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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2020

Der chinesische Staat bekämpft das Virus wie einen Aufstand
vom chinesischen Autor*innenkollektiv

COVID-19 hat eine beispiellose globale Aufmerksamkeit erregt. Ebola, die Vogelgrippe und SARS hatten natürlich auch ihren Medienhype. Aber etwas an der neuen Epidemie ist anders.

Teilweise geht das sicher auf die spektakuläre Reaktion der chinesischen Regierung zurück, die zu ebenso spektakulären Bildern von leeren Megastädten führte – im Gegensatz zu den sonstigen Bildern von überfüllten und verdreckten chinesischen Städten.
Die staatliche Reaktion nährte Spekulationen über einen unmittelbar bevorstehenden politischen oder wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes – zusätzlich angefeuert durch den Handelskrieg mit den USA. Verbunden mit der schnellen Ausbreitung des Virus wurde dadurch, trotz der niedrigen Sterblichkeitsrate, die Vorstellung von einer unmittelbaren globalen Bedrohung befördert.
Die Medien haben die staatliche Reaktion als eine Art Generalprobe für die vollständige Mobilmachung zur innenpolitischen Aufstandsbekämpfung inszeniert. Dies vermittelt uns Einsichten über die Fähigkeiten des chinesischen Staates zu repressivem Handeln, es verdeutlicht aber auch eine große Schwachstelle: Denn dieser Staat ist ­davon abhängig, dass seine allumfassende Propaganda auf eine freiwillige Mobilisierung der Bevölkerung trifft.
Chinesische wie westliche Medien haben den stark repressiven Charakter der Quarantäne betont: im Falle des Westens galt das jedoch als effektive Intervention einer Regierung in einer Notlage, im Falle Chinas aber als totalitäre Überreaktion eines dystopischen Staates. Doch die unausgesprochene Wahrheit ist, dass die Aggressivität des staatlichen Vorgehens in China auch Ausweis einer Schwäche ist.
Der Ausbruch der Epidemie wurde nämlich in jeder Hinsicht durch die schlechte Verbindung zwischen den unterschiedlichen Regierungsebenen befördert: «Whistleblower»-Ärzte wurden, entgegen dem Interesse der Zentralregierung, von lokalen Funktionären unterdrückt, Krankenhäuser lieferten wenig taugliche Berichte ab, und die medizinische Grundversorgung ist extrem schlecht.
Mittlerweile sind einige lokale Regierungen in unterschiedlichem Tempo zur Normalität zurückgekehrt, ebenfalls fast völlig außerhalb der Kontrolle des Zentralstaats (abgesehen von Hubei, dem Epizentrum). Es hängt nahezu vollständig vom Zufall ab, welche Häfen und lokale Betriebe wieder laufen.
Das Flickwerk hat dazu geführt, dass Logistik­netze, die über weite Strecken Städte miteinander verbinden, unterbrochen bleiben, da jede Lokalregierung anscheinend Zügen und Lkws die Durchfahrt verbieten kann. Diese mangelhafte Fähigkeit zum Durchgreifen hat das Regime gezwungen, das Virus wie einen Aufstand zu behandeln und Bürgerkrieg gegen einen unsichtbaren Feind zu spielen.
Die nationale Staatsmaschinerie kam erst am 22.Januar richtig ins Rollen, als die Behörden die Notfallmaßnahmen auf die gesamte Provinz Hubei ausdehnten und der Öffentlichkeit mitteilten, sie hätten das Recht, Quarantänemanahmen zu verhängen und Personal, Fahrzeuge und sonstiges Material für die Eindämmung der Krankheit oder die Errichtung von Blockaden und Verkehrskontrollen zu requirieren. Der volle Einsatz staatlicher Mittel begann mit einem Aufruf zum freiwilligen Einsatz der Menschen vor Ort.

Der kurze Arm des Zentralstaats
Darin zeigte sich ein bekanntes Merkmal chinesischer Staatlichkeit: Dem Zentralstaat fehlen effiziente und durchsetzungsfähige Kommandostrukturen, die bis zur lokalen Ebene reichen, er muss sich auf eine Kombination aus breiten Aufrufen an lokale Funktionäre und Bürger für ihren freiwilligen Einsatz und der Verhängung von Strafen für diejenigen, die darauf nicht reagieren, stützen. Effiziente Antworten findet man allein in den Gebieten, auf die der Zentralstaat den Großteil seiner Macht und Aufmerksamkeit konzentriert, in diesem Fall ist das die Provinz Hubei im allgemeinen und Wuhan im besonderen.
Am Morgen des 24.Januar, fast einen Monat, nachdem das Coronavirus zum erstenmal entdeckt worden war, war die Stadt vollständig abgesperrt, ohne jeden Zugverkehr in die Stadt oder aus ihr hinaus. Nationale Gesundheitsbeamte erklärten, sie könnten jede Person nach Belieben untersuchen und in Quarantäne schicken. Neben den größten Städten in Hubei haben auch Dutzende anderer Städte, darunter Peking, Guangzhou, Nanking und Shanghai, die Bewegung von Gütern und Menschen in unterschiedlichem Ausmaß innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen eingeschränkt.
Einigenorts gab es auf die zentralstaatlichen Aufrufe hin seltsame und strenge Maßnahmen. Am erschreckendsten war die Ausgabe lokaler Pässe an 30 Millionen Einwohner von vier Städten in der Provinz Zhejiang, womit nur eine Person je Haushalt alle zwei Tage die Wohnung verlassen durfte. Städte wie Shenzhen und Chengdu ordneten die Abriegelung einzelner Stadtteile an und setzten ganze Apartmenthäuser 14 Tage lang unter Quarantäne, wenn es dort auch nur einen Virusbefall gab. Hunderte wurden festgenommen oder mit Geldstrafen belegt, weil sie «Gerüchte» über die Krankheit verbreitet haben sollen, und manche, die aus der Quarantäne flohen, wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.
In den Gefängnissen gab es starke Ausbrüche der Krankheit, weil die Verwaltung unfähig war, selbst in einer solchen, zur Isolierung vorbestimmten Umgebung kranke Gefangene zu isolieren.
Solche Maßnahmen erinnern an extreme Fälle von Aufstandsbekämpfung und an das Handeln militärisch-kolonialer Besatzungsmächte in Algerien oder Palästina. Doch noch nie wurden sie in einem solchen Ausmaß durchgeführt, auch nicht in den Megastädten, in denen ein großer Teil der Weltbevölkerung heute lebt. Sie sind ein Lehrbeispiel für alle, die an einer globalen Revolution interessiert sind, denn hier haben wir einen Testlauf staatlicher Reaktion erlebt.

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