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Arbeitskämpfe 1. März 2020

Ver.di setzt in der Tarifrunde öffentlicher Dienst auf verkürzte Arbeitszeiten
von Tobias Michel*

Die Verkürzung der geschuldeten Arbeitszeit steht auf der Tagesordnung. Denn für den Herbst, wenn der Tarifvertrag im öffentlichen Dienst neu ausgehandelt wird, gilt dieser Regelungsgegenstand als gesetzt. In der für den TVöD hauptsächlich zuständigen Gewerkschaft Ver.di diskutieren regionale Konferenzen über die Forderungen.

Vor 35 Jahren gingen die Metaller voran. Das Ziel war eine 35-Stunden-Woche für alle. Und damals war ihre Gewerkschaft IG Metall anders als heute. Sie machte diesen Arbeitskampf zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Es ging nicht nur um ein paar zusätzliche Urlaubstage im Jahr. Die wöchentliche, besser noch die tägliche Schichtzeit sollte radikal verkürzt werden
Damals hatte sich über 15 Jahre hinweg die Arbeitslosigkeit mehr als vervierfacht. Heute liegt über 15 Jahre hinweg eine Halbierung hinter uns. Damals stand die Verteilung der Arbeit auf alle Hände im Mittelpunkt. Es ging um die Übernahme der Auszubildenden und um die gleiche Aufteilung der Familienarbeit. Heute droht – anders als etwa in der Autoindustrie – im öffentlichen Dienst, in Kindertagesstätten und Krankenhäusern keine massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen. Im Gegenteil – dort haben Arbeitgeber sich lange vor der Ausbildung neuer Kolleginnen gedrückt. Jetzt jammern sie über den «Fachkräftemangel». Kreißsäle und Stationen werden geschlossen, obwohl dies die Versorgung der Patienten gefährdet.

Individualisierte Bedarfe, individuelle Wünsche
Wenn Pflegeangebote fehlen, werden ersatzweise Kolleginnen in die Pflegeaufgaben ihrer Familien eingebunden. Nicht von ungefähr hat der Tarifvertrag der Metaller vor einem Jahr genau für diese Fälle eine individuelle Verkürzung der Arbeitszeit ermöglicht.
Über 35 Jahre hinweg reichten die Tarifparteien die Gestaltung der Arbeitszeit an die Betriebe weiter. Das Ergebnis ist fatal. Die Mehrzahl der Betriebsräte haben Ausweitungen der Arbeitszeit vereinbart oder stimmen Monat für Monat Überplanungen und Überstunden ungeprüft zu. Sie dienen ja den Interessen des eigenen Unternehmens. Erstaunlich ist dabei die Bedeutungslosigkeit der Schutzgesetze, der Tarifregeln und der Arbeitsverträge für die betriebliche Praxis.
Schlimmer, die Betriebsräte reichen, der Logik ihrer Gewerkschaft folgend, diese Entscheidungen an die einzelnen Kolleginnen und Kollegen durch. Sollen diese doch entscheiden, ob sie den Feierabend verschieben. Wenn jemand im Betrieb ausfällt, muss niemand am freien Tag einspringen. Wer dennoch zur Extraschicht erscheint, tut’s also freiwillig. Ganze OP-Mannschaften schrauben im Zuge von Bereitschaftsdiensten die wochendurchschnittliche Arbeitszeit tatsächlich weit über die 48-Stunden-Höchstgrenze hinaus hoch.
Es wundert also nicht wirklich, wenn nun bei den Diskussionskonferenzen der ganze aufgestaute Frust und Ärger aus den Ver.di-Mitgliedern herausbricht:
«Ich will mich wenigstens auf meinen Feierabend verlassen können.» – «Ich will für meine Überstunden wenigstens Freizeitausgleich.» – «Ich will für meine zusätzlichen Stunden aufsparen, damit, wenn ich müde bin, ich früher in Rente gehen kann.» – «Ich will ein Recht auf Altersteilzeit.»
Die Gewerkschaftssekretärinnen schreiben treu all diese Rückmeldungen mit. Nur wenigen fällt auf, dass all diese Forderungen schon lange als Ansprüche im Tarifvertrag verankert sind. Dort verstauben sie ungenutzt. Die Mitglieder kennen ihre Rechte nicht, ihren Betriebsräten sind sie oft egal, ihre Arbeitgeber entscheiden frei, was sie aktivieren oder versperren.

Warte nicht auf die Verhandlungen
Die gewerkschaftlichen Strategen kapitulieren vor den unterschiedlichen Bedrohungen und Konflikten in den Branchen, Betrieben und Generationen. Stattdessen deuten sie die Atomisierung und Überforderung ihrer Mitglieder in deren Wunsch nach noch mehr Individualisierung um. In einer breit verteilten, bunten Broschüre titeln sie – «mehr work? mehr life? mehr du! – wir schaffen dir optionen, damit du entscheiden kannst». Da werben sie für neue «Wahlmöglichkeiten, zum Beispiel zwischen mehr Geld oder mehr Zeit oder zwischen einem Zeitsparkonto und einem Zuschuss für Kinderbetreuung».
Tatsächlich wünschen sich die meisten, dass die belastenden Aufgaben an ihren Arbeitsplätzen auf mehr Hände verteilt werden. Sie wollen nicht mehr sechs oder gar sieben Schichten in einer Woche angeordnet bekommen. Sie wollen nicht mehr Stunden arbeiten, als sie vertraglich vereinbart haben. Doch solche Wünsche lassen sich nicht individuell erfüllen. Die ungenierten Übergriffe der Arbeitgeber und Vorgesetzten auf die Lebenszeit können solidarisch handelnde Teams gemeinsam zurückweisen.
Dazu muss niemand auf die Mobilisierungsaufrufe warten, die Ver.di zu den Verhandlungen am 1. und 19.September und am 22.Oktober verteilen will. Schon jetzt stehen Woche für Woche Entscheidungen für oder gegen Überstunden an. Da können sich Teams und Belegschaften gemeinsam im «Nein-Sagen» üben.
Schon jetzt werden Monat für Monat Bereitschaftsdienste angeordnet – weit über die zehnstündige Höchstarbeitszeit hinaus, fast immer fehlen die spätestens nach sechs Stunden Arbeit zu gewährenden Pausen. Solche Zumutungen können Arbeitgeber nicht rechtswirksam erzwingen.

* Tobias Michel klärt mit seiner Schichtplan-Fibel in Ver.di Konflikte um Arbeitszeiten auf.

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