Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2020

Mythos und Wirklichkeit
vom chinesischen Autor*innenkollektiv

Die Parallelen zum aktuellen chinesischen Fall sind auffallend. COVID-19 kann nicht verstanden werden, ohne zu berücksichtigen, wie das globale kapitalistische System Chinas Entwicklung in den letzten Jahrzehnten beeinflusst und sein Gesundheitssystem und den Zustand der öffentlichen Gesundheit umgeformt hat.

Die Epidemie ähnelt, so neu sie auch ist, anderen Gesundheitskrisen vor ihr, sie treten mit fast derselben Regelmäßigkeit wie Wirtschaftskrisen auf und werden in der Presse ganz ähnlich behandelt – als fielen sie vom Himmel, unvorhersehbar und beispiellos. In Wirklichkeit folgen sie ihren eigenen zyklisch wiederkehrenden Mustern. Wie die Spanische Grippe konnte sich das Coronavirus in China wegen der Verschlechterung der medizinischen Grundversorgung durchsetzen und rasch ausbreiten. Weil diese Verschlechterung jedoch inmitten eines spektakulären Wirtschaftswachstums stattfand, blieb sie hinter der Fassade glitzernder Städte und gewaltiger Fabriken verborgen. In Wirklichkeit sind in China die Ausgaben für öffentliche Güter wie Gesundheitsversorgung und Bildung immer noch extrem niedrig, die öffentlichen Ausgaben sind vor allem in Infrastruktur wie Brücken, Straßen und billige Elektrizität für die Produktion geflossen.
Hinzu kommt, dass die Qualität der Produkte auf den einheimischen Märkten oft gefährlich schlecht ist. Seit Jahrzehnten produziert die chinesische Industrie hochwertige Exportgüter nach den höchsten globalen Standards für den Weltmarkt, wie iPhones oder Computerchips. Die Waren, die für den Verbrauch auf dem heimischen Markt produziert werden, sind jedoch von äußerst schlechter Qualität und führen regelmäßig zu Skandalen und tiefem öffentlichem Misstrauen. Der größte Skandal aus jüngster Zeit war der Melamin-Milch-Skandal von 2008, er hinterließ ein Dutzend tote und Zehntausende in Krankenhäuser eingewiesene Kinder (obwohl vielleicht Hunderttausende betroffen waren).
Seither sind eine ganze Reihe von Skandalen an die Öffentlichkeit gelangt: 2011 wurde in Restaurants im ganzen Land Abfall-Öl gefunden; 2018 töteten fehlerhafte Impfstoffe mehrere Kinder; ein Jahr später wurden Dutzende Menschen im Krankenhaus behandelt, weil gefälschte Impfstoffe verabreicht worden waren. Mildere Fälle gibt es noch weit häufiger, sie sind jedem vertraut, der in China lebt: aus Kostengründen mit Seife verschnittene Tütensuppen; Unternehmer, die in Nachbardörfern Schweine verkaufen, die an mysteriösen Ursachen gestorben sind; detaillierter Klatsch dar­über, in welchen Imbissläden man am ehesten krank wird…

Das Danwei-System
Bevor das Land Stück für Stück in das globale kapitalistische System integriert wurde, bildete das Danwei-System aus betrieblichen Sozialleistungen und lokalen Kliniken mit zahlreichen «Barfußärzten» das Rückgrat des chinesischen Gesundheitssystems und war kostenlos. Die Erfolge bei der Gesundheitsversorgung in der sozialistischen Ära wie auch die Erfolge auf dem Gebiet der Bildung und Alphabetisierung waren so groß, dass sogar die schärfsten Kritiker sie anerkennen mussten.
Die Bilharziose (eine parasitäre Wurmerkrankung), die das Land jahrhundertelang heimgesucht hatte, war weitgehend ausgemerzt; sie kehrte entschieden zurück als man begann, das sozialistische Gesundheitssystem wieder abzubauen. Die Kindersterblichkeit sank stark, und sogar trotz der mit dem «Großen Sprung nach vorn» verbundenen Hungersnot stieg die Lebenserwartung zwischen 1950 und den frühen 80er Jahren von 45 auf 68 Jahre. Impfungen und allgemeine Hygienemaßnahmen waren verbreitet, grundlegende Informationen über Ernährung und Gesundheit sowie der Zugang zu Basismedikamenten waren kostenlos und für alle zugänglich.
Gleichzeitig half das System der Barfußärzte, ein elementares, wenn auch begrenztes medizinisches Wissen unter einem großen Teil der Bevölkerung zu verbreiten, wodurch ein robustes, von unten nach oben aufgebautes Gesundheitssystem unter den Bedingungen extremer materieller Armut aufgebaut werden konnte. Zu jener Zeit war China pro Kopf der Bevölkerung ärmer als jededurchschnittliche Land im heutigen Afrika südlich der Sahara.
Seitdem ist dieses System durch Nachlässigkeit und Privatisierung erheblich verschlechtert worden, genau zu dem Zeitpunkt, wo eine rasche Verstädterung und unregulierte Industrieproduktion von Haushaltsgütern und Lebensmitteln eine umfassende Gesundheitsversorgung umso mehr erfordert hätte – ganz zu schweigen von Lebensmittel-, Arznei- und Sicherheitsvorschriften. Heute gibt China laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 323 US-Dollar je Person für die öffentliche Gesundheitsversorgung aus, was selbst im Vergleich zu anderen Ländern mit «mittlerem Einkommen» wenig ist, es liegt ungefähr bei der Hälfte von dem, was Brasilien, Weißrussland und Bulgarien ausgeben. Eine Regulierung gibt es praktisch nicht, daher die vielen erwähnten Skandale.
Zu spüren bekommen dies vor allem Hunderte Millionen Arbeitsmigranten; sie verlieren ihr Recht auf medizinische Grundversorgung, wenn sie ihre ländlichen Ortschaften verlassen, wo sie im Rahmen des Hukou-Systems unabhängig von ihrem aktuellen Aufenthaltsort gemeldet sind – anderswo sind öffentliche Einrichtungen für sie nicht zugänglich.

Wut auf die Ärzte
Angeblich sollte die öffentliche Gesundheitsversorgung Ende der 90er Jahre durch ein stärker privatisiertes (aber vom Staat verwaltetes) System ersetzt werden, in dem ärztliche Versorgung, Rente und Wohnraumsicherung aus einer Kombination von Unternehmer- und Beschäftigtenbeiträgen bezahlt werden. Dieses Sozialversicherungssystem leidet unter systematischem Geldmangel, weil die Unternehmer ihre Beitragszahlungen oft einfach ignorieren und die große Mehrheit der Arbeitenden selber für die Kosten aufkommen muss. Laut der jüngsten verfügbaren landesweiten Schätzung haben nur 22 Prozent der Arbeitsmigranten eine Basiskrankenversicherung.
Die fehlenden Beiträge zur Sozialversicherung sind jedoch nicht allein der Tatsache geschuldet, dass korrupte Unternehmer ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Sie haben auch einen strukturellen Grund in den geringen Profitmargen, die keinen Raum für Sozialleistungen lassen. Nach unseren eigenen Berechnungen würde die Nachzahlung unbezahlter Sozialversicherungsbeiträge in einem Industriezentrum wie Dong­guan die Profite in der Industrie um die Hälfte kürzen und zum Bankrott vieler Unternehmen führen. Um die gewaltigen Löcher zu stopfen, hat China eine drastisch reduzierte Krankenversicherung für Rentner und Selbständige eingeführt, die durchschnittlich nur einige 100 Yuan pro Kopf und Jahr auszahlt.
Dieses bedrängte Gesundheitssystem produziert erschreckende soziale Spannungen. Jedes Jahr werden mehrere Krankenhausbeschäftigte infolge von Angriffen wütender Patienten, die in ihrer Obhut gestorben sind, oder von deren Angehörigen getötet oder verletzt. Der jüngste Fall geschah am Weihnachtsabend in Peking, als der Sohn einer Patientin im Glauben, seine Mutter sei an der schlechten Pflege im Krankenhaus gestorben, einen Arzt erstach. Einer jüngeren Umfrage zufolge haben 85 Prozent der Ärzte schon Gewalt am Arbeitsplatz erlebt. 2014 waren einer anderen Umfrage zufolge 13 Prozent der chinesischen Ärzte körperlich angegriffen worden. Chinesische Ärzte behandeln viermal so viele Patienten im Jahr wie US-Ärzte, verdienen aber mit 15000 US-Dollar im Jahr weniger als das Durchschnittseinkommen (16760 Dollar). Dagegen verdient eine durchschnittliche Ärztin in den USA mit 300000 Dollar im Jahr fast fünfmal so viel wie das Durchschnittseinkommen (60200 Dollar).
Bevor der Blog des Wanderarbeiters Lu Yuyu und seiner Freundin Li Tingyu, die seit Oktober 2012 alle Informationen über Sozialproteste und Streiks in China sammelten, im Jahr 2016 geschlossen und seine Betreiber festgenommen wurden, verzeichnete er jeden Monat auch Streiks und Proteste von medizinischem Personal. Im letzten vollständigen Jahr der Datensammlung, 2015, gab es 43 Vorfälle dieser Art. Zugleich fanden jeden Monat Dutzende von «Protestaktionen gegen medizinische Behandlungen» durch Angehörige von Patienten statt. Ingesamt wurden in dem besagten Jahr 368 solcher Vorfälle dokumentiert.
Angesichts des massiven Rückzugs der öffentlichen Hand aus dem Gesundheitssystem ist es nicht verwunderlich, dass sich COVID-19 so schnell ausbreiten konnte. Wie im Fall der Spanischen Grippe hat der schlechte Zustand des öffentlichen Gesundheitssystems dem Virus geholfen.

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