Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Buch 1. Juni 2020

Roman. Wien, Bozen: Folio, 2020. 477 S., 25 Euro
von Paul B. Kleiser

Wer etwas über das soziale und geistige Klima in Großbritannien vor und nach dem Referendum über den Brexit erfahren möchte, dem sei der neue Roman von Jonathan Coe, Middle England, empfohlen. Er handelt von Entwicklungen in den Jahren zwischen 2010 und 2018 und schließt an seine Romane Erste Riten (2001) und Klassentreffen (2004) an.


Der Titel des neuen Romans ist mehrdeutig, denn das Buch spielt hauptsächlich in der Region Birmingham, die stark von der Deindustrialisierung betroffen ist, aber gleichzeitig geht es auch um das Schicksal einer Mittelstandsfamilie. Die kleinen Geschäfte und Kneipen auf dem Land machen alle zu. Es kommt häufig zu Gewaltakten gegen (nicht nur farbige) Einwanderer. Der Mittelteil des Romans heißt dann auch «Deep England». Coe ist in der Nachfolge von Henry James oder Gustave Flaubert ein moderner Gesellschaftsroman über die Auswirkungen des Neoliberalismus in Großbritannien mit komischen bis sarkastischen Seiten gelungen.
Der Roman beginnt mit dem Umzug des begüterten Autors Benjamin Trotter von London in eine alte Mühle in Shropshire, die er aus den Erlösen seines Wohnungsverkaufs erworben hat. Sein gesundheitlich angeschlagener Vater Colin, der lange bei British Leyland gearbeitet hat, zieht nach dem Tod seiner Frau Sheila zu ihm. Er drängt seinen Sohn, am (früheren) Werksgelände vorbeizufahren, doch längst ist alles abgerissen und durch riesige Shopping Malls ersetzt. Trotter Junior arbeitet seit dreißig Jahren an einem Buch über seine gescheiterte Beziehung zu Cecily. Endlich gelingt es ihm mit Hilfe seines Schulkameraden und Verlegers Philip Chase, mit relativem Erfolg einen kleinen Teil aus dem riesigen Opus zu veröffentlichen. Ein Vergleich mit Marcel Proust und seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bietet sich an. Chase verkauft vor allem alte Ansichten von britischen Städten.
Ben Trotters Schwester Lois leidet unter den Spätfolgen des rassistischen Bombenanschlags vom November 1963 in Birmingham; unter den 21 Toten war auch ihr Verlobter. Sie lebt getrennt von ihrem Mann, kann sich aber nicht zu einer Scheidung durchringen. Ihr Mann Christopher freut sich, als die gemeinsame Tochter Sophie beschließt, für einige Zeit wieder bei ihm einzuziehen. Ben und Lois werden schließlich angesichts des Brexit im Süden Frankreichs eine Mühle erwerben und dort Seminare für Briten anbieten.
Sophie hat ihre Dissertation absolviert und arbeitet als Dozentin für Kunstgeschichte in London; der Roman beginnt damit, dass sie auf der Autobahn zwischen den beiden Städten geblitzt wurde und zum Abbau von Punkten an einer Nachschulung teilnimmt. Dort trifft sie den Fahrlehrer Ian, den sie später heiratet. Die Beziehung wird durch die konservative Schwiegermutter Helena belastet, die immer wieder rassistische Äußerungen tätigt und für den Brexit stimmen wird. Sophie wird einige Zeit von der Uni suspendiert, weil eine transsexuelle Studentin, die gerade eine Geschlechtsumwandlung macht, eine flapsige Aussage in den falschen Hals bekommt und von einer feministischen Kommilitonin angestiftet wird, sich bei der Unileitung zu beschweren.
Ben und Philip sind auch seit ihrer Schulzeit an der «King William’s School» mit dem linken Journalisten Douglas (Doug) Anderton befreundet, der aus einer stramm auf die Labour Party ausgerichteten Familie stammt. Er hat jedoch als Aufsteiger eine Bürgerliche geheiratet; sie wohnen im linksliberalen Stadtteil Chelsea. Er schreibt Meinungskolumnen für den eher linken Guardian und andere kritische Medien. Die Politik der Torys empört ihn, aber auch mit New Labour hat er so seine Probleme.
Seine Tochter Coriander hat Stress mit ihrem Vater und spricht tagelang nicht mit ihm. Für Douglas befindet sich England in einem miserablen Zustand: «…gereizt, gespalten, unter dem Druck eines nicht enden wollenden Spardiktats ächzend. Vielleicht war es unvermeidlich, dass Coriander ihn für die Rolle verachtete, die er dabei spielte, so klein sie auch sein mochte. Vielleicht war es an der Zeit, von ihr zu lernen, sich daran zu erinnern, dass es Prinzipien gab, die man nie aufgeben oder verwässern sollte, und dass es nicht unbedingt ehrenvoll war, zur politischen Mitte zu gravitieren…»
Ein weiterer Klassenkamerad ist der Multimillionär Ronald Culpepper, der bereits in der Schule durch rassistische Äußerungen aufgefallen war und nun die UKIP in ihrem Kampf gegen die EU unterstützt. Er hat den Thinktank «Imperium Foundation» zur Durchsetzung des Freihandels (und zur Abschaffung des NHS, der staatlichen Krankenkasse) gegründet und möchte großen US-Konzernen ungehinderten Zugang zum britischen Markt verschaffen. Nach dem Austritt aus der EU sollen auch alle ihre Regulierungen fallen. Er wirft Anderton vor, weder eine Ahnung «vom Geschäftsleben» noch «vom Patriotismus» zu haben.

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