Vom Notstand zum Ausnahmezustand
von Shir Hever
In Israel herrscht seit 1948 offiziell Notstand. Als die Corona-Krise begann, ging die Regierung sogar noch weiter. Die israelische Geheimpolizei, die Shin-Bet, war befugt, die Handys der gesamten Bevölkerung zu überwachen, um ständig über den Aufenthaltsort jeder Person informiert zu sein.
Angeblich war dies notwendig, um die Ausbreitung der Covid-19-Infektionen zu verfolgen, aber ohne entsprechende Überwachung können die Daten auch zur Verfolgung Andersdenkender verwendet werden.
Netanyahu kündigte die Schließung der Gerichte an – in eben dem Moment, als sein eigener Prozess wegen Korruption beginnen sollte. Er ermächtigte die Polizei, Personen festzunehmen, die gegen die Ausgangssperre verstoßen, insbesondere im Rahmen von politischen Demonstrationen. «Das Coronavirus tötet nicht immer Demokratien, aber Israel war vorher schon krank», sagte Chen Liberman, eine israelische Journalistin.
Tausende Israelis schreiben und sprechen jetzt über Carl Schmitt und seinen Begriff vom «Ausnahmezustand», der Regierungen in Krisenzeiten unbegrenzte Macht verleiht, und auch über das neuere Konzept der «Schockdoktrin», das von Naomi Klein entwickelt wurde.
Besatzung und Quarantäne
Unter den Palästinensern unter israelischer Besatzung verbreitet Covid-19 nicht nur Angst, sondern auch Witze. Gesperrte Straßen? Quarantäne? Ausgangssperre? Jetzt bekommen die Israelis einen kleinen Geschmack davon bekommen, was jeder Palästinenser nur allzu gut kennt. Abgesehen von den Witzen ist die Kombination von Besatzung und Pandemie für die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen jedoch eine besonders schwierige Herausforderung.
Die palästinensische Regierung ist fast bankrott, nachdem die israelische Regierung einseitig Millionen Euro aus Steuermitteln konfisziert hat. Die israelische Regierung lehnte die dringende Bitte der palästinensischen Regierung ab, einen Teil dieser Gelder freizugeben, um Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung der Krankheit zu finanzieren.
Es scheint, dass die israelische Regierung nicht versteht, dass es auch im israelischen Interesse ist, die Ausbreitung von Covid-19 in den besetzten palästinensischen Gebieten zu kontrollieren. Die Infektion kennt keine Nationalität und kann sich auch auf israelischem Gebiet ausbreiten. Dennoch haben israelische Streitkräfte Baumaterialien beschlagnahmt, die für den Bau einer Klinik zur Untersuchung und Behandlung von Corona-Fällen und für die Bereitstellung von Quarantäneplatz gespendet wurden. Die Siedler im Westjordanland haben in den letzten Wochen ihre Angriffe auf Palästinenser verstärkt, unter anderem mit Steinwürfen und dem Anzünden von Autos, wohl wissend, dass das israelische Militär und die israelische Polizei dagegen nichts tun.
Palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen berichten, wegen der Knappheit in israelischen Supermärkten seien hygienische Produkte aus den Kantinen entfernt worden. Kinder, ältere und kranke Gefangene können sich nicht vor der Infektion schützen, einige Gefangene wurden durch den Kontakt mit einem Vernehmungsbeamten der israelischen Geheimpolizei schon mit Covid-19 infiziert.
Die palästinensische Regierung im Westjordanland sammelt Spenden von Privatleuten, um ihr darniederliegendes Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten. In Gaza ist die Situation noch schlimmer, denn der dichte Küstenstreifen mit 2 Millionen Einwohnern bietet keinen Raum für sozialen Abstand, es gibt nur sechzig Beatmungsgeräte und fast keine Test-Kits.
Geist der Apartheid
Die Gegenmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie atmen den Geist der Apartheid. Palästinensische Bürger Israels wurden sofort ins Abseits gedrängt, ihr Leben wird als weniger wertvoll erachtet und deshalb wurden an ihnen bis vor kurzem keine Tests vorgenommen. In den letzten Jahrzehnten wurden so viele ihrer Häuser abgerissen, dass Palästinenser keine Orte mehr haben, an denen infizierte Menschen in Quarantäne stecken können.
Die ultraorthodoxen Juden (Haredim) sind von der Pandemie besonders hart betroffen. Nicht nur, weil sie in überfüllten Vierteln mit unzureichender Gesundheitsversorgung leben, sondern auch wegen der Hetze gegen sie: Sie werden für die Verbreitung des Virus verantwortlich gemacht werden, weil einige ultraorthodoxe Juden die Abstandsregeln ablehnen und in Gruppen beten. Israelische Zeitungen äußern Schadenfreude gegenüber den Ultraorthodoxen, indem sie Zitate extremistischer Rabbiner aus dem Zusammenhang reißen, um die gesamte ultraorthodoxe Gemeinschaft als primitiv und gefährlich hinzustellen.
Hunderte von israelischen Soldaten aus Kampfeinheiten wurden zur Durchsetzung der Ausgangssperre eingesetzt. Ihre Präsenz auf den Straßen scheinen Jerusalem, Tel Aviv und andere Städte wie palästinensische Städte unter Besatzung zu sein. Offiziere mussten Soldaten bereits verwarnen, sie sollten daran denken, dass «dies nicht besetztes Gebiet ist, man kann nicht einfach wahllos Leute auf die Straße treten». Verteidigungsminister Naftali Bennet drohte der Bevölkerung, wenn sie sich nicht an die Anweisungen des Gesundheitsministeriums hält, werde das Militär die Macht übernehmen und das Verteidigungsministerium die Ausgangssperre koordinieren.
Ein Licht unter den Nationen
Theodor Herzl nannte den zionistischen Staat ein «Licht für die Nationen» und glaubte, es werde ein Staat sein, der ein Beispiel für Demokratie und soziale Solidarität sein werde. Die Corona-Krise war eine Gelegenheit für die israelische Gesellschaft, ihre nationalen Meinungsverschiedenheiten hintanzustellen und mit den Palästinensern zusammenzuarbeiten, um die Krankheit gemeinsam zu bekämpfen. Stattdessen korrumpieren Apartheid und Kolonialismus die Werte der sozialen Solidarität.
Die Arbeitslosigkeit hat in Israel wegen der Massenentlassungen über 25 Prozent erreicht. Hunderttausende wurden in verlängerte Zwangsferien ohne Bezahlung geschickt. Hamsterer verkaufen überteuerte Masken und Desinfektionsmittel. Wer es sich leisten kann, bestellt sich Lebensmittel nach Hause und lebt in großen, komfortablen Wohnungen. Wer es sich nicht leisten kann, bleibt schutzlos und wird mit Polizeigewalt bedroht, wenn er oder sie das Haus verlässt, um Essen zu suchen.
Ein markantes Beispiel für diese egoistische Mentalität zeigt der Dokumentarfilm Uvda: Mitglieder des Mossad brüsten sich damit, dass sie die Versorgung Israels mit Beatmungsgeräten sicherstellen, indem sie sie aus anderen Ländern stehlen.
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