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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2020

«Die Regeln der WHO greifen hier nicht»
von Chantal Rayes

Das größte Land Lateinamerikas ist auch das am stärksten von COVID-19 betroffene.
Tag und Nacht begräbt Manaus seine Toten. Die Bilder von an­ein­andergereihten Särgen in Massengräbern haben die ganze Welt bewegt.

Die Anzahl der täglichen Beisetzungen hat sich verdreifacht und beträgt jetzt über einhundert. Die Stadtverwaltung der größten Stadt Amazoniens hatte sogar daran gedacht, die Grabstätten zu stapeln, dann aber die Idee aufgegeben.
Der Bürgermeister von Manaus, Arthur Virgílio Neto, glaubt nicht an die offiziellen Zahlen. Im April soll COVID-19 «nur» 399 Todesopfer im gesamten Bundesstaat gefordert haben. Doch allein in Manaus gab es 2435 Tote (fast soviel wie im ganzen ersten Quartal des Jahres). Die Feststellung der Todesursachen ist unzureichend, doch immer häufiger lautet sie auf «Atembeschwerden» oder «Ursache unbekannt». Am wahrscheinlichsten ist der Verdacht auf Infizierung mit dem neuen Coronavirus, meint der Bürgermeister, der zu internationaler Solidarität aufruft. Krankenhausbetten, Arzneimittel, medizinisches Personal – «an allem fehlt es hier in Amazonien», sagt Virgílio Neto.
Neto beschuldigt den Präsidenten Jair Bolsonaro, die Brasilianer «demobilisiert» zu haben, indem er ständig wiederholte, das Virus sei nur eine «kleine Grippe». «Bürgermeister und Gouverneure fordern die Leute auf, zu Hause zu bleiben, aber der Staatschef, mit dem Prestige seines Amts, sagt das Gegenteil. In Amazonien wird die Quarantäne nur halb befolgt. Es gibt viele Leute auf den Straßen. Um sich zu vergnügen, nicht um zu arbeiten.»
Die Tragödie von Manaus klingt wie ein Alarmsignal für den Rest Brasiliens. Keine andere Stadt ist vor einer brutalen Überlastung der Krankenhauskapazitäten sicher. Nicht einmal das florierende São Paulo, mit 3100 Toten eine der am meisten betroffenen Städte. Präventiv hat die Stadtverwaltung dort 3000 zusätzliche Gräber ausheben lassen. Immer mehr Brasilianer sterben am neuen Coronavirus… «Na und?», sagte Bolsonaro, «es tut mir leid, aber was soll ich tun?»

Das Gesundheitssystem
Im Zentrum von São Paulo ist das Instituto de Infectologia Emílio Ribas eine Stütze des Sistema Único de Saúde (SUS) – mit diesem öffentlichen Gesundheitssystem ist Brasilien das einzige Land mit über 200 Millionen Einwohnern, das seiner gesamten Bevölkerung eine kostenlose Behandlung ermöglicht. Das 1880 gegründete Institut ist zugleich Krankenhaus und zentraler Referenzpunkt für Infektionskrankheiten. Gestern waren es die Pocken, die Spanische Grippe oder AIDS. Heute ist es COVID-19, und schon jetzt sind alle Betten der Intensivstationen belegt, obwohl sie von dreißig auf fünfzig erhöht wurden.
«Die Patienten, die wir nicht aufnehmen konnten, werden auf andere Spitäler verteilt», sagt der Direktor des Hospitals, Luiz Carlos Pereira, der sich auf zwei schwierige Wochen vorbereitet. «Mit diesem Virus kämpfen wir gegen die Zeit.» In São Paulo und Umgebung, aber auch in Rio de Janeiro, dem zweitgrößten Infektionsherd des Landes, und in zwei Bundesstaaten im Nordosten, Ceará und Pernambuco, sind die Krankenhäuser an die Grenze ihrer Kapazitäten gelangt, der Rückgriff auf Privathospitäler wird unvermeidlich sein.
«Die Kapazität des SUS [das zwei Drittel der Bevölkerung behandelt] war wegen der Kürzungspolitik schon vor der Pandemie reduziert», erklärt Nilson do Rosário Costa, Forscher der Fundação Oswaldo Cruz (Fiocruz), des brasilianischen Pendants des Institut Pasteur. «Städte und Bundesstaaten haben vor der Krise ihre Krankenhauskapazitäten erhöht, aber die Anstrengungen waren nicht koordiniert, das wäre Sache der Zentralregierung gewesen. Andererseits gibt es einen diffusen Druck der Bevölkerung, zur Normalität zurückzukehren.» Die Akzeptanz der relativ lockeren Maßnahmen zur sozialen Distanz, die von den Bürgermeistern und Gouverneuren im März eingeführt wurden, geht überall zurück. In Rio waren die Strände voller Leute, die am 1.Mai feierten. In São Paulo wird der Verkehrslärm immer intensiver.

Favelas zwischen Virus und Hunger
Umrahmt von den luxuriösen Bauwerken des Morumbiviertels, ist die Favela Paraisópolis mit ihren 120.000 Bewohnern ein perfektes Beispiel für die in Brasilien herrschende Ungleichheit. In den Favelas kommt der Hunger noch vor dem Virus. «Viele haben ihre Arbeit von heute auf morgen verloren», sagt Gilson Rodrigues, der junge Vorsitzende der Vereinigung der Bewohner und Händler von Paraisópolis. In Brasilien war COVID-19 anfangs eine Krankheit der Reichen, die ins Ausland reisten. Jetzt nicht mehr. In der Wirtschaftsmetropole wächst die Anzahl der Fälle in den armen Vierteln doppelt so schnell, und das Virus ist hier auch viel tödlicher.
In den bevölkerten Favelas, wo 13 Millionen Brasilianer leben, «kann man den Empfehlungen der WHO unmöglich Folge leisten», sagt Rodrigues. «Wie soll man sich die Hände waschen, wenn das Wasser ständig knapp ist?» Die Quarantäne ist ein unmöglicher Traum. Während die reichen Brasilianer zu Hause arbeiten, können sich die Favelabewohner diesen Luxus nicht leisten.
Aber der ökonomische Imperativ erklärt nicht alles. «Die Leute haben nicht begriffen, dass sie Gefahr laufen zu sterben, weil es an Betten in den Krankenhäusern mangelt», sagt Rodrigues. «Sie fühlen sich nicht beteiligt am Kampf gegen das Virus und haben auch teilweise recht: In den Favelas fehlt es an Strategien im Kampf gegen COVID-19. Die einzige öffentliche Politik, die wir wahrnehmen, ist die Soforthilfe für die Arbeitenden im informellen Sektor.» Drei Monate lang gibt es ganze hundert Euro im Monat.
Daraufhin hat die zweitgrößte Favela von São Paulo ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Sie lancierte eine Spendenkampagne im Internet und konnte damit ein Projekt zur Maskenherstellung initiieren, das die Wirkungen der sozioökonomischen Krise mildern kann. Die Gebäude der beiden Schulen wurden dafür hergerichtet, um bis zu 510 nicht schwer Erkrankte zu isolieren. Denn «die Isolierung im eigenen Haus ist in den Favelas unmöglich», erklärt der Mann, der als «Bürgermeister» von Paraisópolis gilt. «Die Häuser sind klein und die Familien sehr groß.»
Um Zusammenballungen von Menschen zu vermeiden, verteilen Freiwillige Nahrungsmittel von Tür zu Tür und informieren die Bewohner über gesundheitsschützende Maßnahmen – ein Modell, das in über 300 Favelas im Land kopiert wird. Viel Aktivität läuft über WhatsApp, vor allem Hilfeersuche. Die zweitgrößte Favela von São Paulo hat ein eigenes medizinisches Team, neun Personen leisten einen 24-Stunden-Dienst.

Quelle: Libération, 4.Mai 2020.

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