Das Assad-Regime setzt mit Hilfe von Corona seinen Krieg gegen die Bevölkerung fort
von Harald Etzbach
Es gebe in Syrien keine Infektionen mit dem Coronavirus, hat das Assad-Regime lange Zeit behauptet. Trotzdem wurden Mitte März eine Reihe von «präventiven» Maßnahmen ergriffen, darunter Schulschließungen, die Absage von Sport- und Kulturveranstaltungen und Einschränkungen oder Schließungen in der Verwaltung.
Ebenfalls seit Mitte März gibt es Berichte, dass in Deir ez-Zor im Osten des Landes vier Iraker und zwei Iraner an Covid-19 erkrankt und in ein Krankenhaus der iranischen Milizen in al-Mayadeen eingeliefert worden seien. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) sind bis Mitte April 116 Angehörige iranischer Milizen in Syrien erkrankt. Auch die pakistanischen Behörden erklärten, einige infizierte pakistanische Staatsbürger seien Heimkehrer aus Syrien.
Am 22.März bestätigte die staatliche Nachrichtenagentur SANA dann den ersten Fall einer Coronavirusinfektion in Syrien. Das Coronavirus Resource Center der Johns-Hopkins-Universität meldet für Syrien derzeit 25 Coronafälle, zwei Todesfälle sind bekannt. Dies sind lediglich die offiziell vom Regime gemeldeten Fälle, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, zumal Tests für das Virus so gut wie nicht vorhanden sind. SOHR berichtete am Osterwochenende von 72 bestätigten Fällen, ein Drittel von ihnen in der Küstenprovinz Latakia, zudem befänden sich 500 Menschen in Quarantäne. In Damaskus halten sich seit Wochen Gerüchte über eine Welle von Lungenentzündungen, und aus der südlichen Provinz Suweida berichten Journalisten, dass Bestattungsrituale bei Menschen, die an Lungenentzündungen gestorben sind, zum Teil in Sanitätsfahrzeugen abgehalten werden.
Biologischer Krieg
Die Pandemie trifft in Syrien auf ein Gesundheitssystem, das in Trümmern liegt. Während des seit neun Jahren andauernden Krieges waren Gesundheitseinrichtungen immer wieder ein bevorzugtes Ziel von Angriffen, von denen der Großteil auf das Konto des Assad-Regimes und seiner Verbündeten geht. Die Organisation Physicians for Human Rights hat für diesen Zeitraum den Tod von 923 Ärzten und anderen Angehörigen medizinischer Berufe dokumentiert. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben bis zu 70 Prozent der Ärzte das Land verlassen; nach über 600 Angriffen auf Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen ist nur noch die Hälfte von ihnen in Betrieb. Eine kürzlich von der London School of Economics veröffentliche Studie spricht von nur 325 Intensivbetten bei einer Bevölkerung von etwa 17 Millionen Menschen.
Eine Katastrophe könnte sich in allernächster Zeit in den syrischen Gefängnissen ereignen. Über 90000 Inhaftierte soll es zur Zeit geben, wahrscheinlich sogar erheblich mehr. Ehemalige Gefangene berichten, dass zum Teil bis zu 80 Menschen in einer Zelle zusammengepfercht werden. Unter solchen Bedingungen kann das Virus sich mit rasender Geschwindigkeit verbreiten.
Zwar hat die syrische Regierung vor kurzem eine Art Amnestie erlassen, doch gilt diese offenbar nicht für politische Gefangene. Aktivisten sprechen daher von einer bewussten Strategie des Assad-Regimes, eventuelle Masseninfektionen in den Gefängnissen hinzunehmen, um sich politischer Gegner zu entledigen.
Die Situation wird noch durch die faktische Spaltung des Landes in verschiedene Einflusszonen erschwert. Das Assad-Regime kontrolliert mit Unterstützung seiner Verbündeten das Zentrum, den Süden und die Küstengebiete. Der Nordosten befindet sich mit US-Unterstützung in kurdischer Verwaltung, die Türkei beherrscht einen breiten Streifen syrischen Territoriums entlang ihrer Grenze, und im Nordwesten gibt es einen Rückzugsort der syrischen Opposition.
In den Nordosten sind medizinische Hilfslieferungen der Vereinten Nationen nur mit Zustimmung des Regimes über das von ihm kontrollierte Gebiet möglich. Bislang war dies relativ problemlos möglich, in letzter Zeit jedoch weigerten sich die Behörden in Damaskus, Abstrichproben von Corona-Verdachtsfällen aus dieser Region in Laboren der Hauptstadt testen zu lassen.
In den Flüchtlingslagern
Im Nordosten, nahe der irakischen Grenze, liegt auch das Flüchtlingslager al-Hol. Hier leben etwa 70000 Menschen, darunter viele Anhänger des sog. Islamischen Staates (IS). Im Falle eines Covid-19-Ausbruchs könnte die Situation schnell außer Kontrolle geraten.
Völlig von der Welt abgeschnitten ist das Flüchtlingslager in al-Rukban an der Grenze zu Jordanien und unweit der Grenze zum Irak. Hier leben etwa 10000–12000 Menschen. Das Lager befindet sich unter der Kontrolle iranischer Milizen. Medizinische Versorgung ist so gut wie unmöglich, es gibt lediglich eine Krankenstation mit zwei Krankenschwestern. Eine auf jordanischer Seite betriebene Klinik von UNICEF wurde im März aus Vorsicht vor der Corona-Krise geschlossen. Die extreme Isolation des Lagers könnte einen Ausbruch der Krankheit verzögern, doch die Präsenz iranischer Milizen wirkt beunruhigend. Der Iran ist bekanntlich eines der Zentren der Pandemie.
Dramatisch ist die Situation in Idlib im Nordwesten des Landes, der letzten Region, die sich noch unter der Kontrolle der Aufständischen befindet. Zwar gibt es seit Anfang März eine von Russland und der Türkei vermittelte, fragile Waffenruhe, doch machen die elenden Lebensbedingungen der über eine Million Geflüchteten und Vertriebenen selbst die grundlegendsten Vorsichts- und Hygienemaßnahmen unmöglich. In den Zeltlagern und Massenunterkünften ist Abstandhalten eine Illusion, es herrscht Wassermangel, Seife gibt es so gut wie gar nicht. Auch die medizinische Versorgung ist miserabel.
In der gesamten Region gibt es laut Berichten des britischen Fernsehsenders BBC nur 95 Beatmungsgeräte – für eine Bevölkerung von 3–4 Millionen Menschen. Entscheidend wäre, möglichst viele Tests durchzuführen, doch die WHO hat erst Ende März Test-Kits geschickt, und nur ein Labor in der Provinz ist überhaupt in der Lage, die Tests auszuwerten.
Das Assad-Regime fordert unterdessen die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen, angeblich, um wirksamer gegen die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie vorgehen zu können – eine verlogene und zynische Kampagne. Denn medizinische Hilfsleistungen sind von den Sanktionen gar nicht betroffen, und es war das Regime, das gezielt und systematisch die medizinische Infrastruktur des Landes zerstört hat.
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