Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2020

Infektions- und Gesundheitsschutz in Einklang mit anderen Grundrechten bringen
von Niema Movassat*

In Deutschland öffnen wieder Geschäfte, der „Lockdown“ wird gelockert. Zumindest für den Konsum. Doch die Einschränkung wichtiger Grundrechte, insbesondere der Versammlungsfreiheit, bleibt aufrecht erhalten. Damit zeigen Bundes- und Landesregierung: Das Wohl der Wirtschaft steht über allem, Grundrechte sind nachrangig.

Eine Szene im Deutschland des Notstandes: 400 Menschen waren am 5. April in Frankfurt am Main zusammengekommen. Sie wollten gegen die unhaltbaren Zustände im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos demonstrieren. Sie hielten 2,5 Meter Abstand voneinander, markiert durch rote Streifen auf dem Boden. Dennoch löste die Polizei mit Verweis auf die hessische Corona-Verordnung die Versammlung auf. In Berlin wurde sogar ein Demonstrations-Autokorso verboten. Bundesweit gelten Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen. Wer gegen sie verstößt, dem drohen Bußgelder von bis zu 25.000 Euro.

Nie waren Grundrechte so massiv beschnitten

Und es ist nicht nur die Versammlungsfreiheit, die aufgehoben ist. Auch die persönliche Freiheit, die Fortbewegungsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Freizügigkeit sind weitgehend aufgehoben. Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik waren so viele Grundrechte so radikal beschnitten, wie es derzeit der Fall ist. Viele Menschen stimmen den Grundrechtseinschränkungen zu und rufen nach dem autoritären Staat, der durchgreift. Doch ist der Ruf nach dem Staat, der Grundrechte ohne jedes Maß einschränkt, der Ruf nach dem Staat, der jenseits des Grundgesetzes und damit demokratischer Strukturen liegt. Autoritäre Argumentationsmuster und „starke Männer“ wie Markus Söder genießen Hochkonjunktor.

Grundrechte müssen stets erkämpft werden

Eines muss jedem klar sein: Einmal eingeschränkte Bürger*innenrechte lassen sich nicht ohne weiteres wiederherstellen. Sie sind das Ergebnis von jahrzehntelangen Kämpfen der Bevölkerung gegen den Obrigkeitsstaat. Was zunächst als vorläufige Notstandsregelung angekündigt wird, kann durch die Hintertür – wenn auch nur zum Teil - zum Dauerzustand werden. Deshalb gilt es wachsam zu sein. Denn wie weit Einschränkungen gehen können, zeigt sich vor allem im Ausland. So setzt Spanien die Armee ein und lässt die Bürger*innen per Drohnen überwachsen. Israel hat seinem Geheimdienst Zugriff auf sämtliche Ortungsdaten der Mobiltelefone gewährt, um die Ausgangssperre durchzusetzen. Alle Bewegungen der Bürger*innen werden lückenlos überwacht.

Gesundheitskrise wird Demokratiekrise

Dass Grundrechte eingeschränkt werden, ist erst Mal nichts ungewöhnliches. Doch verstoßen Kontaktsperren, Ausgangsbeschränkungen und Versammlungsverbote wohl gegen die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts. Diese besagt, dass Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung von den durch Wahlen legitimierten Parlamenten getroffen werden müssen. Es handelt sich um ein Gewaltenteilungsprinzip zum Schutz der Demokratie, um zu verhindern, dass Regierungen zu mächtig werden. Die Corona-Verordnungen enthalten Entscheidungen von sehr grundsätzlicher Bedeutung. Sie wurden aber nicht von den Landesparlamenten, sondern durch die Landesregierungen erlassen. Vor allem bei der Versammlungsfreiheit ist anzumerken, dass sie in ständiger Rechtsprechung vom Bundesverfassungsgericht als „konstituierend“ für die Demokratie bewertet wird. Daher kann sie nicht mal eben mit einem Fingerschnips der Landesregierungen außer Kraft gesetzt werden. Die Durchbrechung der Gewaltenteilung macht aus der Gesundheitskrise eine Demokratiekrise. Wir erleben den Wandel von einer parlamentarischen Demokratie hin zu einer Exekutivherrschaft.

Zudem existiert für die massiven Grundrechtseinschränkungen nicht einmal eine Rechtsgrundlage, die aber Voraussetzung für Grundrechtseingriffe ist. Grundsätzlich gilt, dass für weitreichende Maßnahme wie pauschale Versammlungsverbote eine spezielle Rechtsgrundlage erforderlich ist. Für weniger intensive Maßnahmen reicht eine sogenannte Generalklausel. Eine Generalklausel ist eine allgemeine Regelung für staatliche Eingriffe, die üblicherweise für nicht sehr starke Grundrechtseingriffe herangezogen werden kann. Es gilt also der Grundsatz: je tiefgreifender der Grundrechtseingriff, desto höhere Anforderungen an die Rechtsgrundlage. Bei §§ 32 und 28 Infektionsschutzgesetz, welche Rechtsgrundlage für die Versammlungsverbote, Kontaktverbote und Co. sind, handelt sich es lediglich um Generalklauseln. Hierauf gestützt weitreichende, grundrechtsintensive Maßnahmen zu erlassen, ist aus rechtlicher Sicht äußerst fragwürdig.

Maßnahmen teils nicht erforderlich

Selbst wenn man über fehlende Rechtsgrundlagen hinwegsieht, sind die Maßnahmen in Deutschland jedenfalls teilweise nicht erforderlich. So ist es nicht verhältnismäßig, Versammlungen zu verbieten, wenn durch Auflagen wie Mindestabstände und Höchstteilnehmer*innenanzahl der Infektionsschutz gewährleistet werden kann. Doch die Exekutive kennt kein Maß mehr: So vertrat die Münchener Polizei sogar die Auffassung, dass das Lesen eines Buches auf einer Parkbank verboten sei. Und auch das Land Berlin führte zunächst ein Sitzverbot ein, hob es aber nach Druck auch der LINKEN wieder auf.

In einigen Verordnungen besteht darüber hinaus ein „Besuchsverbot“, während der Antritt zur Werkshalle, mit unter Umständen hunderten anwesenden Kolleg*innen, weiterhin erlaubt ist. Es ist auch gewollt, nun in den Innenstädten wieder einkaufen zu gehen. Auch die Fahrt dorthin, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, die ihre Taktungen wegen des geringeren Fahrgastaufkommens verringert haben, damit es in den Verkehrsmitteln weiterhin kuschelig und eng bleibt, ist trotz Coronavirus erlaubt. Aber der soziale Kontakt, in Form des Besuches von Freund*innen und Bekannten, ist teilweise verboten. Dabei gibt man doch gerade auf die Menschen, die einen nahestehen am ehesten acht und ist dazu geneigt, freiwillig Mindestabstände einzuhalten. Zudem dürfte die Wahrscheinlichkeit, sich im Betrieb anzustecken, deutlich höher sein, als etwa bei einem Picknick mit zwei Freunden im Park.

Ausgangssperre trifft Arme, Frauen und an den Rand gedrängte Gruppen am schärfsten

Besonders unverhältnismäßig und ungerecht sind die Maßnahmen für diejenigen, die in prekären Verhältnissen leben. Für eine Familie auf begrenztem Raum im Erdgeschoss eines Hinterhofes sind die Ausgangsbeschränkungen deutlich heftiger und ungesünder als für Reiche, die in einer Villa am Starnberger See mit 1.000 Quadratmeter Garten leben. Für diejenigen, die in besagter Hinterhofwohnung, die in einer Sammelunterkunft (Geflüchtete) oder in anderen beengten Verhältnissen leben, ist die Möglichkeit nach draußen zu kommen und Kontakt zur Außenwelt zu haben nichts, auf das verzichtet werden kann. Auch für die Ärmsten, die überhaupt keine Wohnung haben oder die illegalisiert leben, sind die weitgehenden - bußgeldbewehrten - Ausgangsbeschränkungen und die entsprechenden Kontrollen ihrer, eine existenzielle Bedrohung. Bußgelder und damit Verstöße können sich schließlich einige leisten, andere nicht.

Eine erzwungene häusliche Isolation hat beträchtliche Nebenwirkungen. Bei alleinstehenden, älteren oder einsamen Menschen können jegliche soziale Kontakte wegbrechen. Studien zu früheren Wirtschaftskrisen haben gezeigt, dass Zukunftsängste die Suizidraten und exzessiven Alkoholkonsum massiv ansteigen lassen. Dieser Effekt könnte sich verstärken, wenn Menschen in dieser Situation in die Einsamkeit gezwungen werden. Zudem ist anzunehmen, dass die innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen und Kinder stark zunehmen wird.

Alternative Maßnahmen

Wie könnte der Infektions- und damit der Gesundheitsschutz in Einklang mit anderen Grundrechten gebracht werden? Es gibt alternative Maßnahmen, die die Gesundheit der Bürger*innen schützen und zugleich weniger stark in Grundrechte eingreifen. Dazu gehört etwa ein konsequentes Verbot von Menschenansammlungen und natürlich, wie vorhin dargestellt, Versammlungen unter Auflagen zuzulassen. Eine Forderung, welche in einem kapitalistischen Staat nicht populär ist, ist die zumindest zeitweisen Schließung von Betrieben, die keine lebenswichtigen Güter produzieren oder essentielle Dienstleistungen erbringen. Das alles natürlich bei voller Lohnfortzahlung für die Beschäftigen. Aufgehoben gehören dagegen Verbote, die eigene Wohnung zu verlassen (Ausgangsbeschränkungen) und zu strikte Kontaktsperren. Zudem müssen Bußgeldandrohungen strikt sozial ausgestaltet werden und für Bagatellverstöße darf es nur Verwarnungen ohne Geldbuße geben. Daneben braucht es eine drastische Ausweitung der Testkapazitäten auf COVID-19 sowie eine konsequente Verfolgung der Quarantäne-Anordnungen bei Infizierten und der Nachverfolgung ihrer Kontaktpersonen. Dazu müssen örtliche Gesundheitsämter gestärkt werden. Schließlich müssen die Arbeitsbedingungen für medizinisches Personal deutlich verbessert werden, womit auch Anreize für nicht tätige, aber ausgebildete Pfleger*innen und Pfleger, gesetzt wären, um das Gesundheitssystem personell zu stärken.

*Niema Movassat ist verfassungspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.

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