Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Bewegung 26. März 2020

«Nicht das antikapitalistische Programm entscheidet, sondern die Praxis»
von Renate Hürtgen

Das Scheitern eines Ansatzes für einen Sozialismus, der diesen Namen verdient, im Herbst 1989 beschäftigt weiterhin die AkteurInnen von damals.

Daraus ist auch für uns heute viel zu lernen, weshalb wir uns freuen, weitere Beiträge dazu, die sich zueinander kritisch verhalten, veröffentlichen zu können.
Hier also ein Beitrag von Renate Hürtgen.

Dreißig Jahre nach den revolutionären Umbrüchen im Herbst 1989 interessiert sich eine neue Generation aus den linken Bewegungen in einem bisher unbekannten Ausmaß für alles, was damals passierte. Naturgemäß steht im Mittelpunkt ihres Interesses die Rolle der Linken: Was haben sie gewollt und warum haben sie ihre Programmatik nicht durchsetzen können? Was lässt sich daraus für die gegenwärtigen Kämpfe lernen?
Mit einer solchen hohen Erwartung ist nicht oberflächlich umzugehen, sie verpflichtet zu einer ehrlichen historisch-kritischen Aufarbeitung der eigenen politischen Vergangenheit. Mit Bernd Gehrke hat einer der fünf Initiatoren eines Aufrufs zur Gründung der Initiative für eine Vereinigte Linke (IVL) im September 1989 in der SoZ ein Interview zum Thema gegeben, das – so würde ich es nennen – den Auftakt geben könnte, die Geschichte der Linken in der DDR, im Herbst 1989 und zu Beginn der 90er Jahre zu schreiben.
Dass die Vereinigte Linke derart im Zentrum aktueller Aufarbeitung steht, erklärt sich mit ihrem besonderen Politikverständnis. Denn, was die Initiatoren der Vereingten Linken von anderen Linken unterschied, und was sie für heutige Linke besonders interessant macht, ist, dass sie eine Sammlungsbewegung, eine «organisierte politische Bewegung einer breiten Linken» schaffen wollten.
Im September 1989, noch bevor die Böhlener Plattform, das Gründungsdokument der VL, das Licht der Öffentlichkeit erblickt hatte, wurde ich von einem der Initiatoren gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, diese Initiative zu unterstützen und ihrem Gründerkreis beizutreten. Ich entschied mich damals aber dafür, die Initiative für unabhängige Gewerkschaften (IUG) zu gründen und meine Energie darin zu legen, den erhofften «Sozialismus von unten» auf diese Weise zu stärken. Ich wollte meine Fähigkeiten in eine praktische Bewegung einzubringen, von der ich annahm, sie müsste auch in den Betrieben stattfinden, wenn ein Sturz des herrschenden Parteiregimes erfolgreich sein sollte. Das besagte Gespräch dar­über, an welcher Stelle jeder und jede seinen Platz findet, wenn es endlich losgehen würde, verlief selbstverständlich sachlich und achtungsvoll.
Am 4.November hatte Heiner Müller auf dem Alexanderplatz den Aufruf der IUG verlesen, und wenige Tage später begann die Arbeit. Neben uns gab es nicht nur die Vereinigte Linke, sondern auch das Neue Forum, die SDP/SPD, Umweltgruppen oder den Unabhängigen Frauenverband der DDR; in all diesen Gruppen oder neuen Initiativen waren auch linke FreundInnen von mir aktiv.
Für einen historisch eher sehr kurzen Augenblick waren wir alle Teil einer großen Bewegung, einer unglaublich breit aufgestellten DDR-Linken, die das gemeinsame Ziel verband, eine demokratische und sozialistische DDR schaffen zu wollen. Sie war sich zudem noch mit den Massen auf den Straßen und Plätzen einig darin, was jetzt zu tun sei: Die herrschenden Strukturen müssen weg, um einer ganz neuen, sozialistischen DDR «von unten» Platz zu machen.
Dieser Moment war so kurz, dass sich kaum noch daran erinnert wird. Denn nicht nur in der Vereinigten Linken, sondern in allen Gruppen – namentlich, wenn dort ein breites politisches Spektrum tätig war – zerstob die Gemeinsamkeit sehr rasch in alle Winde. Dieselben Erfahrungen machten auch die GründerInnen des Neuen Forum, wo sich zu ihrem Entsetzen ganze Landesverbände plötzlich einer marktwirtschaftlichen Perspektive verschrieben.
Als ich im Interview mit Bernd geschildert bekam, wie sich auf dem ersten großen Treffen der IVL Ende November – grade so, als würden Zentrifugalkräfte gewirkt haben – die unterschiedlichsten Interessensgruppen von «der Mitte» weg bewegten, die «Anarchos» in die eine, die potenziellen Parteigründer in die andere Richtung und dazwischen noch diverse Sonderbedürfnisse sich artikulierten, da fiel mir der Satz aus Heiner Müllers Artikel ein, den er nach seiner Rede am 4.November im Neuen Deutschland veröffentlichte:
«Was jetzt gebraucht wird, ist nicht Einheit, sondern die Ausformulierung der vorhandenen Differenzen, nicht Disziplin, sondern Widerspruch, nicht Schulterschluss, sondern Offenheit für die Bewegung der Widersprüche…»* Warum sollte, was hier allgemein auf die Situation im Land bezogen war, nicht auch für eine Linke gelten? Eine Linke, die ja tatsächlich zum ersten Mal in der Geschichte der DDR ihre unterschiedlichen Positionen politisch leben konnte?!

Das Gros stand außerhalb der VL
Im Interview von Bernd Gehrke gibt es eine Reihe von Anregungen, endlich aus der Binnenperspektive linker Erinnerungskultur auszusteigen und sich der eigenen Geschichte in der Art einer Draufsicht zu nähern. Darunter ist der aus meiner Sicht wichtigste Gedanke, dass die Vereinigte Linke 1989 Teil einer sehr viel breiteren linken oppositionellen Bewegung gewesen war und sich unter ihrem Dach lediglich ein kleine Gruppe von Linken gesammelt hatte. Das «Gros der DDR-Linken stand außerhalb der sich gründenden Vereinigten Linken», formuliert er im Interview.
Das kommt einer «kopernikanischen Wende» eines bisher gängigen linken Verständnisses gleich, welches sich dadurch auszeichnet, die jeweils eigene Richtung als das Nonplusultra linken Denkens und Handelns zu begreifen. Mit diesem Vorschlag von Bernd, der in seiner Konsequenz darauf hinausläuft, dass es auch außerhalb der Vereinigten Linken AntistalinistInnen in der DDR gab, solche, die in der DDR vielleicht kein «politbürokratisches System» gesehen haben, welches an seinen eigenen Maßstäben gescheitert ist, und dass es auch sehr viele Linke gab, die im Fernziel einer Räterepublik keine Alternative für die DDR gesehen haben.
Ich hebe diesen Gedanken darum so hervor, weil es meine feste Überzeugung ist, dass wir die Rolle der Linken im Herbst 1989 nur aufarbeiten und für die Gegenwart produktiv machen können, wenn wir begreifen, dass es unterschiedliche linke Ansätze gab, und dass die GründerInnen der VL eine von diesen Varianten personifizierten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Nicht um neue Mythen geht es, sondern um eine historisch-kritische Erklärung auch der jeweiligen Linkenpolitik. So wird im Interview gut nachvollzogen, warum die Vereinigte Linke den Versuch unternommen hat, eine Plattform gemeinsam mit Reformern aus der SED zu gründen. Immerhin war das im Herbst 1989 eine mehr als ungewöhnliche Allianz, für die Bernd aber, wie ich finde, ein paar interessante Begründungen liefert. Und wenn Bernd die Betriebspolitik der VL erläutert, dann ordnet er sie zum einen in die gesellschaftliche und betriebliche Dynamik von 1989/90 ein, zum anderen in das Spektrum der anderen «Angebote», wie sie im Neuen Forum, in der SDP/SPD und in der IUG entwickelt worden sind. Richtigerweise beschreibt er den betrieblichen Flügel der VL als eher schwach.
Ich hätte einiges am Interview mit Bernd anzumerken, manches scheint mir wenig überzeugend, gerne würde ich die berühmte «Machtfrage», wie sie in seinem Interview «gelöst» wird, hinterfragen wollen, auch ist mir zu oft vom «Scheitern» und «Versagen» die Rede, wo m.E. eine Analyse der Gründe angebrachter wäre.
Doch darüber lässt sich trefflich streiten, vorausgesetzt, die Vereinigte Linke wird – so wie in Bernd Gehrkes Interview – als gleichberechtigter Teil einer vielfältigen linken Bewegung im Herbst 1989 gesehen und nicht a priori über alle anderen gestellt.
Nicht das «radikal antikapitalistische Programm» entscheidet über die Bedeutung einer linken Strömung, sondern ihre Praxis. Das gilt damals wie heute.

*Heiner Müller: Plädoyer für den Widerspruch. In: Bernd Gehrke, Renate Hürtgen (Hrsg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Berlin 2001.

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