Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2020

Von der Schwierigkeit, die eigene Geschichte aufzuarbeiten
von Renate Hürtgen

Thomas Klein: Erinnerung an eine Revolution oder Geschichte einer Entfremdung. Mein Abschied von alten Freunden aus der DDR-Opposition. In: telegraph, Nr.135/136, 2019/2020

Zwei der fünf Initiatoren eines Aufrufs zur Gründung der Initiative für eine Vereinigte Linke (IVL) im September 1989 haben inzwischen ihren Rückblick auf die eigene Geschichte veröffentlicht, Thomas Klein im telegraph und Bernd Gehrcke in SoZ 1/2020. Ist damit der Anfang für eine Generationen übergreifende Verständigung über die Geschichte der Linken in der DDR und im heutigen Osten gemacht? Wenn es uns ZeitzeugInnen gelänge, diese Aufarbeitung aus dem engen Dunstkreis eigener Befindlichkeiten und interner Betrachtungen herauszuführen, sollte uns dieser Brückenschlag gelingen.
Anders als Bernd Gehrke will Thomas Klein den «Versuch machen, einen sehr persönlichen Blick auf die Ereignisse des Herbstes 1989 und seine Folgen zu riskieren». Und wie der Untertitel schon verrät, beinhaltet dieser persönliche Blick auch einen zum Teil schmerzlichen Abschied von alten FreundInnen aus der DDR-Opposition, die sich von ihm inzwischen politisch entfernt haben. Diese Trauerarbeit nimmt den Hauptteil seines Artikels ein. Detailliert beschreibt er jene Ereignisse, an denen sich solche Weichenstellungen gut festmachen lassen: Thomas rekonstruiert minutiös Konfliktsituationen, wo sich ehemalige politische Verbündete als Gegner entpuppten und prangert das Abdriften eines Teils der DDR-Opposition, darunter eben auch linker FreundInnen, ins rechte Lager an.
Es ist durchaus legitim, solche Vorgänge und die Bedeutung, die sie für einen persönlich hatten, zu rekonstruieren. Nun aber sollte der nächste Schritt getan und dieses Auseinanderdriften der DDR-Opposition in der Art einer Draufsicht auf die Ereignisse beschrieben werden. Denn nicht die Frage, wer sich von mir entfernt hat, ist von bleibendem Interesse, sondern wie und warum sich die politischen Haltungen und Aktionsfelder einer zuvor solidarisch breit aufgestellten Linken in der DDR derart rasant von einander entfernten.
Diese Ausdifferenzierung fand allerdings nicht nur zwischen den zu den Rechten übergegangenen und den links gebliebenen DDR-Oppositionellen statt, sondern auch im Kreis derer, die sich dem linken Spektrum zugehörig fühlten. Es greift daher zu kurz, wenn Thomas Klein diesen Prozess allein auf die «politische Abgrenzung nach links» durch einen Teil der ostdeutschen Opposition bezieht.

Versagt. Versagt?
Im ersten Teil seines Artikels geht es dem Autor um die Geschichte der Initiative für eine Vereinigte Linke, um ihr Agieren in der Herbstrevolution 1989, um ihre organisationspolitische Verortung und «was aus ihr wurde». Wir erfahren, dass die VL den Sturz der Politbürokratie wollte, und zwar auf revolutionärem Weg, und dass sie ein Ziel jenseits von Stalinismus und Kapitalismus anstrebte. Eine solche sozialistische Programmatik sei allerdings von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, doch habe man nach dem Motto weiter agiert: «Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie.»
Ich nehme an, dass Thomas Klein hier eine Haltung aus späteren Zeiten zurückdatiert, denn als alle diese Programme und Aufrufe entworfen wurden, darunter die der VL, geschah das m.E. nicht im Wissen um ihre Chancenlosigkeit?
Es folgt ein Abschnitt, in dem die Politik der VL im Herbst 1989 genauer unter die Lupe genommen wird. Thomas Klein erinnert daran, dass sich die VL für einen Runden Tisch der Opposition ausgesprochen hatte, der nicht zustande kam, um dann am Runden Tisch in Berlin zusammen mit anderen OppositionsvertreterInnen den Versuch anzutreten, «fragwürdiges Regierungshandeln» zu kontrollieren und öffentlich zu machen. Dieses Agieren, aber auch die Tatsache, dass die VL sehr rasch von einer «Dialogpolitik» Abstand genommen habe und die «Machtfrage formulierte», werden von Thomas Klein als «situationsgerecht» resümiert.
Was die Beteiligung der VL an der Regierung der nationalen Verantwortung und was ihre Betriebspolitik betrifft, sieht seine Einschätzung völlig anders aus. Erstere sei ein schwerer Fehler gewesen; und der Betriebspolitik bescheinigt Thomas an entscheidender Stelle, eine Politik des Wortes, nicht der Tat, gewesen zu sein. So habe die VL auf die Modrow-Politik der Stärkung der Betriebsleiter lediglich mit «Pamphleten reagiert, anstatt die Bildung einer souveränen gewerkschaftlichen Gegenmacht oder die schnelle Schaffung von Betriebsräten mit aller Kraft zu unterstützen». Ebensowenig gehöre der Umstand, dass sie sich zur Bundestagswahl 1990 an der offenen Liste der PDS beteiligte, für Thomas Klein zu den «Pluspunkten» einer VL-Bilanz.
Und so besteht dieser Rückblick auf das Handeln der Vereinigten Linken im Herbst 1989 aus der Beschreibung einer Reihe von Kompromissen, deren Gehalt Thomas mal als historisch stimmig, mal als politisch fehlerhaft analysiert. Dabei überwiegt in seiner Analyse der Anteil der politischen Fehlverhalten, sodass er resümieren muss: «Was die IVL betrifft, so kann hinsichtlich ihres strategischen Konzepts und ihres Politikhandelns von einem weitgehenden Versagen gesprochen werden.» Das strategische Konzept einer basisdemokratischen und sozialistisch-antistalinistischen Perspektive versagt? Das politische Handeln der Vereinigen Linken ein einziges Desaster? Waren die misslichen Umstände Schuld oder sei «man» – wie Thomas überlegt – vielleicht nicht fähig gewesen, die «propagierte Alternative … glaubwürdig zu kommunizieren»?
Was sind eigentlich die Maßstäbe dafür, eine Bewegung für gescheitert zu halten? Wenn ich Thomas richtig verstanden habe, hat es eine Vielzahl von externen und internen Gründen gegeben, die letztlich verhindert haben, dass sich das politische Vorhaben, das im Gründungsaufruf entworfen war, nicht durchsetzen konnte. Es ist die wohl am häufigsten angewendete Methode, mit der Linke nicht nur ihre eigene Geschichte aufarbeiten: Eine Revolution wird als gescheitert erklärt, wenn sich die selbst gestellten Ziele nicht durchsetzen konnten.
Mir scheint diese «Innensicht» zunehmend fragwürdig. Eine Initiative wie die Vereinigte Linke war Teil einer breiten Bewegung, die im Herbst 1989 in der DDR eine Regierung stürzte, in deren Folge eine bisher noch nie dagewesene «Zivilgesellschaft» entstand. Welche Rolle hat sie in dieser Bewegung gespielt, welches ist ihr Anteil am Gelingen des Sturzes der alten Herrschaft, wo hat sie Akzente im zivilgesellschaftlichen Umbruch gesetzt und wo war ihr Anteil defizitär? Für welche sozialen Gruppen war ihr Angebot interessant und warum? Solche Fragen müssten aus meiner Sicht gestellt werden, damit eine historisch-kritische Aufarbeitung auch der eigenen Geschichte gelingen kann.

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