Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2020

Zu einem Rückblick auf die VL und die 89er DDR-Revolution
von Erhard Weinholz*

Wer auf die Siebzig zugeht, sie vielleicht gar überschritten hat, sieht sich oft in der Pflicht, die eigene Sicht auf einst mitgestaltetes Geschehen gültig, endgültig zu formulieren. Vielleicht deshalb haben sich in letzter Zeit auch frühere Mitglieder der Initiative für eine Vereinigte Linke (VL) wieder eingehender mit deren Geschichte beschäftigt.

Ihre Einschätzungen unterscheiden sich dabei meines Erachtens mehr denn je – ein Grund, weiter über das Geschehen der Jahre 1989/90 zu reden, unter uns und mehr noch öffentlich. Ich beziehe mich im folgenden auf das Gespräch mit Bernd Gehrke in der Internet-SoZ 1/2020. Auf einen Nenner zu bringen, was ich daran problematisch finde, habe ich nicht versucht – allzu schnell steckt man andere in irgendwelche Schubladen.
Zunächst zum Neuen Forum, dessen Gründung Bernd als Schlag in die Magengrube bzw. gegen das Bemühen um eine Vereinigte Linke hinstellt. Die VL hatte, da stimme ich ihm zu, Voraussetzungen, zur Gesamtorganisation demokratischer SozialistInnen zu werden. Doch egal, warum daraus nichts geworden ist, der stark überwiegende Teil jener Linken, die in ihrer Art zur VL gepasst hätten, dort aber kaum oder gar nicht tätig wurden, war ja wohl nicht beim Forum zu finden, sondern in der PDS. Entsprechend höher war hier auch die Zahl der Doppelmitgliedschaften.
Zudem halte ich es für verfehlt, anderen, deren Konzept erheblich mehr Widerhall fand, deshalb die Schurkenrolle zuzuweisen. Richtig gut entwickelt hat sich keine der mit konkretem Programm angetretenen Bürgerbewegungen. Im Falle der VL aber haben ihre GründerInnen, zu denen auch Bernd gehört, selber dazu beigetragen. Mit Sätzen wie dem folgenden – gleich am Anfang des Gründungsaufrufs zu lesen –, war eben schlecht werben:
«Die Teilnehmer des Treffens berieten angesichts der wirtschaftlichen Situation und der sich entwickelnden politischen Krise in der DDR über die Notwendigkeit einer tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umgestaltung, die dafür notwendige Zusammenarbeit aller auf den Positionen des Sozialismus stehenden weltanschaulichen und politischen Kräfte in der DDR und die Notwendigkeit der Erarbeitung einer linken, sozialistischen Alternative im Geiste sozialistischer Demokratie und Freiheit.»
Manch anderes hat das Erscheinungsbild der VL vielleicht noch stärker beeinträchtigt, aber ich will es damit genug sein lassen. Fraglich ist zudem, ob man sich in den damals entstehenden Gruppen überhaupt das Ziel gesetzt hat, zu einer Groß-VL heranzuwachsen.

Streiken – wofür?
Zum zweiten: Die Vorstellungen von einem demokratischen Sozialismus, mit denen die DDR-Opposition im Herbst 1989 an der Spitze des Aufbruchs gestanden habe, hätten, so Bernd Gehrke, zur damaligen Stimmung der Bevölkerung gepasst. Gekippt sei die Sache Ende 1989, Anfang 1990, u.a. durch das geballte Auftreten alter Kader auf der Berliner Antifa-Demo im Januar 1990, das die Furcht vor einer Restauration geschürt und dem Antisozialismus Nahrung gegeben habe, sowie durch die Berichterstattung der Westpresse mit ihren immer neuen Meldungen, die DDR sei pleite, und schließlich die seit dem Mauerfall zunehmende soziale Unsicherheit. Massive soziale Perspektivlosigkeit sei die Folge gewesen. Zudem habe die Opposition nicht auf die basisdemokratische Selbstorganisation der Bevölkerung gesetzt und ihr somit keine politische Perspektive geboten.
Man sollte, so denke ich, davon ausgehen, dass das Bewusstsein großer Teile des Volkes im Frühherbst 1989 ein vielseitiges, widersprüchliches Ding war, in dem sich die Orientierung auf die Selbständigkeit der DDR, auf diese oder jene sozialistischen Ideale, auf Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Sehnsucht nach westlicher Warenfülle oft genug zusammenhanglos und ungeordnet mischten. Die Frage, welche Ziele Vorrang hatten und was daraus politisch und wirtschaftlich folgerte, wurde erst später dringlich. Man konnte auch den Fortbestand der DDR wollen, ohne für den demokratischen Sozialismus einzutreten.
Schaue ich mir die Losungen vom 4.November an, so finde ich viele Forderungen, die mit ihm vereinbar sind, aber nur wenige, die klar auf ihn Bezug nehmen. Das ließe sich auch als Ausdruck einer radikaldemokratischen Tendenz deuten, wie sie später im Verfassungsentwurf des Runden Tisches sichtbar wurde. Ganz gering nur war meines Wissens das Interesse an basisdemokratischer Selbstorganisation, ich sehe auch nicht, dass die Opposition hier mit einigem Fleiß erheblich mehr hätte erreichen können, folglich etwas sträflich versäumt hat.
Beim Neuen Forum hatten sich ca. 100000 Menschen eingetragen, doch mitgearbeitet haben in der größten Bürgerbewegung der DDR zu den besten Zeiten vielleicht 20000. Setze ich den Teil der Bevölkerung, der für so etwas am ehesten in Frage kam, mit zehn Millionen an, dann waren das 0,2 Prozent. In den Betrieben und Einrichtungen wurden zwar fast überall auf Meetings die Chefs zur Rede gestellt, der Aufbau selbstorganisierter Belegschaftsvertretungen hingegen kam nicht weit voran: Der von der VL-Betriebsgruppe Berlin im Februar 1990 veranstaltete erste Rätekongress, der Vertreter von siebzig Betrieben zusammengeführt hatte, war zugleich der letzte.
Bernd spricht im Zusammenhang mit dem Wandel des Massenbewusstseins von einem Umkippen der Stimmung hin zum Antisozialismus. Ich denke: Es hatte sich eine Weile zuvor schon bei vielen im Kopf etwas dieser Art in Bewegung gesetzt, im November, im Dezember, und am Ende längerer Ordnung und Klärung stand für sie fest, dass Konsum und klassische Bürgerrechte ihnen allemal wichtiger sind als DDR, Sozialismus und Selbstorganisation. Was Bernd als Perspektivverlust bezeichnet, war für sie in Wahrheit ein Gewinn – Gewinn der Aussicht, zu konsumieren wie im Westen. All jene hingegen, die weiterhin auf die DDR setzten, hat wohl vor allem etwas entmutigt, das er gar nicht erwähnt: die Massenflucht, gegen die niemand in der Opposition ein Rezept hatte. Sie war zumeist wirtschaftlich bedingt, doch auf die wirtschaftliche Lage geht er nirgends ein, was obendrein den irrigen Eindruck erweckt, das Land sei vom Westen kaputtgeredet worden.
Zuletzt noch zu seiner Ansicht, die Macht habe Ende 1989 auf der Straße gelegen, nur habe es die Opposition versäumt, sie aufzuheben. Doch wenn Modrow nun im Hauptstreitpunkt, der Stasi-Auflösung, schon bei Androhung von Streiks nachgegeben hätte? Und wenn man denn gestreikt hätte, wäre das Volk bereit gewesen, die Streikfolgen zu tragen? War die in der Einheitsfrage bereits zerstrittene Opposition überhaupt regierungsfähig? Und was, wenn man angefangen hätte, auch für die deutsche Einheit zu streiken? Wo sich solche Fragen häufen, kann man nicht sagen, die Opposition hätte mühelos die Macht erringen können.

* Der Autor war 1990 einer der beiden Mitarbeiter im Arbeitssekretariat des DDR-Sprecherrats der VL.

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