern, wäre die Frauenbewegung da nicht nötiger denn je? Zum Schutz der Familien, der Frauen, die in versorgungskritischen Bereichen an ihr Limit gehen.
Denn auch das ist ein Ergebnis von Corona. Die Unsichtbaren werden sichtbar. All die prekär Beschäftigten, vor allem Frauen, die den Laden am Laufen halten. Frauen im Einzelhandel berichten, wie sie von Kunden bedrängt werden, viele berichten, wie sie beim Einkaufen nicht nur auf leere Regale, sondern auch auf weinende Kassiererinnen treffen. Busfahrer, die weiter dafür sorgen, dass Leute zur Arbeit kommen. Der Personalmangel ist so groß, dass zumindest keine Fahrkarten mehr verkauft werden und Zustieg nur noch an der Hintertür ist. Dort drängen sich die Leute dafür umso mehr. Pflegerinnen schreien auf. Seit Jahren wird das Gesundheitssystem heruntergewirtschaftet. Nun rächt es sich. Pflegerinnen auf Stationen posten Bilder unter dem Slogan: «Wir arbeiten für euch, bleibt ihr für uns zu Hause.»
Menschen in der Altenpflege, Handwerker, sie alle sind ab sofort offiziell systemrelevant. Doch als Dank gibt es bisher vor allem warme Worte. Man müsste meinen, die beste Zeit um Forderungen durchzusetzen. Doch in Zeiten von Corona fällt das Streiken in diesen Bereichen schwer.
Ich bin kein Fan von Generalstreikforderungen zu jeder Zeit. Doch wie wäre es, wenn zumindest diejenigen in den «nichtessenziellen» Betrieben sich dem Balkonapplaus während der Arbeitszeit für fünf Minuten anschließen, um damit jene zu unterstützen, die in der Dienstleistungsbranche das Überleben sicherstellen? Vielleicht eine naive Spinnerei. Aber manches hat sich in den letzten Tagen überschlagen. Corona macht auch das möglich.
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