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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2020

Frankreich hebt den "sanitären Ausnahmezustand" am 10.Juli auf – aber das Versammlungsverbot bleibt bestehen
von Bernard Schmid

Seitdem auf internationaler Ebene die Revolte infolge der brutalen Tötung von George Floyd ins Rollen gekommen ist, geriet auch in Frankreich viel in Bewegung.

Als allererstes wurde das Versammlungsverbot, das paradoxerweise seit dem déconfinement – der Beendigung des Lock-down französischer Version – am 11. Mai d.J. ver- und nicht entschärft wurde, mehrfach erfolgreich durchbrochen. Und dies so lange, bis schließlich auch die Regierung offiziell einlenkte und erklärte, im Zusammenhang mit dem Protest gegen US-Polizeigewalt Versammlungen zu „tolerieren“. Dann gerieten auch bestimmte Praktiken der Polizei in Frankreich selbst ins Visier in die Kritik von Teilen der öffentlichen Meinung. Deren Apparat wiederum fühlte sich angegriffen, und zu guter Letzt demonstrieren nun ihrerseits Polizisten – an diesem Freitag in vielen französischen Großstädten. Von rechts und extrem rechts kommt dafür Unterstützung, unterlegt – wie zu erwarten war – mit rassistischen Tönen. Aber der Reihe nach.

Zum Hintergrund sei zunächst ausgeführt, dass rassistische Polizeigewalt in Frankreich im Grunde ein altes Thema ist. Um das Phänomen sichtbar werden zu lassen, brauchte es nicht erst einen Anlass aus den USA: Vielmehr dürfte eines ihrer international schlimmsten Beispiele überhaupt sich in der französischen Hauptstadt zugetragen haben: Am Abend des 17. Oktober 1961 und in der darauffolgenden Nacht töteten dort Polizeieinheiten, die durch den damaligen Pariser Polizeipräfekten (und vormaligen Nazikollaborateur) Maurice Papon befehligt wurden, um die 300 Algerier mitten in Paris: in der Seine ertränkt, von Brücken geworfen, totgeschlagen. Darüber wurde zwar nach dem Ende des Algerienkriegs, welcher am 5. Juli 1962 mit der Unabhängigkeit der früheren Kolonie in Nordafrika beendet wurde, tunlichst ein Mantel des Schweigens gebreitet, und von staatlicher Seite wurde eine Erwähnung dieses Massenmords mit einem Tabu belegt. Ein erster Dokumentarfilm zum Thema in den siebziger Jahren wurde mit einem Verbot belegt. Ab den 1990er Jahren begannen Nichtregierungsorganisationen zaghaft, in der Öffentlichkeit Licht in das Dunkel um diese Affäre zu bringen. Doch rund um den fünfzigsten Jahrestag des Massakers platzte die Hülle, die das Schweigen bewahrte, endgültig. Auch prominente Spitzenpolitiker etablierter Parteien bekannten sich erstmals zur historischen Verantwortung des französischen Staates an diesem Punkt. Die meisten französischen Zeitungen erwähnten den Jahrestag in jenem Oktober 2011, und Tausende von Menschen demonstrierten bei einem Gedenkmarsch. Heute gibt es an mehreren Orten Gedenkplaketten für die Opfer, etwa an der Saint Michel-Brücke in Paris. Allerdings ist es seit 2011, und dem damaligen Durchbruch für die historische Anerkennung dieses Massakers, erheblich stiller darum geworden.

Die Besonderheiten des französischen Rassismus

Zwei Stränge treffen zusammen, wenn es um die Analyse solcher und späterer Gewalttaten und der sie ermöglichenden Strukturen geht. Auf der einen Seite steht die postkoloniale Struktur von Staat und Gesellschaft in Frankreich, die ein Gefühl, oder eine Ideologie rassischer und/oder kultureller Überlegenheit immer einschloss. Auf der anderen steht die – auch in Staaten ohne Kolonialvergangenheit zu beobachtende und hinterfragende – Dimension der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (französisch: le maintien de l’ordre) notfalls auch mit repressiven Mitteln, welche wiederum in aller Regel umso repressiver ausfallen, je mehr Ungleichheiten und, objektive und/oder empfundene, Ungerechtigkeiten eine Gesellschaft aufweist. 

Beide Dimensionen können sich kreuzen, sind miteinander verschränkt, existieren aber prinzipiell auch unabhängig voneinander und führen ihr jeweiliges Eigenleben. Die eine lässt sich also nicht auf die andere reduzieren. Auch wenn Gruppen mit einem tendenziell ethnizistischen Ansatz wie die sich antirassistisch gebende, von Intellektuellen gegründete Kleinpartei den analytischen Kurzschluss begehen, etwa Polizeigewalt in Frankreich auf eine reine und ungebrochene Kontinuität mit der Machtausübung des Kolonialstaats zurückzuführen und in einem Schwarz-Weiß-Bild die banlieuesund quartiers populaires (Trabantenstädten, Unterklassenviertel, soziale Brennpunkte) als eine Art Kolonien von heute darzustellen. Die Realität ist komplexer… und war es im übrigen auch schon vor Jahrzehnten.

Die Algerier und allgemein die Nordafrikaner lebten 1961 in bidonvilles (Kanisterstädte) genannten, heutigen Slums in der so genannten Dritten Welt sehr ähnlichen Vorstadtsiedlungen, die etwa auf dem Gebiet der heutigen Trabantenstädte Nanterre, Gennevilliers und Aubervilliers platziert waren. In den siebziger Jahren wurden sie durch Hochhaus- oder durch Arbeiterreihenhaus-Siedlungen ersetzt. Ein Teil ihrer Einwohnerschaft waren Kolonisierte, insbesondere aus dem damals noch französisch beherrschten Algerien, und ihre Arbeitskraft wurde in der „Metropole“ (im europäischen Frankreich) in einer Weise eingesetzt, die die koloniale Überausbeutung in die Fabriken hinein verlängerte. Dennoch waren die bidonvilles nicht nur eine Abbildung der Kolonien in „Übersee“. Die zweite große Einwohnergruppe dort, neben der aus Nordafrika, bildeten damals die Portugiesen. Diese kamen aus einem südeuropäischen Land, das selbst Kolonialmacht war (auf den Kapverden, in Guinea-Bissau, Angola, Mosambik, Goa in Indien…), und viele der Auswanderer waren im Übrigen dem Militärdienst entflohen, um nicht in den noch bis 1974/75 dauernden Kolonialkriegen des faschistoiden Salazar- und später Caetano-Regimes verheizt zu werden. In späteren Zeiten gingen die Portugiesen weitestgehend in der Mehrheitsbevölkerung auf, teilweise (nicht vollständig) fast bis zur Unkenntlichkeit als Gruppe. Die Nordafrikaner hingegen blieben mehrheitlich rassistisch stigmatisiert. 

Die andere Dimension, die des politisch motivierten und in der Staatsräson wurzelnden maintien de l’ordre, war damals (und ist heute) ebenfalls präsent. Ging es 1961 doch auch darum, einen „inneren Feind“ zu schlagen – den Front de libération nationale (FLN), also die „Nationale Befreiungsfront“, die als Frontorganisation damals ein Spektrum unterschiedlicher Flügel von marxistischen bis prä-islamistischen Kräften umfasste und für die Unabhängigkeit Algeriens kämpfte (wo sie später zur Staatspartei wurde und daraufhin bürokratisch erstarrte, doch das steht in einem anderen Kapitel). 

Der FLN wiederum wurde durch die Anhänger der französischen Staatsräson als „fünfte Kolonne“ des internationalen Block- und Hauptfeinds dargestellt, und, wie andere „nationale Befreiungsbewegungen“ der „Dritten Welt“ oder der südafrikanische ANC auch, stand sie tatsächlich außenpolitisch in einem taktischen oder strategischen Bündnis mit dem sowjetischen Block. (Dieses diente etwa dazu, eine – brüchige, doch zeitweilig satte – Mehrheit gegen die westlich-kapitalistischen Staaten, damals noch mehrheitlich Kolonialmächte, in den Vereinten Nationen zu bilden und eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu fordern.) Vor diesem Hintergrund stellte sich die Präsenz des FLN in der französischen Hauptstadtregion, die ein Fakt war und sich unter anderem in der Demonstration von 20.000 bis 30.000 seiner Anhänger am frühen Abend des 17. Oktober 1961 manifestierte, und seine Popularität in den Paris umgehenden banlieues und ihren damaligen bidonvilles als besondere Herausforderung dar. Aus staatlicher Sicht zeigte sich die Hauptstadt gewissermaßen durch den Kommunismus, den Islam und die „Dritte Welt“ gleichzeitig umzingelt.

Aus der Kombination beider Faktoren, Kolonialrassismus und unbedingter Wille zur Aufrechterhaltung staatlicher Kontrolle und Herrschaft, erwuchs die besondere Gewalttätigkeit der Situation. Hinzu kam die personelle Kontinuität zu faschistischen Strukturen, verkörpert durch Maurice Papon, später (1998) wegen seiner aktiven Rolle bei Judendeportationen aus dem besetzten Frankreich in den Jahren 1942 bis 44 als „Verbrecher gegen die Menschheit“ verurteilt. Diese Kontinuität im Staatsapparat war allerdings in Frankreich doch erheblich gebrochener als seinerseits in Westdeutschland oder teilweise auch Italien, da viele Résistancekämpfer nach 1944 in den Staatsdienst eintraten und viele „belastete“ Elemente ausgetauscht wurden. Doch die innenpolitische Rückwirkung der Kolonialkriege, Indochina (1946 bis 54) und Algerien (1954 bis 62), sorgte für eine gewisse Rehabilitierung von repressionserfahrenem Personal. Und einige frühere Résistants kippten aufgrund des Algerienkriegs in einen rechtsextremen Nationalismus um, ihre früheren Feinde von vor 1945 standen ihnen subjektiv auf einmal unheimlich viel näher.

Die Segregation

Heute existieren beide, oder alle drei, Dimensionen und verschlingen sich auch heute, wenn auch auf andere Weise. Nun wäre es – im Hinblick auf den ersten Faktor - falsch, eine direkte Kontinuität zwischen Kolonialstrukturen und der staatlichen Verwaltung der sozialen Misere etwa in den banlieues zu behaupten. Doch besteht, aufgrund der in Frankreich im Vergleich zu anderen Industriestaaten der EU oder auch zu Großbritannien viel stärkeren, räumlichen Segregation unterschiedlicher sozialer Gruppen auch eine ihr bei- oder untergemischte Tendenz zur Separierung als „ethnische Gruppen“ konstruierter Bevölkerungsteile: Die früheren Kolonisierte sowie die Eingewanderten von gestern und heute gelangen mehrheitlich an die Ränder der urbanen Ballungsräume, die „einheimischen“ oder „weißen“ mehrheitlich in deren Zentren (oder aber in die semi-urbanen Zonen, die noch weiter außerhalb als die an die Großstädten eng anschließenden banlieuesliegen). Daraus erwächst eine sich steigernde, ethnisierende Wahrnehmung sozialer Differenz in den Augen weiter Teile der Bevölkerung, aber auch politischer Akteure.

Und eben auch der Polizei. Bei dieser ist in der Regel zu beobachten, dass junge Absolventen von Polizeischulen ihre ersten Berufsjahre in mehr oder minder verrufenen banlieuesabzuleisten - an Einsatzorten, die ihnen entsprechend auch als Zonen der Verbannung oder Straforte präsentiert werden, an die niemand hin will, durch die man aber eben zu Beginn einer Berufslaufbahn „durch muss“. Ihre Wahrnehmung der Einwohnerschaft folgt dann diesem Schema: Zum Einen werden die Ansässigen als Bewohnerinnen und Bewohner eines übel beleumdeten Zoos, in dem man nicht gerne verweilen möchte und mit dessen schlechtem Ruf sie assoziiert werden, gesehen. Zum Anderen stellt sich die Erfahrung ein, dass, vor diesem Hintergrund „systemischer Diskriminierung“, die wie ein Kreislauf wirkt (räumliche Relegation, Abdrängen in schlecht angesehene Wohnzonen, schulischer Misserfolg, Abgleiten in die Kleinkriminalität als persönliche Erfahrung oder als die von nahen Verwandten oder Bekannten…), ein Teil, wenn auch nur ein Teil, der jüngeren Einwohnerschaft mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Stellt sich dann bei Polizisten - sofern eine kritische Reflexion darüber ausbleibt – die Erfahrung ein, dass man„immer dieselben oder immer dasselbe Profil antrifft“, wenn man tatsächliche oder vermeintliche Straftäter sucht oder festnimmt, führt dies schnell zu rassistischer Stereotypenbildung, ähnlich, wie dies an anderer Stelle auch für die USA richtig geschildert wurde. Wobei die sozial-räumliche Struktur in den USA, mit einer relativ klaren „ethnischen“ Einteilung der Wohnviertel und ihren Schwarzen„ghettos“, eine andere ist als die in Frankreich, die überwiegend eine sozioökonomische Schichtung darstellt, jedoch mit „ethnisierender“ Unterfütterung. 

Gesetz und Ordnung

Zum zweiten Faktor: Die Polizeidoktrin im Herangehen an den maintien de l’ordre hat sich in den letzten Jahren brutalisiert. Den Kipppunkt dafür bildete zunächst die Situation im Winter 2015/16, als Frankreich infolge der jihadistisch motivierten, massenhaften Morde vom 13. November 2015 – bei den Attentaten in Paris und der Vorstadt Saint-Denis – im staatlich verhängten Ausnahmezustand lebte und als dieser von amtlicher Seite dafür benutzt wurde, repressiv etwa auch gegen die Klima-Demonstration in Paris am 29. November 2015. Dabei kam es zu über 350 Festnahmen aus Anlass dieses Klimaprotests. Die Polizei hatte in der Folgezeit das Gefühl, einen Freibrief erhalten zu haben und den breiten gesellschaftlichen Konsens gegen die Attentäter und ihre jihadistische Ideologie dafür nutzen zu können, nach Belieben repressiv vorzugehen. Entsprechend spielten Gewalt und Gegengewalt bei den Gewerkschafts- und Jugenddemonstrationen im Frühjahr 2016 gegen die „Arbeitsrechtsreform“ (Loi Travail) eine bis dahin, jedenfalls bei Protesten mit gewerkschaftlicher Beteiligung, seit 1962 nicht mehr erlebte Rolle. Rund 2.000 Menschen auf Demonstranten-Seite wurden dabei verletzt, aber auch eine beachtliche Anzahl von Polizisten. 

Bis dahin beruhte die Doktrin der französischen Polizei zur „Massenkontrolle“ bei Demonstrationen eher auf Kanalisieren und Auf-Distanz-Halten, jedoch ohne Naheinsätze, ohne Spalierstehen direkt an den Seiten von Demonstrationen – wie man es seit längerem aus deutschen Städten kennt – oder Agieren von Greiftrupps im Inneren; wobei die französischen Einheiten eher auf Tränen- oder Reizgas und bis 2016 nur selten auf Wasserwerfer setzten. Seit den Protesten im Frühjahr 2016 hat sich dies grundlegend gewandelt, und nunmehr kommt ein Mix aus Polizeikessel, Spalierstehen, Wasserwerfern und mitunter provokatorischen Einsätzen auch am Rande oder im Inneren von Versammlungen zum Tragen. 

Die auf nationaler und internationaler Ebene ins Gespräch gekommene Polizeibrutalität aus Anlass der Proteste der – politisch heterogenen – Gelbwestenbewegung 2018 und 2019, mit zwanzig ausgeschossenen Augen und fünf abgerissenen Händen, setzte diese Erfahrung fort. Dabei vermehrt sich 2019 der Einsatz von Gummigeschossen wie dem mittlerweile berüchtigten Hartgummi-Typ LBD40. Und im März 2019 wurden auch die hochmobilen Motorradeinheiten, die ersatzlos aufgelöst wurden, nachdem die damaligen voltigeurs unter Innenminister Charles Pasqua am Rande einer Demonstration im Dezember 1986 den (unbeteiligten) jungen Mann Malik Oussekine von ihren Fahrzeugen aus totschlugen, wieder gebildet. Unter ihrem neuen Namen BRAVE waren sie in den letzten Monaten am Rande mehrerer Demonstrationen im Einsatz zu sehen. Vorläufig eher als Drohkulisse. 

Zum dritten Faktor wäre zu sagen, dass es zwar heute keine unmittelbaren personellen Kontinuität zum Personal des historischen Faschismus gibt – und sei es aus Altersgründen –, wohl aber der politisch in Frankreich ziemlich präsente, zeitgenössische Neofaschismus in beträchtlichen Teilen der Polizei sein Nest finden konnte. Belastbaren statistischen Untersuchungen zufolge stimmten seit den Regionalparlamentswahlen 2015 bei mehreren Wahlgängen über fünfzig Prozent der an ihnen teilnehmenden Polizeibediensteten für den rechtsextremen Front National (FN), welcher seit dem 1. Juni 2018 den Namen Rassemblement National (RN, „Nationale Sammlung“) trägt. 

Trotz Verbot: Massendemonstrationen

Vor diesem Hintergrund entwickelte die Nachricht vom, durch Rassismus mit verursachten Tod von George Floyd durch die Tat eines Polizisten – unter Mitwirkung mehrerer Komplizen – in Frankreich schnell eine explosive Wirkung. Zumal der spezifisch auf der Einwohnerschaft sozialer Brennpunkte, zumal mit Migrationshintergrund oder dunkler Hautfarbe oder (tatsächlicher oder mutmaßlicher) muslimischer Religionsangehörigkeit, lastende polizeiliche Druck während der Wochen der Ausgangsbeschränkungen in Frankreich zugenommen hatte. In diesem Zusammenhang war es ebenfalls zu einem Zwischenfall mit rassistischen Äußerungen gekommen, welcher Ende April d.J. dafür sorgte, dass zwei Polizisten vom Dienst suspendiert werden mussten.

Demonstrationen bleiben jedoch derzeit im Land verboten. Es ist auch gar zu bequem für die französische Regierung: Während seit dem 02. Juni die Restaurants, Bars und Gaststätten im Land wieder servieren dürfen – allerdings nur im Freien -, die Parks wieder öffnen und sich Mengen am Seine-Ufer oder an den Kanälen drängen, bleiben Versammlungen unter freiem Himmel und Kundgebungen „mit mehr als zehn Personen“ (also ab elf) verboten. Wie an diesem Mittwoch, den 10. Juni d.J. bekannt wurde, plant die Regierung dieses Verbot oder jedenfalls die Möglichkeit zu Verboten auch noch mindestens weitere fünf Monate ab jetzt aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie ebenfalls vorhat, ab dem 10. Juli dieses Jahres den seit dem 23.03.2020 geltenden „sanitären Notstand“ wieder aufzuheben. 

Die Grundlage dafür liefert Artikel 7 des Regierungsdekrets Nummer 2020-548 vom 11.5.2020, verabschiedet auf Grundlage des „Gesetzes zum sanitären Ausnahmezustand“ – neue Version, infolge der Aufhebung der individuellen Ausgangsbeschränkungen – vom selben Datum (Gesetz n° 2020-546). Ausnahmsweise kann die Präfektur, d.h. die juristische Vertretung des Zentralstaats im Département, jedoch Versammlungen genehmigen, sofern diese „zur Fortführung des Lebens der Nation unabdingbar“ erscheinen. Man darf darauf vertrauen, dass die Präfekturen bei Protestveranstaltungen welcher Natur auch immer – nun ja – nicht zwingend der Auffassung sind, dieses Kriterium sei erfüllt. 


Selbst die konservative Opposition, in Gestalt des Fraktionsvorsitzenden der stärksten Oppositionspartei in der Nationalversammlung (LR, Les Républicains, bürgerliche Rechte) – Damien Abad – in einem Interview mit der Tageszeitung Le Parisien vom 29. Mai, kritisierte inzwischen die Fortdauer dieses Versammlungsverbots und forderte dessen Aufhebung. (So lange die LR in der Opposition hocken, zeigen sie manchmal kritische Anwandlungen…) Auch etwa vom linken Gewerkschaftszusammenschluss Union syndicale Solidaires gibt es natürlich Kritik.

Nun war jedoch seit mehreren Wochen eine Protestdemonstration in Paris für den Samstag, den 30. Mai unter dem Titel La marche des solidarités angekündigt. Üblicherweise gibt es alljährlich ein Mobilisierungsdatum unter diesem Titel am dritten Märzwochenende, es geht dabei i.d.R. um Antirassismus und Polizeigewalt. Aufgrund der Unmöglichkeit, Mitte März dieses Jahres im Lock-down zu demonstrieren, wurde der Termin dann für die Zeit nach dem déconfinement(der Aufhebung individueller Ausgangsbeschränkungen) neu anberaumt. Thematisch wurde der Aufruf ferner auf die sanitären Risiken – im Aufruf wurde es die„sanitäre Bombe“ benannt – im Zusammenhang mit der Covid-19-Epidemie zugeschnitten, so ging es um Ansteckungsrisiken für Menschen, die sich mehr oder weniger auf engen Raum gedrängt in Abschiebehaftzentren, in Migrantenwohnheimen oder in informellen Unterbringungen befinden. Letzterer Ausdruck bezieht sich insbesondere auf die 300 Menschen (überwiegend Westafrikaner) in der Pariser Vorstadt Montreuil, die infolge der Gewalteskalation in Libyen nach 2011 von dort nach Frankreich kamen, lange Zeit bis zu dessen Abriss in einem Wohnheim lebten und seitdem jahrelang in einem informellen Wohngebäude ausharren müssen. Das sanitäre Risiko im Zusammenhang mit der Ansteckungsgefahr ist hoch, doch zahlreiche Appelle auch von Bürgerinitiativen und NGOs für eine Unterbringung dieser Menschen fruchteten nichts. 

Die Pariser Polizeipräfektur hätte die für den 30. Mai 20 geplante Demonstration zulassen können, da die Organisator/inn/en ihr genaue Angebote für eine den sanitären Erfordernissen konforme Ausrichtung derselben unterbreitet hatte: eine Aufteilung in kleine Gruppen über eine größere Strecken, mehrere räumlich voneinander getrennte Auftaktorte, Maskentragen, Verteilung von Händewaschgel… Doch die Polizeipräfektur schaltete auf stur und bekräftigte das Verbot in einer expliziten Entscheidung, die trotz Eil-Verwaltungsklage vor dem Pariser Verwaltungsgericht dann auch gerichtlich bestätigt wurde.

Nun hätte man denken können, dass diese Demonstration notgedrungen nicht stattfindet, oder aber dass der Versuch zu ihrer Abhaltung mit Strafzetteln, Platzverweisen oder Festnahmen endet. Die Organisatoren publizierten allerdings eine „Antwort an die Polizeipräfektur“, in welcher sie ihre sanitären und anderen Erwägungen nochmals öffentlich darlegten, und behielten ihren Aufruf zur Demo aufrecht. //Vgl. https://blogs.mediapart.fr/marche-des-solidarites/blog/200520/manifestation-du-30-mai-reponse-la-prefecture //  Es blieb dann jedoch bei einem einzigen Auftaktort, am Pariser Opernplatz, statt mehreren getrennten.

Zum Auftakt setzte es erst einmal eine Ladung Tränengas, doch der Andrang – möglicherweise sogar noch beflügelt durch das, als ungerecht wahrgenommene Verbot – erwies sich schnell als so bedeutend, dass die Polizei durch von allen Seiten herandrängende Menschen überfordert wurde. Über 5.000 Menschen, die Veranstalter/innen würden im Anschluss von 10.000 Teilnehmer/inne/n sprechen, formten einen stattlichen Demonstrationszug. Über diesem kreiste zwar stundenlang ein Hubschrauber, dennoch ging der Protestzug bis zur Ankunft auf dem Pariser Place de la République ungehindert vonstatten.

Zum Ausklang wurde am Ende des Tages bekannt, insgesamt seien jedoch 98 Festnahmen erfolgt, hauptsächlich nach Abschluss der Veranstaltung unter Personen, die sich nicht relativ rasch vom Ankunftsort zu entfernen versucht hatten. Diese wurden auf mehrere Polizeiwachen, im 18. und 12. Pariser Bezirk, verteilt. Am Abend gegen 21 Uhr wurde jedoch bekannt, alle Festgenommen seien freigekommen, allem Anschein nach ohne Strafverfolgung mit einer einzigen Ausnahme.

Kurz darauf platzte die Bombe in Gestalt der Nachrichten über die internationale Ausdehnung der Revolte nach dem Tod von George Floyd. Am Dienstag, den 02. Juni am Abend rief ein neuer Appell zum Demonstrierten vor dem Pariser Justizpalast im 17. Arrondissement auf. Der Anlass war ein doppelter: zum Einen die Revolte in den USA infolge des gewaltsam verursachten Todes von George Floyd, zum Anderen die zeitgleiche Veröffentlichung eines offiziellen Justizgutachtens, dem zufolge die Gendarmerie-Beamten in der Pariser Vorstadt Persan-Beaumont im Juli 2016 den Tod des (auf dem Weg zum Gebäude der Gendarmerie mutmaßlich erstickten) 24jährigen Adama Traoré nicht verschuldet hätten. Der „Fall Adama Traoré“ ist in den letzten vier Jahren zur in der Öffentlichkeit am stärksten sichtbaren Affâre, anhand derer Polizeigewalt – mit möglicherweise bzw. mutmaßlich rassistischem Hintergrund – thematisiert wird und zu dem es immer wieder zu Protestmobilisierungen kommt. Adama Traoré, sportlich durchtrainiert, soll demnach an einem (unentdeckten) Herzfehler verstorben sein. An jenem Dienstag, den 02. Juni legte die Familie dazu ein, von ihr bestelltes und privat bzw. dank Spendengeldern bezahltes, Gegengutachten vor, das klar von Erstickungstod spricht.

Ab 17.30 Uhr befand sich bereits eine zahlreiche und aggressiv aufgeheizt wirkende Polizei vor Ort, anderthalb Stunden vor Kundgebungsbeginn. Einzelne Beobachter/innen bereiteten sich bereits darauf vor, die Demonstration werde zum „Laufen ins Messer“. Doch dann strömten vor und vor allem nach 19 Uhr die Menschen in solchen Massen herbei, dass die Einsatzkräfte auf das Hoffnungsloseste überfordert waren. Vielleicht dreißig Prozent der Teilnehmenden waren schwarz, wie auch die Opfer Adama Traoré und Georg Floyd, doch die Gesamtzusammensetzung war bunt durchmischt. Die Frankfurter Rundschau, die behauptete (offensichtlich ohne Anwesenheit ihres Korrespondenten), die Teilnehmenden seien angeblich „meist dunkelhäutig“gewesen, schrieb objektiven Unsinn: Nein, die Mehrheit war weiß. Und zum Protest gegen Rassismus und Ungerechtigkeit motiviert. Und der Verfasser dieser Zeilen WAR vor Ort. 

In den darauffolgenden Tagen fanden weitere Versammlungen statt, die in ihrer Größe zunächst nicht an die vom 02. Juni – selbst die Polizei sprach von „über 20.000“ Teilnehmenden - heranreichten. Am darauffolgenden Samstag demonstrierten rund 5.500 Menschen erneut in Paris, auf dem Concorde-Platz sowie auf dem Marsfeld in der Nähe des Eiffelturms, und Tausende in weiteren französischen Städten. Am folgenden Dienstag, den 09. Juni, an ihm riefen nunmehr auch staatstragende Kräfte wie die dereinst vom Umfeld des Präsidenten François Mitterrand aufgebaute Vereinigung SOS Racisme zu Protest- und Trauerkundgebungen für Floyd (und Traoré) auf, verkündete Innenminister Christoph Castaner jetzt auch offiziell: Versammlungen würden nun erst einmal „toleriert“, denn „die Emotion“ – wie er es bezeichnete, um nicht vom politischen Verstand zu reden – gehe in diesem Falle über einen „juristischen Rahmen“ hinaus. Am Vortag hatte derselbe Minister angekündigt, nunmehr werde der in mehreren durch die Polizei verursachten Todesfällen beobachteten Würgegriff (clé d’étranglement) bei Kontrollen oder Festnahmen nicht länger angewandt und künftig auch nicht in den Polizeischulen unterrichtet, das Festdrücken auf dem Bauch (plaquage ventral), bei dem sich mehrere Beamte auf den Rücken einer festgesetzten Personen aufsetzen und ihm dadurch die Luft wegdrücken können, hingegen schon. Allerdings, wurde präzisiert, solle dabei nicht auf dem Hals oder dem Nacken der Person Platz genommen werden. Castaners Staatssekretär Laurent Nuñez verkündete seinerseits, als Alternative dürfe künftig allgemein auf einen Taser (Elektroschocker) zurückgegriffen werden.

Die extreme Rechte stellt sich hinter die Polizei und macht mobil

Ein Teil der Polizei nahm es dennoch mächtig übel: Man klage sie des Rassismus an, und nun nehme man ihr auch noch die Möglichkeit zu effektiven Festnahmemethoden weg, ja, liefere sie gar hilflos den kriminellen Horden aus! Und prompt ruderte Castaner auch eilends zurück. Das mit dem Verbot des Würgegriffs zum Beispiel will er inzwischen längst nicht mehr so gemeint haben,  einige Stunden später dann aber wieder doch. In dieser Frage erweckte er den Eindruck eines heillosen Hin-und-Her

Am Freitag, dem 12. Juni demonstrierten in Paris und anderen Städten wie Marseille und Bordeaux insgesamt mehrere Tausend Polizisten zusammen mit Polizeigewerkschaften wie der konservativ geprägten Alliance, ketteten ihre Handschellen an den Gitterstäben öffentlicher Gebäude fest oder warfen dieselben zu Boden und verkündeten ihren Slogan: Als Gegenentwurf zu No justice, no peace (auf Französisch: pas de justice, pas de paix!) erfanden sie pas de police, pas de paix. 

Angefeuert werden sie durch politische Kräfte, die alles Interesse haben, diese Situation weidlich auszubeuten. Zu ihnen zählt der als Law-and-Order-Hardliner hinlänglich bekannte konservative Abgeordnete Eric Ciotti, aber in erster Linie natürlich auch der RN, welcher den behaupteten Verrat an der Polizei lautstark anklagt. 

Dessen Chefin Marine Le Pen besuchte am Freitag Vormittag eine Polizeistation und verließ diese im Kameragewitter. Ihr zufolge gibt es, nun ja, in Frankreich „eigentlich gar kein Problem mit Polizeigewalt“. Wen wundert’s. Aus ihrer Partei heraus wurden im übrigen die, von dieser Seite her ebenfalls zu erwartenden, rassistischen Untertöne laut: Marion Maréchal, Nichte und mitunter Rivalin der Chefin, verkündete, sie werde sich „nicht dafür schämen“ und „nicht dafür entschuldigen, Weiße zu sein“, was auch niemand von ihr gefordert hatte, und redete den Franzosen Angst ein, nach britischen Sklavenhändlern in Bristol oder Kolonisatoren in Neuseeland und US-amerikanischen Südstaaten-Vertretern werde man nun auch „Napoléon und Charles de Gaulle vom Sockel stürzen“. Immerhin würde es bei Napoléon I. zum Thema passen, insofern er  am 20. Mai 1802 auf den Antillen (französischen Karibikinseln) die Sklaverei restaurieren ließ, welche die Jakobiner 1794 abschafften. Ein anderer früherer Spitzenpolitiker des FN, der in die Jahre gekommene Bruno Gollnisch, wollte schon vor Tagen zu Beginn der Proteste die daran Teilnehmenden in ihre Herkunftsländer zurückkehren“sehen. Allerdings sind diese in ihrer überwiegenden Mehrheit französische Staatsbürger.

In der innenpolitischen Polarisierung hat der, von der internationalen Ebene ausgegangene, Protest also nun sein überaus hässliches Gegenstück gefunden.

Paris, 12.Juni 2020

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