Die Zukunft nicht den Bossen überlassen
von Manfred Dietenberger
In schwindelerregendem Tempo katapultierte die Corona-Pandemie Deutschland und die Welt in eine allumfassende Krise, eine Kombination aus Shutdown-, Wirtschafts- und Finanzkrise. Und alles andere als nur nebenbei droht uns schon übermorgen die Klimakatastrophe. Damit drängen alle Widersprüche des kapitalistischen Systems fast gleichzeitig an die Oberfläche.
Wann immer der Höhepunkt der Pandemie überwunden sein wird: die Gesellschaft, insbesondere die Arbeitswelt, wird sich merklich von der Zeit vor dem Ausbruch der Pandemie unterscheiden. Um das zu prophezeien, muss man nicht Prophet studiert haben. Der Kapitalismus, derzeit auf der Intensivstation künstlich mit Geld aus der Notenpresse beatmet und am Leben gehalten, wird sich wieder berappeln. Wieviel vom schwer erkämpften Sozialstaat und von den demokratischen Rechten in Zukunft übrig bleibt, das wird nicht erst nach der Krise, sondern jetzt – bislang noch ungestört hinter den verschlossenen Türen – von den Wohlhabenden ausgehackelt. Aber das muss und wird nicht so laufen, wenn wir, die wa(h)ren Produzenten, dem nicht weiter tatenlos zuschauen und beginnen, gemeinsam mit unseresgleichen um unsere Zukunft zu kämpfen.
Dazu ist als erster Schritt notwendig, dass wir sobald irgend möglich unsere Arbeitskollegen in den Betrieben, Fabriken, Verwaltungen, aber auch unsere Nachbarn im Quartier daran erinnern, wer die Verantwortung für die gegenwärtig grassierende, multiple Krise trägt.
Jeder, der nicht länger nur ein von den kapitalistischen Um- und Zuständen Getriebener bleiben will, muss sodann öffentlich und laut nachdenken über eine an Mensch und Natur, nicht mehr am Profit orientierte Gesellschaft. Diese andere, solidarische Gesellschaft ist die logische Konsequenz aus dem gegenwärtigen Desaster. Dem Kapitalismus zu erlauben, wie zuvor die Lebensgrundlagen von Mensch und Natur unersättlich weiter aufzufressen, und seinen Kapitalverwertungsprozess nur etwas grün anzustreichen, wäre fatal.
Aber genau das ist der Plan derer da oben. Die Gewerkschaften gefallen sich einmal mehr in der ihnen zugebilligten Rolle als «Hüter der industriellen Wettbewerbsfähigkeit» und «Experten für sozialverträglichen Beschäftigungsabbau». O-Ton DGB: «Die letzte große Bewährungsprobe für die Sozialpartnerschaft war das Handeln in der Finanzkrise 2008/2009. Die Sozialpartner haben damals in Zusammenarbeit mit der Politik, als Tarifpartner und auf betrieblicher Ebene wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen in Arbeit und die Unternehmen im Markt blieben.»
Da waren die Gewerkschaften in den 70er Jahren schon mal weiter, als sie sich nämlich der alten Forderung nach Wirtschaftsdemokratie erinnerten und begannen, um die Humanisierung der Arbeitswelt zu kämpfen, und in den 80ern den Kampf um die 35-Stunden-Woche unter der Losung «Für mehr Leben» aufnahmen. Heute ist von Ansätzen einer emanzipatorischen Gewerkschaftspolitik, die sich am Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit orientiert und die Perspektive der Demokratisierung, Sozialisierung und Planung der Wirtschaft aufs Panier schreibt, leider nichts zu hören. Da müssen wir uns schon selber dranmachen.
Dabei gilt es – ohne Angst vor «Reformismus» oder «Utopie» Geschrei –, an den individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen der Menschen auf häuslicher, lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene anzuknüpfen. Es gab und gibt auch nach der Pandemie eine große gesellschaftliche Mehrheit für Frieden und den Erhalt der Natur. Das gleiche gilt für das Recht auf Arbeit, auskömmliches Einkommen, Gesundheit, Wohnen und das Recht auf ein gelungenes Leben. Das ist ohne radikalen Bruch mit der Kapitallogik und dem demokratischen Umbau der Gesellschaft nicht zu haben.
Das Thema Konversion bzw. Transformation der industriellen Produktion muss wieder Inhalt gewerkschaftlicher Programme werden, wie es das schon einmal war. Erinnern wir uns: IG-Metall-Vertrauensleute bei Blohm & Voss in Hamburg waren es, die im Herbst 1981 inmitten der Werftenkrise den ersten Arbeitskreis Alternative Produktion gründeten. Sie griffen die Idee ihrer britischen Kollegen beim Rüstungskonzern Lucas Aerospace auf. Es war ja schon mehr als nur eine schöne Idee, die die Hamburger da abkupfern wollten. Ihre Kollegen in Großbritannien hatten bereits fertig ausgearbeitete Pläne, auf deren Grundlage sie in der Lage gewesen wären, die Produktion von der Rüstung auf gesellschaftlich nützliche Produkte (Wärmepumpen, Ultraschallgeräte, Hybridmotoren) umzustellen. Ihren Versuch der Rüstungskonversion verstanden sie als Teil eines existenziellen Kampfes «für das Recht auf Arbeit an vernünftigen Produkten … um die wirklichen Probleme der Menschen zu beseitigen statt sie zu erzeugen». Sie waren überzeugt, dass sich «wirkliche industrielle Demokratie» nicht «auf Arbeiterrepräsentation im Aufsichtsrat beschränken» kann, und darauf «die Entscheidungen zu treffen, die längst vom oberen Management vorstrukturiert sind».
Ende 1983 existierten in der BRD rund 40 derartige betriebliche Arbeitskreise, auch außerhalb von Schiffbau und Rüstungsindustrie. Mit dem Ziel, die Produktivkräfte unter demokratische Kontrolle zu bringen, kamen innerhalb der IG Metall bei der Gründung solcher Arbeitskreise Techniker, Ingenieure, Naturwissenschaftler zusammen. Daran gilt es anzuknüpfen.
Auch beispielsweise an das DGB-Grundsatzprogramm von 1996, in dem es heißt: Die «Gewerkschaften … müssen für eine andere Zukunft, für gesellschaftliche Alternativen, für die Überwindung sozial ungerechter und ökologisch unerträglicher Verhältnisse kämpfen … Den Gewerkschaften geht es um Entscheidungen der Gesellschaft, wie sie leben, arbeiten und wirtschaften will.»
Da stellt sich natürlich die Machtfrage: Wer bitte soll das machen? Mein Vorschlag dazu wäre: Beginnen wir auf der betrieblichen, kommunalen und regionalen Ebene. Wer im Betrieb arbeitet, hilft mit die Arbeit der nicht an das Betriebsverfassungsgesetz gebundenen, gewerkschaftlichen Vertrauensleute zu stärken, oder eine solche Struktur aufzubauen, wo sie nicht vorhanden ist. Wir arbeiten an der Vernetzung der Vertrauensleute der verschiedenen Betriebe vor Ort und in der Region und suchen darüber hinaus den Schulterschuss mit sozialen Bewegungen wie der Klima-, Friedens- und Verbraucherbewegung. Ort der Handlung, der all das zu einem gemeinschaftlich geführten Kampf der Bevölkerung um «unseren Betrieb» und «unsere Stadt» sinnvoll zusammenzuführen hätte, wäre das DGB-Ortskartell – heute meist DGB-Stadtverband genannt. Dort könnten wir alle, egal ob Beschäftigter, Arbeitsloser oder Rentner, unsere Erfahrungen einbringen.
Was dort alles möglich wäre? Denkt darüber nach, denn wie sagt doch der ewig junge Marx: Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst.
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