Jahre der Hoffnung
von Manuel Kellner
Jacqueline Heinen … und 110 andere: 1968… Jahre der Hoffnung. Rückblick auf die Revolutionäre Marxistische Liga/Sozialistische Arbeiterpartei. Zürich: Edition 8, 2019. 343 S., 23,20 Euro
Die Revolutionär-Marxistische Liga (RML/LMR), später Sozialistische Arbeiterpartei (SAP/POS), war von 1969 bis 1988 die Sektion der IV.Internationale in der Schweiz. Der IV.Internationale sehr nahestehende Organisationen (wie die Bewegung für den Sozialismus – BfS/MPS) gibt es in diesem Land auch heute, doch haben sie zumindest bislang weniger Mitglieder und weniger Einfluss als die RML bzw. SAP damals, die auf ihrem Höhepunkt rund 600 Mitglieder und etwa 1500 SympathisantInnen zählte und besonders durch wirksame Kampagnen zu bestimmten Volksentscheiden von sich reden machte.
Die Autorin des vorliegenden Buchs war selber Mitglied und auch viele Jahre lang führend in der IV.Internationale. Sie hat für die französische Originalausgabe 110 schriftliche Zeugnisse ehemaliger Mitglieder der RML eingeholt. Diese werden ausgiebig zitiert. Die Befragten stammen aus allen Teilen der Schweiz, mehrheitlich jedoch aus der Romandie und der Deutschschweiz. In der Einleitung beschreibt Heinen die Atmosphäre der frühen Jahre, die Bedingungen der Organisationsgründung und die Besonderheiten des politischen Profils der RML bzw. SAP, die sich in nicht allzu dogmatischer Weise der trotzkistischen Tradition zuordnete.
Die Mehrzahl der 110 Mitglieder (etwa ein Drittel von ihnen Frauen) waren nicht Kinder von AkademikerInnen, hatten aber selber akademische Abschlüsse gemacht. Viele verdienten später ihr Geld mit Bildungsarbeit oder als Hauptamtliche von Gewerkschaften. Obwohl sie das Funktionieren und Agieren ihrer damaligen Organisation unter einer Reihe von Gesichtspunkten heute kritisch sehen, zeigen die wenigsten von ihnen sich erbittert wegen der damaligen Erfahrungen oder ihren verlorenen Illusionen – das Gefühl vergleichsweise kurz vor einer revolutionären Entwicklung (weltweit und «sogar auch» in der Schweiz) zu stehen, war unter ihnen damals sehr verbreitet.
Nachdem die «Wende zur Industrie» (die Integration in die Betriebe und darauf aufbauende Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit) gescheitert war, verdichtete sich mehr und mehr der Eindruck, dass die Organisation mit den neuen politischen Entwicklungen nicht mehr Schritt halten und keine wirksame Perspektive mehr bieten konnte. Sie implodierte in einem chaotischen und unkontrollierbaren Prozess. Die große Mehrheit der Befragten möchte dennoch die damaligen Erfahrungen nicht missen und blieb seither politisch interessiert und engagiert. Der deutlich ausgeprägte Internationalismus der Strömung, aus der diese Organisationen hervorgegangen waren, behält für die meisten «Ehemaligen» seinen bleibenden Wert.
Im Buch werden eine Vielzahl von Themen angesprochen: die theoretischen Bezüge, die Haltung zu bewaffneten Kämpfen und zur Demokratie, der Einfluss des Feminismus, der damalige radikale Sittenwandel, das Gefühl, mehr zu wissen als andere Linke und ihnen gegenüber «recht zu haben», der Zusammenhang von politisch und privat, von Aktivismus und Freizeitgestaltung, die teils mangelhafte Allgemeinverständlichkeit der eigenen Publikationen, das sehr fordernde und teils bedrängende Innenleben der Organisation, usw.
Ein wichtiges Problem war die «Hyperaktivität», eine Erfahrung, die die Mitglieder der IV.Internationale in Deutschland (der GIM – Gruppe Internationale Marxisten) ebenso durchmachten. Es gibt andere Erfordernisse des Lebens, und die kamen meistens zu kurz. Kein Wunder, glaubte wir doch, die entscheidenden großen Klassenkämpfe stünden in den nächsten fünf Jahren an – nur reformistische Traumtänzer konnten daran zweifeln… Allein, dieser mörderische Aktivitätsgrad war natürlich ein Hindernis dafür, dass sich «normale» Menschen in größerer Zahl solchen Organisationen hätten anschließen können.
Das vorliegende Buch ist sehr zur Lektüre zu empfehlen – als Hilfe zur Selbstbesinnung für diejenigen, die Vergleichbares erlebt haben, und zur Information der anderen, die seit ein paar Jahren aktiv sind und aus den damaligen guten wie schlechten Erfahrungen lernen können.
Die Texte finden sich auf der Seite http://aehmo.org/fonds-archives/fonds-de-temoignages-lmr-rml/.
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