Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2020

Bolsonaros Politik kostet ihn immer mehr Anhänger
von Hermann Dierkes

Brasilien macht derzeit eine der schwersten Krisen seiner Geschichte durch.

Die Corona-Pandemie legt nicht nur die traditionellen strukturellen Missstände und die extremen Ungerechtigkeiten bloss; nicht nur den reaktionären Charakter der politischen Wende in den letzten 5 Jahren, die im Machtantritt des Bolsonarismus nach den Wahlen von Oktober 2018 gipfelte. Sie enthüllt auch in aller Schärfe, dass mit Bolsonaro, seinem Clan und seinen Gefolgsleuten ein gefährliches Konglomerat an der Macht ist – bestehend aus Gangstern, ultraliberalen ”Markt-”schreiern und Bereicherungsfiguren, notorisch korrupten, autoritären Militärs und Vertretern aus Polizeiorganen, Verschwörungsphantasten sowie rechtsradikalen Ideologen aus dem Bannon-Netzwerk.

Diese Regierung ist nicht nur vollkommen unwillens und unfähig, die elementaren WHO-Standards zur Seuchenbekämpfung umzusetzen und ein wirksames soziales Notprogramm anzugehen. Nachdem Bolsonaro wochenlang die Seuche als ”Grippchen” verharmlost hat, die schnell wieder verschwinden werde; versichert hat, dass ”der Brasilianer im Dreck leben kann und sich nichts einfängt”; hartnäckig den ”Vorrang der Wirtschaft” propagiert, die um jeden Preis laufen müsse; zu öffentlichen Kundgebungen seiner Fans gegen sanitäre Massnahmen, gegen Kongress oder Bundesgericht angestachelt und makabre Witzchen gemacht hat, tut seine Regierung auch alles, um die ausufernde sanitäre und soziale Krise zu verschärfen.
Sie äfft den Idiotismus eines Trump nach (”chinesische Verschwörung”, Anpreisen von zweifelhaften Medikamenten usw.), und zwar oft noch drei Kellertreppen tiefer.
Sie bekämpft die grosse Mehrzahl der Gouverneure, Bürgermeister sowie Richter, Staatsanwälte und Kongressparteien, die nicht jeden Realitätsbezug verloren haben, gestützt auf höchstrichterliche Entscheidungen einen anderen Kurs verfolgen und vergeblich auf ein koordiniertes und effektives Vorgehen der Bundesebene warten.

Soeben ist ein weiterer Gesundheitsminister zurückgetreten. Als Mediziner wollten beide – bei all ihrem sonstigen Opportunismus – den unverantwortlichen Forderungen der Bolsonaristen nach schneller ”Rückkehr zur Normalität” und der staatlichen Verordnung von wissenschaftlich nicht anerkannten Medikamenten nicht folgen. Interimsminister wurde ein weiterer Ex-Militär mitsamt Tross, der das absurde Theater Bolsonaros und seiner Clique scheinbar gehorsam mitspielen will.

Das Land liegt in der zweiten Maihälfte nach offiziellen (absoluten) Zahlen mit über 300.000 Infizierten und über 20.000 Toten inzwischen auf einem der Spitzenplätze weltweit, Tendenz weiter stark steigend. Zu den Hotspots zählen vor allem Sao Paulo und Manaus, die mit dem Ausheben von Gräbern kaum noch nachkommen.
Nach Berechnungen kritischer Wissenschaftler dürften die tatsächlichen Zahlen aber noch sehr viel höher liegen, denn es wird ja kaum getestet. Vor allem nicht bei den 20 Prozent Armen und sehr Armen und ebensowenig unter der Urbevölkerung. Diese Regierung ist dabei, wie der frühere Präsident Lula zu Recht betont, Brasiliens Demokratie zu zerstören und das Land ins Schlachthaus zu führen.

Bolsonaro verliert ”Ecktürme”
Nominell hat die Regierung Bolsonaro in Kongress und Senat schon länger keine Mehrheit mehr, eigentlich nie über eine stabile verfügt. Sie hat eine ganze Reihe von wichtigen Abstimmungen verloren, etliche Präsidialdekrete wurden von Bundesrichtern aufgehoben, zuletzt eins, mit dem staatliche Funktionsträger bei Unterlassen bzw. Verstößen gegen Vorsorge und sanitäre Erfordernisse von der Verantwortung freigestellt werden sollten. Wichtige reaktionäre Vorhaben wie die Rentenverschlechterung, der Angriff auf das Arbeitsrecht und die Haushaltsbremse wurden zwar mehrheitlich durchgezogen, aber etwas abgemildert oder bisher nicht befasst.

Die Bolsonaro-Partei PSL hat sich im letzten Jahr gespalten, die geschwächten Parteien der bürgerlichen Mitte sind inzwischen mehr oder weniger auf Distanz und die Parteien der breiteren Linken verfügen nicht über ein Drittel der Parlamentssitze. Mit dem spektakulären Rücktritt des Justizministers Moro im April, eine der zentralen Figuren im Justizapparat, die eine erneute – und aussichtsreiche – Kandidatur Lulas verhindert haben, wie die Zeitung Intercept Brasil Mitte letzten Jahres durch zahllose Enthüllungen nachgewiesen hat, wurde dem Bolsonaro-Lager ein weiterer schwerer Schlag versetzt. Der Sozialwissenschaftler Emir Sader spricht vom Verlust seiner Ecktürme auf dem Schachbrett.

Moro hing der Mythos des konsequenten Anti-Korruptionsrichters an – dafür bekam er Unterstützung aus Teilen der Bevölkerung – und wurde deshalb von Bolsonaro für seinen Wahlkampf eingespannt. Als Justizminister, der im Parlament kaum etwas durchsetzen konnte, sah sich Moro zunehmender Kritik des bolsonaristischen Kerns ausgesetzt. Das Fass zum Überlaufen brachte schliesslich die ultimative Forderung Bolsonaros, er solle personelle Veränderungen an der Spitze der Bundespolizei und in Rio durchsetzen, um die laufenden Ermittlungen bzw. drohenden Verfahren gegen seine kriminellen Söhne abzublocken.

Dieser Versuch der Strafvereitelung und der Vermischung persönlicher Interessen mit polizeilicher Ermittlungsarbeit war offenbar auch einem Opportunisten wie Moro zu plump. Er selbst sollte mit einem Sitz im Obersten Bundesgericht getröstet werden. Moro: ”Ich lasse mich nicht kaufen." Dass er sich für seine Dienste bei der Kaltstellung Lulas mit dem Posten des Justizministers hat kaufen lassen, dazu schwieg er. Außerdem sollten auch wichtige Vertrauensmänner Moros zugunsten von verlässlicheren Bolsonaristen fallen. Eine inzwischen in Teilen bekanntgewordene Tonbandaufzeichung der Kabinettssitzung vom 22. April lässt keinen Zweifel über die Beweggründe Bolsonaros, obwohl er – wie immer – versucht, sich herauszulügen, wenn er erwischt wurde und es eng wird. Er wolle, so der Tonbandmitschnitt, es nicht länger hinnehmen, dass am Ende seine Familie, seine Söhne und Freunde ”gefickt” werden.

Bolsonaro handelte und ernannte einen engen Freund seines Clans zum obersten Chef der Bundespolizei, um regelmässig ”informiert zu sein”. Doch andere handelten auch: Per Eilbeschluss wurde die Ernennung höchstrichterlich rückgängig gemacht. Moro trat ”auf eigenen Wunsch zurück” und wurde umgehend von der Justiz vernommen, nachdem er seine Gründe für den Rauswurf öffentlich gemacht hatte.

Nun ist es am Generalstaatsanwalt, grünes Licht für ein Strafermittlungsverfahren gegen den Präsidenten zu geben, was mit erheblichen Fragezeichen verbunden ist angesichts der bisherigen Loyalität dieses Herrn Aras. Dann müsste der Bundesgerichtshof den Antrag auf Einleitung eines Strafermittlungsverfahrens beschließen und sich die Genehmigung einer Parlamentskommission und von zwei Dritteln des Parlaments sichern. Kommt diese Mehrheit tatsächlich zustande, würde Bolsonaro zunächst für 180 Tage amtsenthoben und das weitere Verfahren nähme seinen Lauf.

Drohendes Amtsenthebungsverfahren
Dem Parlamentspräsidenten Rodrigo Maia liegen außerdem rd. 30 Anträge zur Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens vor – mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Begründungen. Man fragt sich, ob die Fliegen darauf scheissen und warum er nicht endlich grünes Licht gibt, nachdem er auch persönlich und der Kongress insgesamt auf üble Weise von den Bolsonaristen attackiert wurde und wird. Klar ist, dass ein Amtsenthebungsverfahren nur ”lagerübergreifend” und mit großen Mehrheiten möglich ist. Die Bolsonaristen versuchen derzeit, einige kleinere Parteien vom rechten Flügel an sich zu binden – besser: einzukaufen – mit genau den Machenschaften, die sie den anderen im Wahlkampf vollmundig angekreidet haben: ”Ich gebe dir das, du gibst mir dafür jenes."

Die bürgerliche Mitte scheint auf Zeit zu spielen, mauert den Präsidentenpalast ein und will noch mit wechselnden Mehrheiten durchsetzen, was ihr nützt. Wie lange aber will sie Bolsonaro und seinen offensichtlich in kriminelle Machenschaften verstrickten Familienclan noch machen lassen? Die laufenden Ermittlungen gegen die Söhne Bolsonaros (wegen Missbrauchs öffentlicher Gelder, Geldwäsche, massenhafter Verbreitung von Fake News/Hassbotschaften, Verstrickung mit den sog Milizen, die im Verdacht stehen, 2018 die bekannte Abgeordnete von Rio, Marielle Franco, ermordet zu haben usw.) aber auch gegen Bolsonaro selbst (Amtsversagen, öffentliche Angriffe gegen Justiz und Parlament, Propagierung der Militärdiktatur usw.) werden bisher auf die lange Bank geschoben, wenn nicht mutwillig verschleppt, schließlich gibt es wichtige Unterstützer und Sympathisanten bei Polizei, Generalstaatsanwaltschaft und Justiz. Wie lange will man dem ungebremsten Anstieg der Coronakrise, dem wirtschaftlichen Niedergang und der explosiven Sozialnot noch zusehen, bevor es zu einem lagerübergreifenden Amtsenthebungsverfahren (Impeachment) kommt?

Potentielle Mehrheiten in Kongress und Senat zeichnen sich durchaus ab, wenn auch knapp. Mit dem Einkauf einiger kleinerer Rechtsparteien – von denen führende Figuren ebenfalls in Korruptionsverfahren verwickelt sind und einer scheinbaren Annäherung an den größeren Bürgerblock versuchen die Bolsonaristen buchstäblich, ihren Hals aus der Schlinge zu ziehen. Da ein Amtsenthebungsverfahren mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossen werden muss, reichen Bolsonaro 172 der 513 Abgeordneten, um es zu verhindern.

Juristische Gründe für ein Impeachment sind inzwischen reichlich vorhanden. Liberale und demokratisch gesonnene Medien wie die Folha de Sao Paulo bringen reichlich Stoff, vernichtende Kolumnen und Leserbriefe. In Anspielung an den römischen Kaiser Nero, unter dem Rom abbrannte, während er Musik machte, wird inzwischen von ”BozoNero” gesprochen. Mit der Masche von Trump werden die kritischen Medien von Bolsonaro und seinem ”Hasskabinett” im Präsidentenpalast als lügnerisch und politisch motiviert verleumdet und bedroht.

Am 21.5. haben über 400 Organisationen der sozialen Bewegungen und die meisten Parteien der Linken (PT, PSOL, PcdoB, PCB usw.), eine Reihe früherer Minister und Persönlichkeiten ein Amtsenthebungsverfahren beantragt. Aber wichtige bürgerliche Akteure treten bisher auf der Stelle. Sie scheinen abwarten zu wollen, bis sich die Bolsonaristen weiter diskreditiert haben bzw. für die Durchsetzung neoliberaler Politik in der Bevölkerung absolut nicht mehr taugen. Die offenen Kontroversen zwischen den Bolsonaristen und der großen Mehrheit der – parteipolitisch sehr unterschiedlich orientierten – Gouverneure bei der Verteilung von Haushaltsmitteln und Ressourcen bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie tragen ebenfalls zur scharfen politischen Krise des Landes bei.

Absetzbewegungen von einem Hirnlosen
Im Gegensatz zu seiner demagogischen Wahlpropaganda haben Bolsonaro und seine Regierung seit ihrem Amtsantritt im Januar 2019 die seit einigen Jahren anhaltende Krise des Landes in jeder Hinsicht weiter verschärft. Ihre stockreaktionäre Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik und das Anstacheln rücksichtsloser Umweltvernichtung haben katastrophale Ausmaße angenommen und internationale Kritik hervorgerufen. Mit der Corona-Pandemie, von der das bedeutendste Land Lateinamerikas seit März 2020 erfasst wurde, haben sich nicht nur diese Probleme bis zum Bersten zugespitzt. Immer größere Teile Lateinamerikas und der Weltöffentlichkeit schütteln nur noch den Kopf. Mit seinen fast tagtäglichen Provokationen, seinen verfassungswidrigen Lobeshymnen auf die einstige Militärdiktatur, seinen ausgesprochenen Eseleien in Sachen Corona und seinen rüden Attacken auf Kongress, Bundesgericht, gegnerische Medien und Soziale Bewegungen führt Bolsonaro ein staatliches Schmierentheater auf. Man fühlt sich unwillkürlich an Ignácio de Loyola Brandaos Roman aus der Zeit der Militärdiktatur "Nao verás país nenhum" (Kein Land wie dieses, Aufzeichnungen aus der Zukunft, Suhrkamp 1983) erinnert, der ein zerrüttetes und umweltzerstörtes Land schildert, in dem ein hirnloser Präsident spielt und ”Militechner” regieren, die irgendwie noch alles reglementieren und unter Kontrolle halten wollen.

Glaubt man etlichen Meinungsumfragen, hat der Bolsonarismus seinen politischen Kredit in Teilen der Bevölkerung, auch der unteren Schichten, allerdings noch nicht verspielt, obwohl sich die offenen Proteste auch bei den Bessergestellten mehren. Wichtige Verbündete Bolsonaros wie die Gouverneure von Sao Paulo, Rio oder von Mato Grosso, Vertreter des Pro-Bolsonaro-Flügels der sozialdemokratischen PSDB oder der MDB stehen hingegen inzwischen in Opposition. Es scheint so, als wenn wichtige bourgeoise Unterstützergruppen merken, dass sie sich mit dem Bolsonarismus ordentlich die Finger verbrannt haben.
Es bleibt abzuwarten, ob die laufende Gründung einer stramm rechten bolsonaristischen Partei (Aliança pelo Brasil) Erfolg haben wird. Es wäre Bolsonaros neunte in seinen drei Jahrzehnten als geifernder und erfolgloser Hinterbänkler im Parlament. Zu den turnusmässigen Kommunalwahlen im Oktober kann sie jedenfalls noch nicht antreten.

Welche Alternativen?
Sollte es überhaupt zu einem Amtsenthebungsverfahren kommen, so stellt sich allerdings die spannende Frage: Was ist die Alternative zum Bolsonarismus? Welche Konstellationen sind denkbar, und vor allem: Zeichnen sich wieder fortschrittliche Perspektiven für das Land ab? Es ist vor allem an der politischen Linken, sich möglichst gemeinsam auf eine überzeugende und mitreißende programmatische Basis zu verständigen, die ihr in der Bevölkerung wieder Rückhalt verschafft.

Ihr Niedergang, vor allem der der PT Lulas, reiht sich zudem ein in die schwerwiegenden politischen Rückschläge in Lateinamerika und das Ende der sog. ”pink period”, also der ”rosaroten” Regierungen, die etwa bis zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts die Lage geprägt haben. Diese Wende war nicht alternativlos, weder in Brasilien noch in Bolivien, in Ecuador, in Venezuela und anderswo. Sie war Ergebnis von schweren politischen Fehlentwicklungen. Insbesondere die brasilianische PT müsste sich einer radikalen Selbstkritik stellen, die schrittweise Aufgabe ihrer ursprünglichen Ziele und Methoden bilanzieren – ihre immer prinzienloseren Koalitionen und das Versacken von erheblichen Teilen der Partei in der überkommenen Politik, einschliesslich der im Lande endemischen Korruption sowie die Aufgabe jeder systematischen Mobilisierung an der Seite der sozialen Bewegungen.

Am Ende war es doch eine Groteske, dass es ausgerechnet den korrupten bürgerlichen Bündnispartnern in Bund und Ländern gelang, von ihren eigenen Missetaten und Verbrechen abzulenken und glaubwürdig die PT als ”Hauptherd der Korruption” zu brandmarken. Mit rechten Massendemonstrationen wurde die – juristisch substanzlose und verlogene – Amtsenthebung der letzten PT-geführten Regierung unter Dilma Rousseff im Jahr 2015 eingeleitet. Wesentliche Akteure des Coups wurden in den Jahren danach zwar selbst entmachtet und verurteilt, aber das bürgerliche Zweckbündnis hatte sein Hauptziel erreicht und die PT von der Regierungsmacht verdrängt. Dilmas Vizepräsident Temer leitete als ihr Nachfolger die reaktionäre Wende ein, die der Bolsonarismus weiter ausbauen will. Mit dem Ausschluss Lulas als Präsidentschaftskandidat 2018 und seiner Verurteilung zu langen Haftstrafen wegen ”Geldwäsche” und ”Vorteilsnahme im Amt” durch eine erwiesenermassen parteiliche und korrupte Justiz war schliesslich der Weg frei (*).

Noch hat der Bolsonarismus eine Massenunterstützung. Seine Umfragewerte sind deutlich gefallen, sollen aber immer noch um die 30 Prozent liegen. Das autoritäre bis faschistoide Lager wurde auch vor den Wahlen 2018 auf ”nur” 12, 15 oder sogar 20 Prozent der Wählerschaft eingeschätzt. Nur wenige räumten ihm reale Chancen ein, aber Bolsonaro wurde mit 57 Prozent gewählt!
Den Bolsonaristen gelang es, neben massiven Einbrüchen in das bürgerliche Lager Millionen Stimmen aus dem Bereich der Deklassierten, Erwerbslosen und zu recht Unzufriedenen zu mobilisieren, selbst in den früheren Industriegebieten, die einmal die Wiege Lulas und der PT waren.

Scharfsichtige politische Beobachter wie der Historiker Daniel Aarao Reis warnen davor, den Bolsonarismus rein wahlpolitisch – durch ein erfolgreiches Impeachment, mögliche Neuwahlen und Wahlkämpfe – isolieren und schlagen zu wollen. ”Ich bin skeptisch”, so Reis, ”ob die sog. Staatslinke das schafft, erst recht nicht im Bündnis mit den traditionellen und rückwärtsgewandten bürgerlichen Parteien. Entweder wird die zivilgesellschaftliche Linke die Alternativen ausarbeiten und durchsetzen oder es wird noch schlimmer.” (Interview auf dem portugiesischen Esquerdanet)

Notwendig ist ein Wiederaufbau von fortschrittlichen sozialen Massenbewegungen, sobald es ein Abklingen der Pandemie zulässt. Sie verfügen über wesentlich mehr Vertrauen als die Parteien. Eine neue gesellschaftliche Offensive ist auch deshalb erforderlich, weil die harten und aggressiven Bolsonaristen sich keineswegs nur auf Teile der Eliten beschränken und sich mit ihren Kräften in Gesellschaft, Militär, Polizei sowie mit bewaffneten Banden (”Milizen”) sehr wahrscheinlich, so Reis, mit einem Regierungsverlust nicht friedlich abfinden werden. Sie stellen ein gefährliches protofaschistisches Potential dar, bei dem man mit allem rechnen muss.

(*) Lula befindet sich nach 1 Jahr und 7 Monaten Haft seit Ende 2019 wieder auf freiem Fuss, nachdem der Bundesgerichtshof in einer neuen Grundsatzentscheidung feststellte, dass niemand inhaftiert werden darf, solange nicht alle juristischen Mittel ausgeschöpft sind. Durch ein Gesetz aus seiner Amtszeit könnte er derzeit allerdings nicht kandidieren, weil er bereits in zwei Instanzen verurteilt wurde.

Stand: 22.5.20

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