Antonio Andrioli erhielt den Naturschutzpreis vom BUND Bayern
Antonio Andrioli, brasilianischer Agrarwissenschaftler und SoZ-Autor, wurde im Januar dieses Jahres für seine verdienstvolle, kritische Forschung in Sachen Gensoja und sein grenzüberschreitendes Umweltengagement vom BUND Bayern mit Naturschutzpreis geehrt. Mit ihm hat der BUND einen würdigen Preisträger ausgewählt.
Andrioli hatte in den 2000er Jahren an der Uni in Osnabrück seine Dissertation geschrieben und sich danach zwei Jahre in Linz habilitiert. Anschließend wurde er in das Gründungskomitee der neuen brasilianischen Universität im Süden Brasiliens (UFFS) berufen, wo er bis heute tätig ist. Die Universität ist über drei Bundesstaaten verteilt, hat ihren Schwerpunkt in Agrarwissenschaften und Agrarökologie und fördert vor allem Studenten aus der regionalen Landbevölkerung.
Mit der politischen Rechtswende in Brasilien sind die wissenschaftlichen Ansätze der UFFS zunehmend unter Druck geraten. Antonio Andrioli wurde bereits im letzten Herbst als Vizepräsident der Universität abgelöst. Die SoZ freut sich sehr über die Preisverleihung, gratuliert Andrioli und spricht ihm ihre volle Solidarität aus. Er arbeitet derzeit an der Herausgabe eines Buches, das neben den zentralen Forschungsergebnissen und Hauptthesen seiner Dissertation auch zahlreiche Beiträge über die zurückliegende politische Entwicklung in Brasilien, den Streit um die Anwendung von Gensoja und Agrargiften sowie den massenhaften Einsatz von brasilianischer Gensoja als Futtermittel in Deutschland und der EU enthält. Das Buch soll sowohl auf portugiesisch wie auf deutsch erscheinen.
Im folgenden bringen wir die Münchner Dankesrede von Antonio Andrioli vom Januar dieses Jahres, die uns vom Autor zur Verfügung gestellt wurde.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte mit diesem Text mein Gefühl ausdrücken, wie ich mich darüber freue, vom BUND Naturschutz in Bayern geehrt zu werden. Gleichzeitig möchte ich mich bei allen Menschen und Institutionen bedanken, die mich im Laufe der vielen Jahre in diesem Land unterstützt haben. Seit Dezember 2019 bin ich in München am Rachel Carson Center der Ludwig-Maximilians Universität tätig, dessen Leitung mich hier sehr freundlich als Gastwissenschaftler in der international ausgerichteten Forschungsgruppe aufgenommen hat und ermöglicht, dass ich für drei Monate in Bayern sein kann, wo ich mich sehr wohl und teilweise sogar dahoam fühle.
Es ist für mich tatsächlich die wichtigste Auszeichnung, die ich mir bisher wünschen konnte, sowohl weil ich hier in Bayern sehr oft unterwegs war, als auch weil ich hier sehr viel von den Menschen, insbesondere von den Bäuerinnen und Bauern gelernt habe, nämlich auf die Natur zu achten. Die Bauernfamilien der Alpenregion, aus der auch meine Vorfahren stammen, haben eine Widerstandskraft entwickelt, die mich sehr dazu inspiriert, mich für eine bessere, gerechte und nachhaltige Welt einzusetzen und dabei niemals aufzugeben.
Es ist schon lange her, dass ich zum ersten Mal mit dem BUND und insbesondere dem BUND Naturschutz in Bayern in Berührung kam. Es war noch zu der Zeit meiner Promotion in Deutschland, als ich ständig unterwegs war, um an Veranstaltungen zum Thema Agro-Gentechnik mitzuwirken. Gemeinsam haben wir seitdem viel dazu beigetragen, gegen die Umsetzung einer solchen Technologie vorzugehen, die darauf basiert, die Natur zu beherrschen und zu bekämpfen, sie lediglich auszunutzen, ohne sie als einzigartige und komplexe Grundlage unseres Lebens zu verstehen und zu schützen. Die Folgen davon sind längst sichtbar: Die Natur wehrt sich und aus ihrer Reaktion entstehen neue ökologische Probleme in der Landwirtschaft.
Ich glaube es war Goethe, der uns davor gewarnt hat, dass die Natur keinen Spaß verstehe. Diese Warnung ist immer noch sehr aktuell, denn die Menschen scheinen diese Botschaft zu unterschätzen. Besonders in Ländern wie Brasilien, die noch über sehr viele Naturressourcen verfügen, wird weiter daran geglaubt, sie seien unbegrenzt und nur dazu da, in Profit umgesetzt zu werden.
Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass unsere Umweltproblematik gleichzeitig auch ein Problem des Wissens ist, also der Art und Weise, wie Wissen zustande kommt, umgesetzt wird und wieder als neues Wissen entsteht. Es fehlt anscheinend an kritischem Denken und sicherlich an Umweltbewusstsein. Aber es ist noch schlimmer: Kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind meistens nicht erwünscht, wenn sie mächtige Interessen in Frage stellen. Engagierte Wissenschaftler werden immer noch verfolgt, wenn sie den Interessen der Wirtschaft widersprechen. Dabei ist Kritik eine Voraussetzung von Wissenschaft und kritisches Bewusstsein eine der großen Errungenschaften des Menschen. Was wird aus einer Wissenschaft, wenn sie nicht kritisch und hinterfragend ist? Meines Erachtens wird sie dann zur Ideologie, also zur bloßen Rechtfertigung von Interessen.
So formulierten es auch zum Beispiel Jürgen Habermas und insbesondere Herbert Marcuse Ende der 1960er Jahre: Technik und Wissenschaft wirken als Ideologie. Und vielen ist das sicherlich gar nicht so bewusst. Immer wieder habe ich dies in wissenschaftlichen Debatten erfahren müssen, wie zum Beispiel zu der Zeit meiner Teilnahme an der brasilianischen Biosicherheitskommission, die aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besteht und ursprünglich eine beratende Funktion zur Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen hatte. Ich gehe heute davon aus, dass die Zusammenhänge dort einfach nicht mehr verstanden werden und viele überhaupt nicht mehr wissen, was sie tun. Wie sollten wir von solch einer einseitigen Wissenschaft Lösungen erwarten, wenn sie selbst viele der Probleme unserer Zeit verursacht? Es kommt noch hinzu, dass nicht selten ausgerechnet die kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, also die wenigen noch unabhängig Forschenden, als Ideologinnen und Ideologen bezeichnet werden. Aber klar, auch das gehört zur ideologischen Denkweise: Sich selbst als wertneutral darzustellen und immer die anderen als ideologisch zu stigmatisieren.
Ich finde es auch ehrlicher, in jeder wissenschaflichen Debatte offen zu sagen, welche Interessen man als Wissenschafter eigentlich vertritt. Auch darzustellen, wer meine Studien finanziert, wie zum Beispiel meine Promotion in Deutschland, die nur möglich wurde, weil ich ein Stipendium von Brot für die Welt erhalten habe. Es scheint mir einen großen Unterschied auszumachen, ob Wissenschaft aus privaten oder öffentlichen Geldern finanziert wird. Auch das hat mit Interessen zu tun. Deshalb brauchen wir viel mehr unahängige Forschungseinrichtungen, damit Wissenschaft nicht zur Propaganda mächtiger Konzerne wird und damit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wegen ihrer zunehmenden Abhängigkeit von Drittmitteln es nicht verlernen, auf die wichtigsten Fragen der Menschheit zu achten.
Es geht mir aber selbstverständlich nicht nur um Interessen. Auch das bäuerliche Wissen selbst ist mir wichtig. Ich halte es zum Beispiel überhaupt nicht für schwierig, einem Bauern zu erklären, was der Begriff Nachhaltigkeit bedeutet. Denn er will doch auch, dass nach ihm seine Söhne, Töchter, Enkelkinder weiter den Hof übernehmen und zwar unter besseren Bedingungen, als er sie selbst hatte. Ein Bauer hier in Bayern erzählte mir, dass er Umweltschützer sei, indem er dafür sorgt, dass der Boden und alle weiteren Naturressourcen so erhalten bleiben, dass der Hof dauerhaft bewirtschaftet werden kann.
Und vielleicht noch wichtiger: Die landwirtschaftliche Produktion muss auch deshalb nachhaltig und gesund sein, weil er und seine Familie sich selbst davon ernähren. So ist auch das Wasser, das er selbst trinkt, nur sauber, wenn er dafür sorgt, dass es nicht verseucht wird. Es macht einen großen Unterschied aus für diejenigen, die auf dem Land wohnen, arbeiten und leben, denn es geht grundsätzlich um ihre eigene gesunde Umwelt und die daraus folgende Lebensqualität.
Ich habe in Deutschland gelernt, das Wort Lebensmittel zu schätzen. Und darum geht es eigentlich in der Landwirtschaft: Um die Produktion von Lebensmitteln, also von Produkten, die es uns ermöglichen, zu leben. Gesunde und nachhaltige Lebensmittel zu produzieren heißt auch, eine besondere Lebensweise zu haben, die eine Nähe zur Natur und aller ihrer Lebewesen erfordert. Eine bestimmte Lebensweise erfordert auch eine besondere Denkweise, ein nachhaltiges Bewusstsein zu allem, was man tut, kohärent mit allem, was man denkt. Dies ist nur möglich, wenn man das begreift, was man in der bayerischen Sprache so schön in einem Begriff ausdrücken kann: weiloisirgendwiazamhängd.
Dieses Verständnis des ganzheitlichen Denkens im Einklang mit der Natur ist meines Erachtens die größte Herausforderung an die Wissenschaft unserer Zeit. Die Trennung zwischen Denken und Handeln und die zunehmende Spezialisierung haben zur Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, fehlendem Bewusstsein und Resignation bei den Menschen geführt. Fast alles über fast nichts wissen zu wollen führt zu Arroganz, indem geglaubt wird, dass nur wenige über das spezielle Fachwissen verfügen. Gleichzeitig führt diese Denkweise aber auch zur Ignoranz, denn außerhalb des speziellen Fachwissens weiß man doch immer weniger über das Gesamte und die Zusammenhänge, die das Gesamte erst bilden.
Man kann also sagen, dass es die Menschheit schon weit gebracht hat, um vom Gesamten zum Partikulären zu kommen. Aber der Rückweg zum Gesamten scheint eher schwierig, jedoch entscheidend, denn die Natur wiederum muss als Ganzes betrachtet werden. Auch die Wechselwirkungen zwischen Natur, Mensch und Gesellschaft zu verstehen, ist entscheidend, wenn es um Nachhaltigkeit geht, denn sie hängt mit der Frage der Gerechtigkeit zusammen. Ökologische und soziale Probleme treten meist gemeinsam auf, und deshalb sind Umwelt und Gesellschaft nicht zu trennen.
Und so sind wir wieder beim Thema der Interessen. Denn was sollte die Menschheit mehr interessieren als die Frage ihrer eigenen Existenz? Dies ist auch die entscheidende Frage, die mich mit den Bauernfamilien verbindet, denn es ist nicht davon auszugehen, dass es eine Zukunft ohne bäuerliche Landwirtschaft gibt. Deshalb hier an dieser Stelle ein Plädoyer vom Sohn eines kleinen Sojabauern aus Brasilien mit deutscher Abstammung: Wenn wir uns überhaupt eine Zukunft wünschen, sollte so wie derzeit der Naturschutz auch die regionale bäuerliche Landwirtschaft an Bedeutung und Annerkennung gewinnen!
Es gibt sie noch, die Bäuerinnen und die Bauern, und anders als von vielen Wirtschaftswissenschaftlern prognostiziert, sind sie in vielen Ländern weiterhin ein wichtiger Bestandteil der Bevölkerung und damit entscheidend für deren Ernährungssouveranität. Wenn ich von einer Bauernkultur spreche, meine ich natürlich auch die Agrikultur. Darunter verstehe ich, dass die Produktion von Lebensmitteln nicht auf wirtschaftliche Aspekte reduziert werden darf. Wirtschaft und Ökologie haben denselben Ausgangspunkt, nämlich sich um unser Zusammenleben zu kümmern. Diese Kultur des Gemeinwohls zu fördern oder in anderen Worten, Naturschutz und Agrikultur zu verbinden, heißt für mich, gegen den Trend der Industrialisierung der Landwirtschaft vorzugehen. Gerade auf Grund ihrer unmittelbaren Verbindung zur Natur kann man die Landwirtschaft sowieso nicht vollständig industrialisieren. Agrikultur beinhaltet den sorgsamen Umgang mit den Naturressourcen, was von den meisten Ökonomen nicht berücksichtigt wird.
Ich habe hierbei kein Problem, öffentlich zu sagen, dass ich als Wissenschaftler im Interesse der Bauern forsche und mich bewusst für eine bäuerliche, nachhaltige, solidarische, gentechikfreie und peztizidfreie Landwirtschaft einsetze. Eine ehemalige Bundesministerin für Landwirtschaft in Brasilien sagte mir, dass mein Buch „Agro-Gentechnik: Die Saat des Bösen“ (das inzwischen auch ins Portugiesische übersetzt wurde) nicht wissenschaftlich sei, weil jeder Bauer, der es liest, es verstehen könne. Ich halte diesen Vorwurf für ein großes Lob an das Buch, denn es war eigentlich auf der Basis meiner Doktorarbeit für ein breites Publikum gedacht, besonders für die Bauern. Aber der Vorwurf deutet auf eine Art von Wissenschaft hin, Wissen zu erzeugen, das nicht jeder und jede verstehen kann oder verstehen soll. Gleichzeitig wird damit auch eine merkwürdige Sichtweise auf die Bäuerinnen und Bauern deutlich. So als ob sie in der Gesellschaft diejenigen Menschen sind, die am meisten Schwierigkeiten haben, Wissenschaft überhaupt zu verstehen. Da bin ich anderer Meinung.
Im Jahre 2009, als mich der damalige brasilianische Bildungsminister zum Mitglied der Gründungskommission einer neuen staatlichen Universität in meiner Region ernannte, bin ich sofort aus Österreich zurückgekehrt, weil ich hierin die einmalige Chance sah, den Grundstein für die erste Bauernuniversität Brasiliens zu legen. So bauen wir seit zehn Jahren eine Universität auf mit dem Schwerpunkt u.a. auf nachhaltiger Landwirtschaft, an der die Bauernorganisationen als Protagonisten bei der Entwicklung von Wissen mitwirken und über die Bildungsinhalte mitbestimmen. Wir waren davon überzeugt, dass wir dafür eine öffentliche Universität benötigen, die zu 100 Prozent durch öffentliche Gelder finanziert wird und somit eine unabhängige und kontextbezogene Forschung ermöglicht.
So ist die Universidade Federal da Fronteira Sul (UFFS) entstanden; als Antwort der brasilianischen Bundesregierung auf die Forderung der Zivilgesellschaft, und besonders durch den Druck der sozialen Bewegungen in ländlichen Gebieten. Die mittlerweile sechs Campi befinden sich an der westlichen Grenze zu Argentinien (also weit entfernt von der Copa Cabana und den großen Metropolen). Es ist die erste staatliche Universität des Landes, die in allen Studiengängen der Agrarwissenschaften den Schwerpunkt auf Agrarökologie gelegt hat; die mehr als 30 Prozent ihrer Lebensmittel für die Kantinen direkt von den Bauern aus der Region kauft; die regelmäßig eimal pro Woche einen Bauernmarkt auf ihren sechs Standorten organisiert, wovon ein Campus der erste Brasiliens auf einer Ansiedlung der Landlosenbewegung ist.
Seit fünf Jahren sind wir jetzt dabei, auch im Bereich des Gesundheitswesens den Bezug zu Nahrungsmitteln und damit die Verbindung zur Landwirtschaft herzustellen, wie zum Beispiel im Rahmen der Umweltgesundheit, wo der Frage der Auswirkung von Pestiziden auf die Gesundheit nachgegangen wird. Die Verbindung zur Landwirtschaft ist auch in anderen Bereichen sichtbar, wie etwa der ländlichen Bildung (die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für die Schulen auf dem Land), der Studiengang mit den meisten indigenen Studierenden. Oder bei den Wirtschaftswissenschaften und bei der Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt auf Genossenschaftswesen, den Umweltwissenschaften mit Schwerpunkt auf erneuerbare Energien, den Ernährungswissenschaften mit Schwerpunkt auf Ernährungssouveränität und der Tiermedizin und Aquakultur mit Schwerpunkt auf Tierwohl und Tiergesundheit.
Tatsächlich kommt die Mehrheit unserer Studierenden aus der Region, die bäuerlich geprägt ist, wo die meisten Jugendlichen auf andere Weise niemals Zugang zu einer öffentlichen Hochschule bekommen hätten. Über 90 Prozent unserer Studierenden kommen von öffentlichen Schulen (was für Brasilien einmalig ist) und 87 Prozent zählen zur ersten Generation in ihren Familien, die eine akademische Ausbildung absolvieren. Die UFFS ist die einzige Universität Brasiliens in den drei Bundesländern im Süden des Landes, die mit den meisten indigenen Studierenden und die erste mit einem speziellen Zulassungsverfahren für Migrantinnen und Migranten, die auch von einem eigenen Menschenrechtszentrum betreut werden. Nachhaltigkeit ist an der UFFS fachübergreifend konzipiert und der nachhaltigen Landwirtschaft wird die größte Bedeutung zugeschrieben.
Was wir im Laufe des letzten Jahrzehntes erreichen konnten, macht mir sehr viel Hoffnung. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Erhaltung einer Bauernkultur auf der Agenda aller Regierungen stehen sollte, denn sie wird immer wichtiger angesichts der Umweltkrisen, die wir bereits erleben und die uns noch bevorstehen. Das heißt natürlich nicht, dass wir keine moderne Wissenschaft brauchen. Im Gegenteil: Agrarökologie heißt für mich, das traditionelle bäuerliche Wissen mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kombinieren und zu vermitteln. Deshalb sind auch staatliche öffentliche Investitionen so entscheidend für einen Übergang zur Agrarökologie, die meines Erachtens die einzige tragfähige Produktionsform von Lebensmitteln der Zukunft ist.
In den ersten Jahren der Übergangsperiode zur agrarökologischen Produktion ist dennoch ein geringerer Ertrag und höherer Arbeitsaufwand zu berücksichtigen, was sich mit der Zeit stabilisiert, sich aber zunächst für die Bauern rechnen muss. In dieser Zeit müssen Regierungen die Bauern unterstützen und es auch endlich begreifen, dass der Naturschutz mittel- und langfristig zu Einsparungen führt, wie zum Beispiel im öffentlichen Gesundheitswesen, wo die krankmachenden Auswirkungen des Einsatzes von Pestiziden meist von den Steuerzahlern bezahlt werden müssen. Ökologische und soziale Effekte der Industrialisierung werden meistens vernachlässigt und die Kosten dafür externalisiert, so wie zum Beispiel die Zunahme der Arbeitslosigkeit, die in den meisten Ländern zur Landkonzentration, Landflucht, Verarmung, Verschuldung und paradoxerweise zu mehr Hunger auf dem Land führt.
Ich komme aus einem Land, in dem fast alle Pflanzen der Welt gedeihen. Die Vielfalt an Naturressourcen sowie die verschiedenen Boden- und Klimabedingungen könnten das Land zu einem der wichtigsten Produzenten von Lebensmitteln machen. Trotzdem werden dort hauptsächlich Monokulturen angebaut wie zum Beispiel die Sojabohne, die hauptsächlich als billiges Futtermittel exportiert wird. Wir sind deshalb Weltmeister beim Einsatz von Pestiziden und bei der Landkonzentration geworden und haben weiter gegen die Armut und den Hunger auf dem Land zu kämpfen. Die Zerstörung des Amazonas- sowie des Cerradogebiets zählt zu den bekanntesten Folgen des Sojaanbaus und der Rinderherden in einem Land, das seit Jahrhunderten mit seinen Naturressourcen zum Wohlstand in anderen Teilen der Welt beiträgt.
Ich weiß, dass diese Entwicklung auch den Bauern hierzulande schadet und eine Veränderung der internationalen Agrarpolitik zugunsten einer regionalen Landwirtschaft eine Lösung wäre. Konkrete Ansätze wie die weltweite Reduzierung des Konsums von Tierprodukten, der Massentierhaltung und der Sojaimporte, wenn sie mit Menschenrechtzverletzungen und Umweltzerstörung verbunden sind, könnten erheblich dazu beitragen, dass die Bauernfamilien sowohl in Brasilien als auch hier in Europa bessere Überlebenschancen hätten.
In diesem Kontext gehört es zu den wichtigsten Maßnahmen unserer Zeit, das bisher geplante Freihandelsabkommen Mercosur zwischen der EU und Lateinamerika zu stoppen, um den Naturschutz und die Menschenrechte auf beiden Seiten des Atlantiks zu fördern, denn Autos und Industriegüter aus Deutschland gegen billiges Fleisch, Ethanol und Soja aus Brasilien zu tauschen, schadet den Bauern sowohl hier als auch dort. Fleischkonsum ist ein wichtiger Treiber des Klimawandels und des Biodiversitätsverlustes. Und Agrartreibstoffe aus Monokulturen, die mit großem Einsatz von Pestiziden und Waldrodungen verbunden sind, gelten auch nicht als nachhaltig. Außerdem müssen die sozialen und ökologischen Folgen dieser Importe unbedingt berücksichtigt werden. Ebenso die Energiekosten, wie sie z. B. durch die langen Transportwege entstehen, da sie zweifellos mit einer riesigen Menge fossiler Energie verbunden sind.
Wir brauchen also eine bäuerliche, nachhaltige, solidarische, gentechnikfreie und pestizidfreie Landwirtschaft. Dafür ist Wissen sehr wichtig und wir haben sicherlich vieles voneinander zu lernen!
Wissenschaftler glauben viel zu wissen, manchmal zu verstehen, aber selten betroffen zu sein. Bauern fühlen sich ständig betroffen, verstehen manchmal viel, aber selten glauben sie an ihr Wissen. Deshalb finde ich es so genial, was mit dem irgendwia in dem Zitat weiloisirgendwiazamhängd gemeint ist. Sie sind sich ihres Wissens also nicht sicher, und deshalb ist es irgendwia. Wie etwas ist, das sollte man schon mal versuchen zu beantworten. Dass aber alles miteinander zamhängd, das ist den Bauern bereits klar und die Wissenschaftler sollten sich daran ein Beispiel nehmen.
Ich glaube also weiter daran, dass Bauern viel wissen, auch wenn es noch nicht alles wissenschaftlich bewiesen ist; dass auch Wissenschaftler von der Natur betroffen sind und versuchen sollten, sie zu verstehen, anstatt nur mit ihr herumzuspielen. Indem die beiden (also Bauern und Wissenschaftler) in der Lage sind zu verstehen, gehe ich davon aus, dass sie sich auch besser miteinander verstehen sollten. Darin sehe ich die große Chance und das ist auch schon meine Zusammenfassung!
Durch die Agrarökologie ist es möglich, Naturschutz und Agrikultur zu verbinden, um eine enkeltaugliche Produktionsform von Lebensmitteln zu gestalten. Es geht dabei aber auch um den Dialog, darum, voneinander zu lernen, Wissenschaft und Praxis zu verbinden und das Ziel einer agrarökologischen Transformation auf allen Ebenen (auch der politischen) gemeinsam zu verfolgen.
Es gibt also viel zu tun und wir sollten uns weiter gemeinsam auf den Weg machen. Zu dieser für mich sehr erfreulichen Gelegenheit wieder hier zu sein und ab heute als Ehrenmitglied beim BUND Naturschutz in Bayern mitwirken zu dürfen, ist mir in diesen schwierigen Zeiten Brasiliens eine große Unterstützung. Es macht mir in der Tat sehr viel Hoffnung. Die braucht es auch, um genügend Kraft zu haben, trotz allem weiterzumachen.
Diesem Gedanken folgend, möchte ich mich hier nochmals ganz herzlich bei Ihnen allen und besonders beim Vorstand und den Mitgliedern des BUND Naturschutz in Bayern für diese Anerkennung bedanken! Sie haben mir viel Kraft und Hoffnung gegeben, die ich gerade in diesen schwierigen Zeiten unbedingt gut gebrauchen kann. Vielen Dank!
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