David Rousset: Das KZ-Universum. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2020
von John Will
Die Zahl an literarischer Produktion im wissenschaftlichen Bereich über das System der deutschen Konzentrationslager ist kaum zu ermessen. Trotz oder gerade aufgrund des Aufstiegs der radikalen Rechten in Deutschland nimmt dieser Trend nicht ab.
Im Gegenteil, das Interesse hierzulande erweist sich als äußerst vital. Eine Neuerscheinung sticht jedoch hervor.
Nachdem das Buch 1946 in Frankreich unter dem Titel L’Univers concentrationnaire veröffentlicht wurde und dort seit seinem Erscheinen sowohl die historische Analyse wie auch die antifaschistische Erinnerungskultur maßgeblich beeinflusst hat, hat es knapp 75 Jahre gedauert, bis der Zeugenbericht des französischen Intellektuellen David Rousset nun auch in deutscher Übersetzung vorgelegt werden konnte.
Von der Gestapo im Oktober 1943 in dem von den Deutschen besetzten Paris verhaftet, wurde Rousset, der als Mitglied der trotzkistischen Parti Ouvrier Internationaliste im französischen Untergrund Widerstandsarbeit leistete, Ende Januar 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Von dort aus begann ein «rastloses Lagerleben», das «seine eigenen Gesetze und Gründe» hatte. Die Insassen waren «von Kräften angetrieben», die «mit dem Leben in Paris oder Toulouse, in New York oder Tiflis wenig gemein haben». Von Buchenwald und Neuengamme aus wurde er an verschiedenen Außenstellen für Bauarbeiten herangezogen. Neben der Zwangsarbeit zeichneten das Ringen um Nahrung und sadistische Appelle seinen Alltag aus. Nach der Auflösung des Lagers Neuengamme wurden die Häftlinge mit dem Zug am 10.April 1945 in das Außenlager Wöbbelin abtransportiert, in dem ein katastrophaler Hunger und sogar Kannibalismus wüteten.
Erst am 2.Mai wurde Rousset von der US-amerikanischen Armee befreit. Die ausgebliebene soziale Revolution nach Kriegsende beschädigte Roussets sozialistischen Zukunftshorizont nachhaltig. Nachdem das Projekt einer dritten linken Partei mit dem Rassemblement Démocratique Révolutionnaire, das auf die Initiative Jean-Paul Sartres zurückging, alsbald verfiel, war sein Verhältnis zum Marxismus ambivalent. So ließ sich Rousset nach dem Pariser Mai 68 gar als Linker für die Partei von Charles de Gaulles in das französische Parlament wählen.
Die Auseinandersetzung mit dem KZ-System blieb der Mittelpunkt in seinem intellektuellen Schaffen, sie ermöglichte ihm, später auch das sowjetische Gulagsystem und Lager in anderen Ländern zu analysieren.
Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt die Erinnerung an die von ihm unmittelbar erlebte Haft, Folter und Zwangsarbeit dar, die sich tief in den Essay eingraben. Wechselnd zwischen Erinnerungen, die zum Teil impressionistisch gehalten sind, und Analyse wirkt das Buch stellenweise romanhaft, um dann wieder zu theoretisieren, begreiflich zu machen, was für eine Welt das «KZ-Universum» ist.
«Theorie der Macht»
Rousset unterscheidet zwischen verschiedenen Lagertypen, die jeweils unterschiedliche Funktionsweisen haben. So stellte Buchenwald sich als eine Art «unfertige Metropole» dar, deren verschiedene Milieus und Schichten eine soziale Gliederung aufweisen. Im Gegensatz dazu beschreibt er Neuengamme als «reine Industriestadt», in der die Ausbeutung der Arbeit im Zentrum stand.
Vom Kreis um Heinrich Himmler über die Obersturmbannführer bis zu den Mannschaften war der Herrschaftsapparat der SS hierarchisch durchstrukturiert. Dennoch war ihre Präsenz für den Häftling nicht immer wahrzunehmen. Ihre Häuser befanden sich außerhalb der Lager und die tägliche Gewalt, die die Häftlinge ertragen mussten, ging zumeist von den Kapos und den Vorarbeitern aus. Die Machtverhältnisse wurden so von den Inhaftierten selbst gestützt; aufbauend auf Angst und Intrigen befreite dieses System «die SS-Leute von so gut wie allen Zwängen und erlaubt ihnen, sich weitgehend ihrer eigenen Bürokratie und ihren Geschäften zu widmen».
Die Gründe für diese reibungslose Kontrolle der SS über die Häftlinge sieht Rousset in der Existenz einer Häftlingsaristokratie. Diese Struktur, die «über Vollmachten verfügt, Privilegien genießt und Macht ausübt, sorgt dafür, dass aus einzelnen Unzufriedenen keine gemeinsame Bewegung wird, und macht die Bildung einer geschlossenen Opposition unmöglich».
Damit legt Rousset einen Kern des NS-Konzentrationslagers frei, der vielleicht zu einer der wichtigsten Erkenntnisse seiner Schrift gehört und nahtlos an zeitgenössische Überlegungen über den NS-Staat, wie etwa Franz Neumanns Behemoth, anschließen kann: Eine von Hierarchiekämpfen geprägte Struktur des Lager, in der das Überleben nicht allein von der Repression der SS, sondern auch von der bürokratischen Aristokratie der Häftlinge selbst abhängt.
Der NS-Staat spiegelte sich im «KZ-Universum» negativ wider. So waren die Häftlinge angewiesen, die Lagerstrukturen selbst zu organisieren; einerseits in den Bereichen der «Selbstverwaltung», der Stube, der Küche, dem Revier, andererseits das «Innenministerium», die Schreibstube, die Politische Abteilung und der Lagerschutz.
Als dritte Säule der geradezu einem Staatswesen gleichenden Struktur nennt Rousset die Arbeitsverwaltung, in der besonders der Posten des Kapos der Arbeitsstatistik wichtig war. Dieser organisierte auf Weisung der SS die Arbeitstransporte und konnte entscheiden, welche Häftlinge besonders schwere Arbeiten zu verrichten hatten.
Morde und Denunziationen waren fester Bestandteil des Systems. Konkurrenz bestand nicht allein zwischen den Nationalitäten, den russischen, polnischen, tschechischen, französischen oder deutschen Gefangenengruppen, sondern auch zwischen den «Roten» und den «Grünen».Nachdem die Folterkunst der Nazis die Dezimierung politischer Gegner perfektioniert hatte, wurden seit Beginn des Krieges immer mehr «Grüne», also «Strafrechtler» wie Schwerverbrecher, Diebe, Betrüger oder Zuhälter, inhaftiert. Den Blockältesten zu stellen, brachte nicht nur Privilegien wie eine bessere Ernährung, Unterkunft und Befreiung von der Arbeit; eine besetzte Position festigte die Hierarchiekämpfe und stärkte das Machtsystem der Konzentrationslager von innen her. Am Ende der Hierarchie standen die sog. Asozialen, Sinti, Roma, Landstreicher, Arbeitsdienstverweigerer, «Gestörte» und Homosexuelle, während die rassistische Ideologie der Nazis Juden, Polen und Russen als unveränderbaren, «statische[n] Ausdruck des Bösen» ansah, die nur ausgerottet werden konnten.
Die Anthropologie des KZ
Die Vernichtung der europäischen Judenheit nimmt im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik einen zentralen Platz ein. Weitaus bekanntere Autoren, wie Jean Améry oder Primo Levi, üben bis heute mit ihren bahnbrechenden Werken einen herausragenden Einfluss auf die Erinnerung an den Nazismus aus. Im Gegensatz zu Rousset waren sie nicht wegen ihrer politischen Widerstandstätigkeit, sondern aufgrund des Antisemitismus der Nazis nach Auschwitz deportiert worden.
Rousset erhellt in seinem Buch in bemerkenswerter Weise die Situation der Juden als Opfer einer industriellen Massenvernichtung. In dieser Hölle herrschte die «industrielle Perfektion», ein System der Vernichtung, das durch Selektion, Folter und Vergasung gekennzeichnet war. Dennoch verschließt er sich einer Differenzierung und verneint eine Besonderheit von Auschwitz: «Zwischen diesen Vernichtungslagern und den ‹normalen› Lagern gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied, lediglich einen graduellen.» Auch die Konzentrationslager hätten ihre Höllen besessen.
Als wollte sich Rousset der Bedeutung von Auschwitz entziehen, findet der Genozid an den Juden nur eine marginale Erwähnung. Angesichts der unvorstellbaren Vernichtungspolitik überstieg dieser Schrecken sein Fassungsvermögen. Damit fügt sich Roussets Buch in einen zeithistorischen Kontext ein, in der insbesondere die französischen linken Intellektuellen, wie Robert Antelme mit Das Menschengeschlecht und nicht zuletzt Jean-Paul Sartre mit seinen Überlegungen zur Judenfrage, auf Kosten der Wahrnehmung des Völkermords an den Juden die anthropologische Dimension des Naziterrors im allgemeinen in den Vordergrund stellten.
Roussets Werk steht diesen Interpretationen sehr nahe, erscheint für ihn das «KZ-Universum» doch als ein «tote[r] Stern voller Leichen», deren überlebende Opfer eine tiefgreifende Erfahrung der Entmenschlichung mit sich tragen, die sich nicht vermitteln lässt. Doch auch wenn er sich gezwungen sah, insbesondere für Nachkriegsdeutschland wegen des vollendeten Zerstörungswerks der Nazis durch Terror und Propaganda seine revolutionären Hoffnungen aufzugeben, konnte er nicht die gleichen Schlüsse ziehen wie etwa die bereits genannten Überlebenden Jean Améry und Primo Levi, für die sich ein Begreifen des Erlebten als unmöglich erwies.
Der Überlebende Rousset entdeckte – gezeichnet von der Entmenschlichung – eine «frische, sinnliche Freude, die auf dem umfassenden Wissen von der Vernichtung basiert, und daraus folgend Entschlossenheit im Handeln und Klarheit im Urteil, kurz, eine umfassendere und ungemein schöpferische Gesundheit».
In letzter Konsequenz könne man durch das Prisma des «KZ-Universums» die Lage des Menschen in seinen ökonomischen und sozialen, kurz, seinen materiellen Verhältnissen in der Moderne erkennen. Bei Roussets KZ-Universum handelt es sich um einen bewegenden und wortgewaltigen Beitrag eines politischen Häftlings, der trotz oder gerade wegen seiner konkreten Perspektive unersetzlich ist für den Versuch, die Gewaltkataklysmen des 20.Jahrhunderts zu verstehen.
Der Autor ist Historiker in Leipzig.
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