Strukturelle Ursachen hinter der Zunahme häuslicher Gewalt
Gespräch mit Gisela Notz
Frauen laufen Gefahr, die großen Verliererinnen der Corona-Krise zu sein. In krassem Gegensatz zum Applaus, der ihnen vom Balkon aus zuteil wurde, steht die zusätzliche Belastung durch Familienstress und Homeschooling oder verlängerte Arbeitszeiten in «systemrelevanten» Bereichen.
Gisela Notz sieht darin eine Bestätigung, dass die Kleinfamilie für die Bewältigung des Alltags, zumal in Krisenzeiten nicht taugt.
Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin, Historikerin, Autorin und Aktivistin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und ist Redakteurin von Lunapark21. Ihre letzte Veröffentlichung, Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes, erschien 2015 im Schmetterling-Verlag.
Mir ist aufgefallen, dass im öffentlichen Raum – in der Bahn, auf der Straße – der Ton seit der Lockerung der Kontaktsperren rauer geworden ist, die Leute sind rücksichtsloser und zugleich dünnhäutiger. Die Konfliktforschung weist daraufhin, dass schon während und nach der Finanzkrise 2007/2008 Gewalt und Menschenfeindlichkeit gestiegen sind. Was sind deine Beobachtungen dazu?
Ich vergleiche die Corona-Krise ungern mit anderen Krisen, weil sie für uns alle doch ziemlich einmalig ist und weil sie Menschen auf der ganzen Welt, wenn auch nicht alle Länder und alle Menschen gleich, betrifft. Ich beobachte eher, dass die Menschen fröhlicher geworden sind, seit sie sich wieder freier bewegen können. Kinder freuen sich, zumindest tageweise in den Kindergarten und in die Schule gehen zu können. Auch die Erwachsenen halten beim Einkaufen, in den Lokalen und sonstwo den Abstand ein.
Freilich – und dies gab es schon vor der «Lockerung», gibt es rücksichtslose Menschen. Das verstärkt sich – wie vieles – durch die Krise. Dünnhäutig ja, man trifft ja, wenn überhaupt, immer die gleichen Menschen und die gehen einem unter den eingeschränkten Bedingungen leichter auf die Nerven als sonst. Ich kriege immer wieder Anrufe, wo Menschen sich über laute Nachbarn, Kinder, die angeblich alles dürfen und anderes beschweren. Frauen, die Home-Office und Betreuungsarbeit verbinden müssen, sagen: «Ich dreh’ langsam durch, der Mann geht in die Kanzlei, die Putzfrau kommt auch nicht.»
Über die Zunahme häuslicher Gewalt gibt es widersprüchliche Meldungen. In NRW sagt die Polizei, sie werde weniger häufig gerufen. Einige Organisatorinnen von Notrufen hingegen verzeichneten in den vier Wochen vor Ostern einen Anstieg der Hilferufe um 20 Prozent. Es leuchtet auch ein, dass Frauen weniger Spielraum haben, sich Hilfe zu holen, wenn der Gewalttäter nebenan auf dem Sofa sitzt. Was sagen die Frauenhäuser?
Häusliche Gewalt gab es lange vor der Krise. Im Jahr 2018 wurden allein in Berlin laut polizeilicher Kriminalstatistik 11252 Frauen Opfer innerfamiliärer Gewalt. Die Dunkelziffer ist deutlich höher. Familie wird gerade in der Krise als Ort der Sicherheit, Ruhe und Geborgenheit hoch gelobt. Sie ist aber auch Ort der Gewalt und Unterdrückung. Kai Bussman, Professor für Strafrecht an der Universität Halle, versicherte schon 2010: «Es gibt in unserer hochzivilisierten Gesellschaft keinen unsichereren Ort als die Familie.» Insgesamt sei Gewaltkriminalität in Deutschland rückläufig. Sie sei aus dem öffentlichen Raum erfolgreicher verdrängt worden als aus dem privaten Bereich.
In Frankreich, Kanada oder Finnland wurde vor der Krise an jedem dritten Tag eine Frau von ihrem Partner umgebracht. In Zeiten der Corona-Pandemie sind viele Frauen und Mädchen weltweit mit ihrem Täter im Lockdown, wie der UN-Generalsekretär Guterres bereits im April berichtete. ExpertInnen führen das darauf zurück, dass die Aggressionstoleranz von Männern noch geringer ist als ohnehin schon und die Wut nicht mehr draußen abreagiert werden kann, beim Sport zum Beispiel. Das kann nicht als Entschuldigung für Gewalt oder Femizide gelten.
Deutlich ist, dass Hilfsorganisationen vieler Länder, auch deutsche, mehr Hilferufe empfangen als vor der Corona-Krise. Faktisch sind seit dem Stay-at-home die Fälle häuslicher Gewalt in Frankreich um 30 Prozent gestiegen. Das Hilfetelefon «Gewalt gegen Frauen» in Deutschland hat über 17 Prozent mehr Anrufe verzeichnet. Tatsächlich berichten Expertinnen, dass Frauen es nicht schaffen zu telefonieren, wenn der Täter auf dem Sofa sitzt.
Die Frauenhäuser sind vor fast 45 Jahren errichtet worden, in der Hoffnung, dass sie bald überflüssig werden. Das hat nicht geklappt. Sie waren schon vor der Krise überfüllt und sind es jetzt hoffnungslos. In Berlin mussten die sechs Frauenhäuser bereits 2018 1341 Frauen und 1586 Kinder wegen Platzmangel ablehnen. Das ist in anderen Bundesländern ähnlich, zudem fehlt überall bezahltes Personal. Wegen der katastrophalen Wohnungssituation verschärft sich die Situation während der Krise noch. Hinzu kommt die ökonomische Abhängigkeit in unserem familistischen System.
Hast du auch Informationen zu den Kindern? Hier kommen ja die meisten Gefährdungsmeldungen von Erzieherinnen, Ärzten oder Lehrerinnen – und die fallen derzeit weg.
Eine aktuelle Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI), in der mehr als 8000 Eltern von Kindern zwischen 3 und 15 Jahren befragt wurden, zeigt, dass die Corona-Krise eine enorme Herausforderung, nicht nur für Eltern, sondern auch für Kinder darstellt. Das Ergebnis: «Zoff bleibt in dem durch die Krise erzwungenen Rückzug nicht aus», in jeder fünften Familie herrscht Streit. Die Kinder haben Schwierigkeiten mit den Kontaktbeschränkungen. Sie fühlen sich einsam, vermissen Freunde, Sport, Kita und Schule. Da sich an der Erhebung überdurchschnittlich viele Familien mit formal hohem Bildungsgrad und ohne finanzielle Sorgen beteiligt hätten, vermuten die ForscherInnen, dass «die Situation für Familien in belasteten Lebenslagen» noch schwieriger sei.
Daraus sollten sie nicht den Schluss ziehen, dass in diesen Familien mehr gestritten und geschlagen wird. Lange vor der Krise erstellte Studien aus der Frauenforschung zeigen keine schichtspezifischen Unterschiede. Man könnte aus den Ergebnissen schlussfolgern, dass die anhaltende 1:1- oder 2:1-Betreuung in der Kleinfamilie nicht «kindgerecht» ist. Stattdessen kommt der Corona-Shutdown den Protagonisten reaktionärer Positionen scheinbar zu Hilfe, für die alles, was jenseits der heterosexuellen normativen Kleinfamilie angesiedelt ist, sowie «Fremdbetreuung» von Kindern «Teufelswerk» ist. «Die ersetzbare Mutter – ein Mythos hat Pause», jubelt etwa Birgit Kelle, die sich als Antifeministin einen Namen mit Büchern wie Muttertier gemacht hat. Sie freut sich, dass «die Mutter wieder in den Mittelpunkt des Haushalts» rückt, wenn der Staat «als Nanny» ausfällt. Corona zwinge auf den eigentlichen Ursprung zurück, auf die wahre Bestimmung der Mutter, die natürlich auch das «Homeschooling» hervorragend schafft.
Bei den Berichten darüber, wie Familien das Homeoffice bewältigen, fällt auf, dass die Mehrarbeit den Frauen zufällt, auch wenn diese berufstätig und ebenso im Homeoffice sind wie die Männer. Ein Rückfall in alte Rollenmuster?
Klar, was bleibt den Kleinfamilien-Müttern anderes übrig. Der Vater ist den ganzen Tag in der Kanzlei oder schreibt einen neuen Bericht und sie verdient ein bisschen mit. Und da sie alles so gut schaffen, meint Frau Kelle, dass der Unterricht zu Hause auch weiter fortgesetzt werden sollte. So könnten die Kinder langfristig ferngehalten werden vom Einfluss eines Bildungssystems, das zum Selbstdenken und zur Solidarität mit anderen Kindern anregen soll. An die wirtschaftlich schlechter gestellten Familien, die immer noch Schwierigkeiten haben, sich die notwendige Technik zu besorgen, oder die Alleinerziehenden, die sich gute Unterstützungssysteme aufgebaut hatten, die nun zusammenbrechen, denkt sie natürlich gar nicht.
Versucht wird wieder einmal ein Rollback, WissenschaftlerInnen sagen: «Zurück in die 50er Jahre». Schon damals war das Familienidyll eine Illusion. Auch wenn der Soziologe Schelsky Familie als das einzig wahre, krisenfeste Lebensmodell bezeichnete und dem «stabilisierenden kleingruppenhaften festen Zusammenhalt der Familie in den Notzeiten», einen «hohen sozialen Bindungswert» beimaß, war «die Familie», die es damals ebenso wenig gab wie heute, zugleich überfordert. Schließlich erzogen 2,5 Millionen Kriegerwitwen ihr Kind alleine.
Gleichzeitig werden Pflegekräfte und Verkäuferinnen, was ja zumeist Frauen sind, als Heldinnen angesprochen. Das ist doch auch ein altes Muster, oder? Die Krankenschwester, die aus lauter Liebe und ohne Ansehung der Gefahren für ihre eigene Person nur für die anderen da ist…
Nicht alle können zu Hause bleiben. Frauen, ob als Krankenschwestern, Verkäuferinnen oder in anderen dienenden und helfenden Berufen, wollen nicht zurück zur «Normalität». Sie wollen nicht als «Heldinnen» gefeiert und nicht als Leidtragende bedauert werden. Sie sind auch handelnde Subjekte. Erst am 8.März 2020, dem Internationalen Frauentag, haben sie auf der ganzen Welt gegen Gewalt, gegen die Flüchtlingspolitik, gegen die wachsende (welt)gesellschaftliche Ungleichheit, gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, für mehr Personal in den Krankenhäusern und für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen demonstriert und gestreikt.
«Mehr von uns ist besser für alle» ist der Slogan, mit dem das Pflegepersonal Druck auf die Politik und die Unternehmer macht – und das auf drei Schienen: politisch, betrieblich und tariflich.
Sie haben die Folgen von zwei Jahrzehnten verfehlter Gesundheitspolitik während der Krise zu tragen. Das zu korrigieren, ist ein dickes Brett. Doch sie bohren weiter. In Berlin haben sie gerade den Berliner Corona-Krankenhauspakt gegründet. Sie fordern Gesundheitsschutz, mehr Personal und (auch finanzielle) Anerkennung.
Wo können wir ansetzen, etwas dagegen zu tun?
Corona hat ja auch unseren Proteste und unsere Kampagnen beeinträchtigt. Aber wir geben keine Ruhe. Wir brauchen noch mehr breite Bündnisse, die Widerstand und Protest gegen all die – zunehmenden – Missstände leisten, die die Corona-Krise so grell ins Licht gerückt hat. Wir brauchen aber auch eine Vorstellung davon, wie das gute Leben, von dem so viele reden, aussehen soll.
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