Angst vor neuen Unruhen
von Bernard Schmid
Das nennt man «Sinn für Prioritäten haben»: Mitten in der Gesundheitskrise und während die Zahl der KurzarbeiterInnen in Frankreich neun Millionen erreicht, hat die amtierende Arbeitsministerin Muriel Pénicaud augenscheinlich nichts Wichtigeres zu tun, als disziplinarrechtliche Schritte gegen einen unbotmäßige Arbeitsinspektor einzuleiten.
Die «Arbeitsinspektion» in Frankreich ist eine Art Gewerbeaufsicht, die über die Einhaltung bestehender Arbeitsschutzvorschriften, Arbeitsgesetze und auch geltender Kollektivverträge durch die Unternehmen zu wachen hat.
Ein Bediensteter des Gewerbeaufsichtsamts im ostfranzösischen Département Marne, Anthony Smith, nahm es mit diesen Aufgaben in ihren Augen zu genau. Deswegen droht ihm jetzt die Kündigung (!), vorläufig bleibt er vom Dienst suspendiert. Das CGT-Mitglied hatte sich «erdreistet», in dienstlichen Schreiben mehrere Arbeitgeber auf die einzuhaltenden Schutzvorschriften gegen das Risiko einer Kontamination mit dem neuartigen Coronavirus hinzuweisen. Darüber hinaus hatte er ein Gerichtsverfahren im Weg der – auf eine einstweilige Verfügung abzielenden – Eilklage gegen einen Arbeitgeber der Heimpflege angestrengt. Damit sollte dieser gezwungen werden, seinen Beschäftigten Schutzmaterial wie etwa Atemmasken zur Verfügung zu stellen, nachdem Angestellte in dem Betrieb bereits an Covid-19 erkankt waren.
Vier Branchengewerkschaften, die beim Personal der Arbeitsinspektion vertreten sind (CGT, SUD, FSU und CNT) rufen nun gemeinsam gegen die Kündigung die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) an.
Auch hier: Krankenhausmisere
«Der Tag danach» beunruhigt unterdessen die französische Polizei und die Nachrichtendienste. Gemeint ist die Zeit unmittelbar nach der Aufhebung der derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen.
Laut einem Strategiepapier des Inlandsgeheimdiensts, das am Osterwochenende von der Boulevardzeitung Le Parisien ausführlich zitiert wurde – die Informationen wurden von vielen anderen bürgerlichen Medien übernommen – fürchtet dieser ein Wiederaufflammen der sozialen Unruhen. Auszüge aus dem Dokument geistern seitdem durch bürgerliche Medien ebenso wie durch linke WhatsApp-Foren.
Vorläufig scheint die Faktenlage allerdings noch vergleichsweise dünn zu sein. Die Zitate des Parisien basieren zunächst auf der Auswertung von Onlinemedien mit relativ geringer Reichweite in westfranzösischen Städten wie Nantes, Rennes und Rouen. Diese sind mehrheitlich an der Schnittstelle zwischen den Gelbwestenprotesten aus den Jahren 2018/19 und der autonomen Szene angesiedelt und beschwören ohnehin immer die Aufstandsperspektive, nicht nur aus konkreten Anlässen. Darüber hinaus spricht das Strategiepapier allerdings (und hier wird es handfester) von der Befürchtung, der Unmut der «Gelbwesten» – besser noch hätte man wahrscheinlich den Unmut der Protestierenden gegen die Rentenreform im Winter 2019/20 angeführt – könnte sich mit dem des Personals im Gesundheitswesens zusammenballen.
Letzteres streikte in mehreren Wellen ein Jahr lang, seit dem März 2019 (beginnend im Pariser Krankenhaus Hôpital Saint-Antoine) und bis zum Beginn der Corona-Pandemie – und zwar genau dagegen, dass die aufeinander folgenden Regierungen in Paris das Gesundheitswesen kaputt sparten. Frankreich wies vor dem Beginn der Coronakrise gerade noch 5000 Intensivbetten auf, die inzwischen in der akuten Krise auf das Doppelte aufgestockt werden – in Deutschland waren es zu Krisenbeginn 28000, mittlerweile 40000.
Zugeständnisse von Regierungsseite gab es zunächst keine, abgesehen von einer Einmalprämie von rund 80 Euro für das endlose überarbeitete Personal, die eher mit Spott denn mit Anerkennung bedacht wurde. Vor dem Ausbruch der Pandemie hatte das Krankenhauspersonal nur begrenzte Mittel zur Durchsetzung seiner Forderungen, da seinen Arbeitskämpfen aufgrund der Patientenbindung Grenzen gesetzt sind und es zur Aufrechterhaltung der Versorgung unter Strafandrohung dienstverpflichtet werden kann. Bei den Demonstrationen gegen die Rentenreform floss der Unmut im Gesundheitswesen allerdings als wichtiger Faktor mit ein. Dieses heiße Eisen bleibt für die Regierung auch künftig schwer zu handhaben.
Besorgniserregend bleibt zudem die Lage in mehreren französischen «Übersee»gebieten, wo die soziologische Zusammensetzung der Bevölkerung und eine Kombination aus Wohnverhältnissen und hohen Außentemperaturen das von der «Metropole» (d.h. Festlandfrankreich) übernommene Modell der Ausgangsbeschränkungen das Leben extrem erschweren. Vor allem auf der Insel Mayotte im Indischen Ozean (sie ist Teil des Komoren-Archipels und seit 2009 das «101.Französische Département») ist der Anteil an Beschäftigten im «informellen Sektor» sehr hoch. Die Verhältnisse in den einzelnen französischen «Überseebezirken» und «Überseeterritorien» (in der Karibik, im Nordatlantik, im Indischen Ozean, im Westpazifik) sind durchaus unterschiedlich. Doch vor allem auf Mayotte sowie in Französisch-Guyana droht Teilen der Bevölkerung nunmehr schlichtweg Hunger.
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