Was braucht es, um Seuchen zu besiegen?
von Angela Klein
Um die Corona-Pandemie richtig einordnen zu können, hilft ein Blick in die Vergangenheit.
Die Corona-Pandemie hat die Gesellschaften des globalen Nordens mit einer Erfahrung konfrontiert, die lange vergessen und überwunden schien: die Erfahrung mit Seuchen, die nicht nur einzelne Regionen der Welt betreffen (wie Ebola oder Malaria oder MERS), auch nicht nur bestimmte Personengruppen (wie AIDS), sondern breite Bevölkerungsschichten auf der ganzen Welt.
So rasch, wie sie sich überall hin ausgedehnt hat, ist Corona bislang einzigartig unter den Pandemien – eine Folge dessen, dass der Mensch durch die modernen Transport- und Kommunikationswege zeitlich und räumlich enger zusammengerückt ist – angetrieben durch die Landnahme des Kapitalismus nach dem Fall der Mauer und die darauffolgende global arbeitsteilige Produktion.
Als Krankheit aber, die plötzlich breite Teile der Bevölkerung befällt, ist sie vergleichbar mit den großen Seuchen in der Geschichte Europas – Pest, Pocken, Cholera, Tuberkulose, um nur einige zu nennen –, wenngleich weitaus harmloser als diese. Vergleichbar ist das Geschehen dennoch, denn damals wie heute kannte man noch kein Medikament und keinen Impfstoff dagegen, die kamen erst viel später.Man musste (und muss) mit der Unsicherheit leben, mit Ereignissen und Verläufen, die der Mensch entweder nicht verstand und/oder nicht vorhersagen, sich deshalb nicht darauf einstellen konnte.
Die Pest hat sich aus Europa im Verlauf des 18.Jahrhunderts weitgehend zurückgezogen, und auch die Überwindung der Cholera- und Tbc-Epidemien hatte wesentlich mit einer Hebung des Lebensstandards, der Trennung von Wasser und Abwasser, dem Bau von Kanalisation und der allmählichen Durchsetzung von Ansätzen eines öffentlichen, staatlich kontrollierten und finanzierten Gesundheitssystems zu tun. (Als in den 1970er Jahren in New York das öffentliche Gesundheitswesen abgeschafft wurde, brach die bereits besiegte Tuberkulose in den 80er Jahren dort wieder aus; die «Armenkrankheit» Cholera traf 1973 Neapel.)
Der Weg vom Auffinden des Erregers bis zum flächendeckend einsetzbaren Impfstoff war immer lang. Das Bakterium Yersinia pestis, das die Menschen in Europa seit der Mitte des 14.Jahrhunderts bis zum letzen Ausbruch der Pest in Marseille 1720 ständig begleitet hat, wurde 1894 von dem Schweizer Arzt Alexander Yersin entdeckt, ein Impfstoff aber erst Ende der 30er Jahre entwickelt.
Die Pocken (Virus variola) waren neben der Pest die mörderischste Seuche, weil es gegen sie keine Medikamente gab und gibt, sie kann nur durch Impfung vorbeugend abgewehrt werden. Solche Impfungen waren schon im Altertum bekannt und wurden praktiziert; besonders erfolgreich war die Impfung mit Kuhpocken, die der britische Arzt Edward Jenner 1796 erstmals durchführte.
Doch das Auffinden des Impfstoffs reicht nicht, es braucht auch Strukturen, die flächendeckend Impfungen durchführen. Erst 1966 beschloss die WHO eine weltweite Impfpflicht, durch die die Pocken 1979 für «ausgerottet» erklärt werden konnten. Einen solchen Konsens gibt es heute in bezug auf die Masernimpfung nicht.
Die erste Cholerapandemie trat zwischen 1817 und 1820 in Ostafrika und Asien auf und bahnte sich im Laufe des 19.Jahrhunderts ihren Weg durch Europa; entdeckt wurde der Erreger Vibrio cholerae 1854 von Filippo Pacini und 1883 von Robert Koch; einen anerkannten Impfstoff gab es erst Mitte der 1890er Jahre.
Die Tuberkulose trat gehäuft in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts auf; sie war «die» Fin-de siècle-Krankheit schlechthin. Den Erreger Mycobacterium tuberculosis identifizierte wiederum Robert Koch 1882, erste Impfungen dagegen gab es jedoch erst 1921, und erst 1943 wurde das Antibiotikum Streptoymycin entwickelt. Tuberkulose ist bis heute neben AIDS und Malaria die weltweit am weitesten verbreitete lebensgefährliche Infektionskrankheit.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die allgemeinen Lebensbedingungen sich massiv verbesserten, Impfstoffe und Antibiotika gegen die alten Seuchen gefunden waren und flächendeckend Impfprogramme an den Schulen durchgesetzt wurden, galten die Infektionskrankheiten als «besiegt»: «Es ist an der Zeit, das Buch der Infektionskrankheiten zu schließen», lautete die vorherrschende Meinung. Als neue «Volkskrankheiten» galten nunmehr Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs…
Bis Anfang der 80er Jahre AIDS auftrat, gefolgt von einer Kette von Epidemien – SARS 2003, die Vogelgrippe 2005, die sog. Schweinegrippe 2009, MERS 2012, Ebola 2014. Längst nicht gegen alle gibt es einen Impfstoff. Sie hat die politisch Verantwortlichen und die Medien nicht wirklich aufgeschreckt, galt doch die Meinung, die Anzahl der betroffenen Personen sei relativ leicht einzugrenzen. Mit Ausnahme von Ebola und AIDS gehören die Erreger dieser Epidemien alle zu den Influenza-A-Viren, zu der auch die Spanische Grippe von 1918 zählt. Von den «alten» Seuchen, die durch Handel oder Kriegszüge aus Zentralasien nach Europa kamen, unterscheiden sie sich dadurch, dass sie ihren Ausgangspunkt in den kapitalistischen Methoden der Massentierhaltung bzw. in der Verwertung von Wildtieren für den Markt haben. Bereits die sog. Spanische Grippe ging von einer Tierfarm in Kansas, USA, aus.
Seit Anfang des neuen Jahrhunderts warnen die WHO und wissenschaftliche Institute vor der Häufung immer neuer, unvorhersehbarer Epidemien, die die Wirtschaft massiv beeinträchtigen können – stets verbunden mit der Aufforderung an die Politik, die notwendigen Vorkehrungen insbesondere im Gesundheitsbereich zu schaffen, die bislang ebenso regelmäßig ignoriert wurden. Eine US-Studie aus dem Jahr 2009 hat Daten von 1940 bis 2004 zusammengetragen und das Auftreten mehrerer hundert Epidemien weltweit in diesem Zeitraum dokumentiert. Die große Mehrheit davon, nämlich über 60 Prozent, sei von Tieren auf Menschen übertragen worden, davon in 72 Prozent der Fälle von Wildtieren. Wir können getrost davon ausgehen, dass wir diese Epidemien solange nicht loswerden, solange die Agrarindustrie ungehindert Raubbau an der Natur betreiben kann.
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