Wen trifft die neue Arbeitszeitverordnung und wie wehren wir uns dagegen?
von Michael Heldt
Um was geht es?
Am 10.April wurde die sogenannte «Covid-19-Arbeitszeitverordnung» wirksam – wenn es gut läuft, gilt sie nur, wie angekündigt, bis zum 31.Juni.
Diese Verordnung wurde von der Regierung in Auftrag gegeben und von den Ministerien für Arbeit und (Un-)
Soziales im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit erlassen. Sie erlaubt weitere Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz – einer gesetzlichen Regelung, die schon heute mit einer für Laien fast unbegreiflichen Flut von Ausnahmen, Unzumutbarkeiten und Doppeldeutigkeiten gespickt ist.
Kaum eine Arbeiterin kennt und versteht die für sie, oder besser: gegen sie, geltenden Rechte. Betriebsräte kapitulieren oft bei dem Versuch, einer ihrer grundsätzlichen Aufgaben nachzukommen: der Kontrolle der Einhaltung dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Im Kern geht es um drei weitere Einschnitte in geltendes Recht:
- Es soll bis zu 12 Stunden am Tag gearbeitet werden können.
- Die tägliche Mindestruhezeit kann auf 9 Stunden verkürzt werden.
- Es soll (noch) leichter an Sonn- und Feiertagen gearbeitet werden können.
Wer wird mit diesen neuen Regelungen beglückt?
Mit diesem Fluch werden all diejenigen belegt, die gerade noch dachten, dass es vielleicht was Gutes hätte, wenn erkannt wird, dass sie systemrelevant sind: von der Kommissionierin im Supermarkt bis zur Krankenpflegerin oder dem Rettungsdienst. Kurzum alle, die in den letzten Wochen in Verdacht kamen, aus den Fenstern im Hof beklatscht zu werden.
Warum das jetzt?
Ohne Zweifel lagen solch kühne Vorhaben nicht nur für die genannten Branchen in den Schubladen so mancher Ministerien und erst recht der Lobbyverbände, die angesichts der Umstände unruhig mit den Hufen scharren. Jetzt scheint der Zeitpunkt für solche Maßnahmen gekommen, denn sogar wir Sozialromantiker werden angesichts der Katastrophe doch einsehen: Diese Tätigkeiten werden gesellschaftlich gebraucht, sie dürfen nicht ausbleiben und sind unter den Bedingungen der Pandemie bislang nicht ausreichend abgesichert.
Die Vorstellung, dass im Supermarkt die Waren knapp werden, weil die Logistikketten nicht mehr funktionieren, oder gar im Krankenhaus die Wartezeiten ins Unermessliche steigen und wir im Warteraum röchelnd verrecken – nur weil das Arbeitszeitgesetz der Situation nicht angepasst ist und die sich sorgende Krankenschwester uns ja nicht helfen darf – um solche Fragen, scheint es, müssen wir uns keine Sorgen mehr machen. Die Regierung hat die Lösung gefunden. Welch ein Segen.
Wer kann sich wehren?
Verhindern können diesen Frontalangriff Betriebs- und Personalräte – ohne sie wird es keines dieser Horrorszenarien geben. Diejenigen also, die in den letzten Jahrzehnten Öffnungsklauseln in Tarifverträgen für ein geeignetes Mittel hielten, um ihre ach so steifen Regeln an die so fluide Realität anzupassen, die werden sich auch jetzt zurücklehnen und sagen: Die Mitbestimmung existiert ja weiter, nichts geht, wenn unsere Interessenvertretungen nicht wollen und nicht ihren Segen geben. Stimmt formell, steht so ausdrücklich in der Verordnung. Hilft nur wenig.
Wir wissen, dass weder Organisationsgrad noch Erfahrung betriebliche Interessenvertretungen davon abbringen ein weiches Herz für den Sozialpartner zu entwickeln, aus welchen Gründen auch immer. Mal ist es die allgemeine Resignation, mal der Kauf der Kernbelegschaft für die Interessen im harten Konkurrenzkampf.
Es wird aber auf dieser Ebene Widerstand geben. Es ist davon auszugehen, dass dies jenen gelingt, die zu Recht oder Unrecht heute schon als Quertreiber, Störenfriede und Unruhestifter gelten. Gesellschaftlich dürfte das momentan zu vernachlässigen sein – aber es sind die Beispiele, die wir bestärken und verbreiten müssen.
Nachdem der Einzelhandel, der vor einigen Wochen unerwartet mit liberaleren Sonntagsöffnungszeiten unterstützt werden sollte, unerwartet abgewunken hat, scheint es sogar möglich, dass die Regelung auch in der Gesundheitsindustrie kaum Anwendung finden wird. Sogar die gehässigen Vorgesetzten wissen, was passiert, wenn sie dieses Folterinstrument anwenden: Krankschreibung, Überlastungen, die zu Fehlern führen, KollegInnen, die sich nochmal «neu orientieren». Ein Dammbruch bleibt es allemal – und der ausbleibende, kollektive Aufschrei in den DGB-Gewerkschaften lässt nichts Gutes ahnen.
Vom Wert des Handgemenges
Insgesamt dürfte der Angriff ein Vorgeplänkel sein für das, was in den kommenden Jahren ansteht: ein massiver Umbau im Gesundheitssektor, den wir als gute SozialistInnen mit guten Arbeitsbedingungen, hohen Löhnen und reduzierter Arbeitszeit anpeilen. Es scheint da andere Vorstellungen zu geben. Und es scheint, als bliebe uns nach wie vor die doppelte Aufgabe erhalten, großspurig das Richtige zu fordern und gleichzeitig kleinteilig die Handgemenge in den Betrieben auszutragen.
Großspurig fordern – das konnten wir schon immer gut. Das Handgemenge organisieren, von vereinzelten Widerstandsnestern zu einer breiten gesellschaftlichen Front zu wachsen, das ist uns noch immer eine erschreckende Aufgabenstellung. Aber eine, die in den letzten Jahren zunehmend attraktiver wird. Denn die Risse im System, auch in den Köpfen der KollegInnen, werden immer sichtbarer, Bruchkanten, die früher weit entfernt erschienen sind greifbar. Diese Risse sind der Raum, den wir besetzen können und müssen, um zu beweisen, dass wir dienlich sind.
Wer mehr hören will, wie realistisch es ist, im Krankenhaus in 12-Stunden-Schichten mit Atemschutzmaske zu arbeiten, dem sei dieses Video mit Silvia Habekost, Pflegekraft bei Vivantes in Berlin, empfohlen: www.youtube.com/watch?v=4Cx7kiVbwpg&fbclid.
Am Uniklinikum Essen hat der Personalrat die 12,5 Stunden abgelehnt. Ein gutes Interview mit der dortigen Vorsitzenden des Personalrats Alexandra Willer findet sich hier: https://gesundheit-soziales.verdi.de/coronavirus/++co++e59c001a-78db-11ea-bf14-001a4a160111.
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