Institution, die den europäischen Laden noch zusammenhält
von Ingo Schmidt
Christine Lagarde ist die letzte Hoffnung Europas. Nonchalant setzt sie sich – wie schon ihr Vorgänger Mario Draghi – über die monetaristischen Regeln im EZB-Statut hinweg und verhindert mit großzügigen Geldinfusionen den Stillstand der Warenzirkulation im Euro-Raum.
Ginge es nach Bundesbank und Bundesverfassungsgericht wäre das Gegenteil eingetreten: Die Prinzipien wären gewahrt, die vom Corona-Lockdown ohnehin gebeutelte Euro-Wirtschaft verblutet. Worauf der Fortbestand der Eurozone, und mit ihr wohl der gesamten EU, hoffen lässt, ist weniger klar.
Selbst ehemalige Euro-Enthusiasten sehen die Währungsunion nicht mehr als Zwischenschritt zu einem prosperierenden und demokratischen, vielleicht sogar sozialen und friedliebenden Europa, sondern als kleineres Übel. Nach dem Euro, so die ernüchterten Enthusiasten, übernehmen die Antidemokraten und Rassisten das Ruder und zerstören die europäische Zivilisation. Orban, Salvini, Gauland & Co. malen ein ähnliches Schreckgespenst an die Wand – machen dafür aber die Euro-Verteidiger verantwortlich, weil diese außer der nationalen Währung auch sonst alle nationalen Werte an Flüchtlinge, Ökos, Schwule und Lesben verkauft hätten.
Zu helfen ist beiden nicht. Euro-Verteidiger wollen nicht anerkennen, dass ihre Art der europäischen Integration die vom Kapitalismus produzierte Ungleichheit, Unsicherheit und Unzufriedenheit nicht abschwächt, sondern verstärkt und damit den Antidemokraten und Rassisten die Zutaten für ihre Nazi-Suppe geliefert haben. Diese verrühren Angst und Feindbilder zu Hass und Realitätsverweigerung, die ebenfalls nichts zur Überwindung der Ursachen von Angst und Verunsicherung beitragen.
Euro-Visionen
Dabei klang alles so einfach. In der Tradition der Bundesbank sollte die EZB Inflation verhindern. Der ungehinderte Verkehr von Personen, Waren und Kapital innerhalb des Binnenmarkts sollte Konsumenten erlauben, Waren zum günstigsten Preis zu kaufen, und Unternehmen, ihr Kapital in den rentabelsten Projekten anzulegen. Die niedrigen Lohnkosten in den ärmeren EU-Ländern sollten Investitionen anziehen und einen Prozess nachholenden Wachstums auslösen. An dessen Ende hätte überall in Europa der gleiche Wohlstand geherrscht. Auf dem Weg dorthin konnten auch Länder, die beim Start der Währungsunion nicht dabei waren, den Euro einführen.
Massive Vorbehalte gegenüber dieser Euro-Vision gab es schon vor dem Start. Insbesondere die Bundesbank vermischte monetaristische Ökonomie und Kulturchauvinismus zu dem Argument, den südeuropäischen Ländern fehle die Stabilitätskultur, ohne die sich eine Währung nicht auf den internationalen Finanzmärkten behaupten könne. Als die Euro-Krise ein gutes Jahrzehnt nach Beginn der Währungsunion Südeuropa heimsuchte, sahen sich Bundesbank und ihre Fangemeinde bestätigt.
Wertpapierinflation
Aber sie lagen daneben. Die Euro-Krise konnte schon deshalb nicht durch den Schlendrian südeuropäischer Regierungen ausgelöst werden, weil die Währungsunion auf Drängen der Bundesbank und anderer Stabilitätswächter in das fiskalpolitische Korsett der Maastrichter Konvergenzkriterien für Beitrittskandidaten und des Stabilitätspakts für Mitglieder gezwängt worden war. Die Ursachen der Euro-Krise ließen sich stattdessen an die Börsen zurückverfolgen, die in den 90er Jahren und, nach glücklich überstandenem Platzen der New-Economy-Blase, in den mittleren 2000er Jahren von Größenwahn beherrscht waren. Wenn es irgendwo an Stabilitätskultur fehlte, war es dort. Das globale Finanzsystem schuf sich selbst die Liquidität, mit der ständig steigende Wertpapierumsätze finanziert werden konnten. Die Kurse liefen den realistisch zu erwartenden Gewinnen immer weiter voraus, erhöhten aber den Druck, Profitmargen durch Kostensenkungen zu erhöhen. Während die im Namen des Monetarismus betriebene Sparpolitik die Inflation aus Güter- und Arbeitsmärkten herauspresste, nahm die Wertpapierinflation immer weiter zu.
Im Schatten des Börsenbooms kam es auch in Europa zu einem Aufschwung. In Südeuropa, dessen Industrien bereits in den 80er Jahren teilweise in die entstehenden, von den Zentren Nord- und Westeuropas kontrollierten Produktionsnetzwerke integriert worden waren, flossen Investitionen in den 2000er Jahren vor allem in Immobilien. Gleichzeitig wurden Produktionsnetzwerke im Zuge der EU-Erweiterung nach Osteuropa ausgedehnt.
Aber es gab keine Konvergenz. Die Ungleichheit der Pro-Kopf-Einkommen quer durch die Eurozone und die EU blieb bestehen oder nahm noch weiter zu. Kreditfinanzierte Immobilienkäufe im Süden und der Aufbau verlängerter Werkbänke im Osten gingen in beiden Regionen mit Leistungsbilanzdefiziten und steigender Auslandsverschuldung einher. Hieran entzündete sich die Eurokrise – nur wenige Jahre, nachdem der Börsenboom im Krach geendet und die Große Rezession 2008/2009 ausgelöst hatte.
Eurokrise I
Die im Zuge der Eurokrise 2010–16 verfolgte Austeritätspolitik hat den arbeitenden Klassen Ost- und Südeuropas enorme Lasten auferlegt, aber nicht zum Abbau bestehender Ungleichgewichte gegenüber Nordwesteuropa geführt. Das mit dieser Politik angeblich verfolgte Ziel der Haushaltssanierung wurde nicht erreicht. Im Gegenteil verschärften Ausgabenkürzungen die Rezession, führten zu überproportionalen Steuerausfällen und schließlich steigender Staatsverschuldung. Dies war eine Folge der Krise, nicht deren Ursache. Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik lösten quer durch Europa Wut, Angst und Enttäuschungen aus. In Osteuropa hatten sich schon die Prosperitätshoffnungen, die zur Durchsetzung der Schocktherapie Anfang der 90er Jahre geschürt wurden, nicht erfüllt. Bei Ausbruch der Großen Rezession hatten die Statthalter des noch neuen Kapitalismus harte Sparmaßnahmen durchgedrückt. Sie, und mit ihnen ein erheblicher Teil der Bevölkerung, fühlten sich ungerecht behandelt, als sich die EU-Institutionen auf quälend lange Verhandlungen mit den Südeuropäern einließen und diesen im Gegenzug zu Sparmaßnahmen noch Extrakredite anboten.
Die meisten Südeuropäer sahen hierin jedoch keine Vorzugsbehandlung, sondern ein von außen auferlegtes Spardiktat, gegen das es zum Teil heftige Proteste gab. Gleichzeitig fühlten sich in Nordwesteuropa viele Menschen als Zahlmeister fauler Südländer, ohne sich dafür zu interessieren, dass die Hilfskredite der Troika nicht den tatsächlich zum Sparen verdonnerten Südeuropäern, sondern den Banken in ihrer eigenen Heimat zugutekamen. So unterschiedlich konkreter Anlass und Ausdrucksform des Unmuts waren, die Schlussfolgerung war überall gleich: mehr Nation, weniger Europa. Auf dieser Klaviatur konnte eine neue Rechte naturgemäß besser spielen als die Linke.
Eurokrise II
Wie sehr sich die Gewichte von der EU zu ihren Mitgliedstaaten verschoben haben, zeigte sich zu Beginn der Corona-Krise. Ohne viel Aufhebens suspendierte die EU-Kommission ihre Fiskalaufsicht, mischte sich aber ansonsten nicht in die Krisenprogramme der Mitgliedstaaten ein. Anders als private Investoren. Wie in früheren Krisen suchten diese Zuflucht in vermeintlich sicheren Anlagehäfen, EU oder Eurozone zählen nicht dazu. Schon deswegen, weil sie verunsicherten Investoren keine eigenen Papiere anzubieten haben. Also landet viel Geld in deutschen – und amerikanischen – Anlagen. Die Finanzierungskosten in Deutschland sinken. Sie steigen aber in den schon von der letzten Eurokrise hart getroffenen Ländern, denen es deshalb viel schwerer fällt, Krisenprogramme zu finanzieren: Deutschland konnte problemlos ein 4,5-Prozent-Programm, gemessen am letztjährigen Bruttoinlandsprodukt, auflegen, Griechenland, Italien und Spanien kamen kaum auf 1Prozent.
Auf diese Weise verstärkt die Krise bestehende Ungleichheiten, außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und politische Konflikte.
Die Regierungen der Schuldnerstaaten drängten auf die Ausgabe von Euro- oder wenigstens für die Dauer der aktuellen Krise auf Corona-Bonds, um die Finanzierungskosten von Krisenprogrammen gleichmäßiger zu verteilen. Die Gläubigerstaaten, mit der niederländischen Regierung in der Rolle des Chefscharfmachers, lehnten dieses Ansinnen brüsk ab. Stattdessen verwiesen sie die finanziell klammen Länder an den während der Eurokrise I geschaffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus, großzügig versichernd, die mit ESM-Krediten verbundenen Auflagen würden in der gegenwärtigen Ausnahmesituation schon nicht zu streng ausfallen.
Wie belastbar solche Zusicherungen sind, sei dahingestellt. Ohne internationale Abstimmung und von Land zu Land unterschiedlich ausgestaltet, war das Krisenmanagement in Europa jedoch schnell und umfassend. Je länger sich der Lockdown allerdings hinzieht, je unsicherer die wirtschaftliche Entwicklung nach dessen Ende bzw. die Aussichten auf eine zweite Corona-Welle werden, umso ungeduldiger scharren die Unternehmer mit den Füßen. Schon jetzt sagen viele, Tote müssten zur Wiederankurbelung der Wirtschaft in Kauf genommen werden.
Es gibt sogar Stimmen, die anstelle von Euro-Bonds zur Staatsfinanzierung einen europäischen Wiederaufbaufonds fordern. Das klingt ein bisschen nach dem europäischen Marshallplan, den Gewerkschaften in der letzten Euro-Krise ins Spiel brachten, soll aber vor allem Unternehmen zugute kommen. Ob sich EU oder Euro-Gruppe auf Ausgabe- und Haftungsmodalitäten solcher Wiederaufbaubonds einigen können, ist zweifelhaft.
Selbst Regierungen, die solchen Ideen als gute Kapitalvertreter gegenüber offen sind, stehen daheim unter dem Druck einer Wir-über-alles-oder-Exit-Rechten. Und mitunter auch unter dem des eigenen Verfassungsgerichts. So erklärte das BVG die unter Draghis EZB-Präsidentschaft vorgenommenen Anleiheverkäufe für unzureichend gegenüber den Mitgliedstaaten legitimiert. In der Rolle des Verteidigers der Volkssouveränität stellte sich das BVG mit diesem Urteil gegen den EuGH und deutete an, der Bundesbank in der Zukunft die Beteiligung an Anleihekäufen der EZB zu untersagen. Dabei wird das BVG vom Grundgesetz zur Unabhängigkeit aufgerufen, während die Volkssouveränität vom Parlament ausgeübt wird.
Abgesehen von dieser Kompetenzanmaßung hat das BVG-Urteil europäisches Spaltpotenzial. Wenn die EZB den Deutschen ihr Handeln ausführlich erklären muss, werden andere Mitgliedsländer ähnliches verlangen. Die schnelle geldpolitische Eingreiftruppe Europas würde zur Quasselbude. Werden anderen Länder die von den Deutschen reklamierten Erklärungen und Mitspracherechte verweigert, bekommen die Exit-Rechten in diesen Ländern noch mehr Zulauf.
Bis auf weiteres ist die EZB, deren mangelnde demokratische Kontrolle von links zurecht schon im Vorfeld der Währungsunion kritisiert wurde, die einzige Institution, die den europäischen Laden noch zusammenhält. Gerade weil sie so abgehoben ist. Und ohne zu wissen, wozu der Laden eigentlich gut ist.
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