Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
Arbeitswelt 22. April 2020

Corona spitzt zu, woran das Verkehrssystem krankt
von Violetta Bock

In diesem Jahr steht bundesweit die Tarifrunde Nahverkehr mit den kommunalen Arbeitgebern an, damit bietet sich eine einzigartige Chance, soziale und ökologische Fragen gemeinsam zu thematisieren: Arbeit und Mobilität, Klima und Klasse.


Noch im Februar trafen sich Fridays for Future und Vertrauensleute bundesweit. Ende März wollten die Tarifkommissionen offiziell ihre Forderungen der Öffentlichkeit präsentieren. Doch stattdessen kam – Corona.
Ver.di verkündete in Abstimmung mit den Tarifkommissionen, dass die Tarifkampagne #tvn2020 erstmal ausgesetzt wird. Dabei spitzt Corona die Lage weiter zu. Wie im Brennglas wird deutlich, woran das Verkehrssystem krankt.

Die seltene Ware Arbeitskraft
Seit den 90er Jahren haben Liberalisierung und Wettbewerbsorientierung im Nahverkehr Einzug gehalten. In den letzten zwanzig Jahren sind die Fahrgastzahlen um 24 Prozent gestiegen und die Beschäftigtenzahlen um 18 Prozent gesunken. Das Ergebnis: schon der Normalzustand führt zu einer überdurchschnittlichen Krankenquote, zu Belastungen und damit Personalmangel. Jetzt, in Zeiten der Pandemie fallen einige der Beschäftigten selbst unter die Risikogruppe. Immerhin sind 40 Prozent der Beschäftigten über 50 Jahre alt, d.h. 2030 werden Zehntausende Beschäftigte fehlen.
Nun sind die ArbeiterInnen in den Verkehrsbetrieben noch wertvoller. Inzwischen wurden in den meisten Verkehrsbetrieben Schutzmaßnahmen gegen eine Ansteckung ergriffen, wie es der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und Ver.di gemeinsam gefordert haben. Einstieg nur noch hinten, kein Fahrtkartenverkauf im Bus, regelmäßige Reinigung, soweit wie möglich werden große Busse eingesetzt…
Wo das nicht von allein passierte, wie etwa in Remscheid, haben Vertrauensleute nachgeholfen. Dort gab es Ende März zuerst nur Flatterband zum Schutz der Fahrer. Das Problem: Davon lassen sich nicht alle Fahrgäste abhalten und das vordere Fenster sorgt durch den Unterdruck nicht für Durchlüftung.
Mit einer Unterschriftenliste forderten sie daher kurzerhand die vollständige Abschirmung der Fahrer durch eine Folie. Innerhalb einer Woche unterschrieben über 90 der etwa 130 Fahrer­Innen. Ver.di übergab die Petition an den Arbeitgeber und drei Tage später war der erste Bus umgerüstet.

Knappe Finanzierung
Die Finanzierung des ÖPNV ist ein Kernthema der Tarifrunde. Dessen Kosten schultern vor allem die Kommunen. Für eine Verkehrswende wären mehr FahrerInnen mit besseren Arbeitsbedingungen notwendig, ein Ausbau des ÖPNV und günstigere Tickets bis hin zum Nulltarif. In der Vergangenheit wurden diese drei Elemente oft gegeneinander ausgespielt.
Zu 50 Prozent finanziert sich der ÖPNV über Fahrgeldeinnahmen. Und auch hier offenbart Corona wie wackelig diese Konstruktion ist. Durch die Pandemie sind die Einnahmen um 60–90 Prozent eingebrochen und noch ist unklar, wer die Kosten übernimmt. Die Mittel aus dem Länderfinanzausgleich wurden zum Teil vorzeitig ausgeschüttet, aber im Krisenpaket der Bundesregierung kommt der ÖPNV nicht vor. Ver.di fordert daher ein Notfallprogramm. Schnelle Ausgleichszahlungen sind notwendig und dürfen nicht allein den Kommunen aufgebürdet werden (siehe auch Seite 9).
«Die öffentliche Mobilität ist in akuter Gefahr», heißt es in einer Pressemitteilung von Ver.di. Wäre das also der beste Zeitpunkt die Tarifrunde durchzuziehen? Ver.di und die Tarifkommissionen haben sich dagegen entschieden.

«Wenn wir streiken, streiken wir richtig»
«Im Moment wäre Streik kein geeignetes Druckmittel. Es wäre in so einer Krise ja auch verrückt, als Gewerkschaft einerseits die umfassende Versorgung der Bevölkerung zu fordern und sie dann andererseits an so wichtiger Stelle zu unterbrechen. Wir wollen doch deutlich machen, wie wichtig der ÖPNV für Menschen ist, die z.B. im Gesundheitswesen oder im Handel arbeiten und auch alle anderen, die auf ihn angewiesen sind. Zudem ist es schwierig, öffentliche Aktionen durchzuführen. Denn wenn wir streiken, streiken wir richtig», erklärt Mira Ball, Leiterin der Fachgruppe Busse und Bahnen bei Ver.di im Fachbereich Verkehr.
«Wir verfolgen im Moment daher den Ansatz, eine Diskussion darüber zu führen, dass auch der ÖPNV zu den systemrelevanten Bereichen gehört und dass die Krise als Chance für eine sozial-ökologische Transformation und eine Verkehrswende genutzt werden muss. Es geht auch darum, daraus zu lernen, was wir in der Krise 2007/2008 nicht geschafft haben. Die Frage ist doch, wer für diese Krise zahlen wird. Deshalb müssen wir auch die Finanzierungsfrage stellen und die Zusammenhänge deutlich machen, die sich durch die Einführung des Wettbewerbs ergeben haben, nicht nur im ÖPNV. Wir dokumentieren daher jetzt alles, was wir erleben. Und streikfähig sind wir auch danach noch.»
Gerade weil der ÖPNV so wichtig ist, müssen sich die Bedingungen verbessern und kollektive Wege gefunden werden. Sonst wird weiterhin der individuelle Ausweg gewählt und der Personalmangel steigt an. Die Bedingungen können jedoch schnell andere sein, wenn es wieder heißen sollte, jetzt sind die Kassen leer. Die Wirtschaftskrise wird schnell vergessen lassen, welche Helden des Alltags durch Selbstlosigkeit gerade den Laden am Laufen halten.
Gerade in den systemrelevanten Bereichen bleibt die Herausforderung bestehen, Kampfformen für die Zeit der Pandemie zu finden – gerade weil sie gesellschaftlich relevant sind. Dabei sind alle gefordert, die sich in den letzten Monaten für den TV-N warmgelaufen haben, auch im Sinne der Klimagerechtigkeit. Die Aktiven der Pflegebewegung machen es gerade vor.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.