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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2020

Der Staat weiß alles, tut alles
Gespräch mit Jan Kirchner

Südkorea wird oft als Vorbild im Umgang mit Corona genannt. Anfangs war es nach China am stärksten betroffen, brachte die Ausbreitung aber ohne Lockdown schnell unter Kontrolle. Violetta Bock sprach Mitte Mai mit JAN KIRCHNER, der seit zwei Jahren in Seoul wohnt.

Wie ging es bei euch los?

Corona ist in Korea im Januar aufgetreten und zwar das erstemal in Daegu, einer Stadt, die sowieso schon einen schlechten Ruf hat. Das ist die Stadt der Anhänger des Diktators Park Chung-hee, also die Faschistenhochburg, auch bei Wahlen. Es ist die heißeste Stadt Koreas, Gangsterfilme spielen meistens dort, und ausgerechnet dort ist das Virus ausgebrochen, in einer der vielen evangelikalen Sekten, die es hier gibt. Sie bezeichnen sich als Kirchen, aber sie sind so, wie man sie aus Amerika kennt: Unternehmen, die eine christliche Sekte bilden und den Leuten Identität geben, was in diesem sehr kapitalistischen Land sehr wichtig ist.
Der Kapitalismus wurde hier unter Park Chung-hee (1961–1979) sehr schnell und ohne Rücksicht auf Verluste aufgebaut, dadurch wurde die ganze Kultur abgeräumt. Das hat die Leute etwas leer zurückgelassen und in diese Leere sind die evangelikalen Gruppen vorgestoßen.
Der erste große Corona-Cluster entstand bei einem dieser Gottesdienste. Das Virus hat sich schnell ausgebreitet, aber sie haben es auch schnell unter Kontrolle gekriegt, indem sie die Handydaten konsequent zurückverfolgt haben. Die Zahl der Infizierten betrug etwas über 10000, derzeit sind es etwa tausend Infizierte.
Anfang Mai befürchtete man eine zweite Welle. Es gibt in Seoul eine Schwulenszene und eine Straße, in der mehrere Schwulenclubs sind. Da war jemand mit COVID-19 und hat es wohl ordentlich weitergegeben. Man kriegt von der Regierung immer Warnungen aufs Handy: Wenn ihr dort und dort gewesen seid, bleibt lieber in Quarantäne. Den Leuten, die in den Clubs waren, haben sie direkt gesagt, bleibt 14 Tage lang in Quarantäne. Das kam auch groß in den Medien.
Das hat den Nachteil, dass man gleich weiß, wer dort war. Es gibt zwar ein Antidiskriminierungsgesetz, aber zwischen Anspruch und Realität ist ein großer Unterschied. Es gab in Korea niemals ein 1968, als Ereignis, das zur Liberalisierung der Gesellschaft geführt hätte. Gegenüber der Regierung ist die Bevölkerung sehr kritisch, sehr viel mehr als die Deutschen, aber die Gesellschaft ist noch sehr konservativ, wie 1960.
Vorher hatten sie angefangen, an den Flughäfen zu kontrollieren. Südkorea ist ja so gesehen eine Insel. Im Norden ist die Grenze hermetisch dicht, man kommt nur mit dem Flugzeug oder mit der Fähre ins Land. Seit dem 1.April gibt es Corona-Kontrollen bei der Einreise. Aber wir kamen vorher an, da hat man nur Fieber gemessen und Wärmekameras aufgestellt und es wurden gezielt Corona-Tests gemacht. Mittlerweile wird jeder Reisende von auswärts getestet und muss in eine 14tägige Quarantäne. Das wird auch überprüft. Sie rufen an, kommen auch mal vorbei, du darfst deine Wohnung nicht verlassen, sie stellen dir Essen vor die Tür.

Das wird vom Staat organisiert?

Ja, natürlich. Der Staat entfaltet hier wesentlich mehr Aktivität als der deutsche Staat. Das wird auch von ihm erwartet. In einem Interview mit France24 wurde die Außenministerin Kang gefragt, warum man keine Ausgangsbeschränkungen verhängt habe. Sie hat geantwortet, das hätte unsere Bevölkerung nicht akzeptiert, ich denke zum einen, weil die Koreaner auf wesentlich kleinerem Wohnraum leben als in Deutschland, zum anderen aber wegen des Verhältnisses der Koreaner zu ihrer Regierung – sie sind nämlich wegen der vielen Diktaturen sehr misstrauisch.
Bis 1987 hat es in Südkorea eine Abfolge von Diktaturen gegeben, und wenn es dann heißt, ihr dürft nicht mehr rausgehen, würde das wahrscheinlich für Unruhe sorgen. Es hat sich auch herausgestellt, dass es nicht notwendig war. Als ich hier aus der Ferne die Ausgangssperren in Deutschland beobachtet habe, kam mir das total bizarr vor, als ob du einen Endzeitfilm guckst. Ich bin froh, dass ich nicht dabei war. In Deutschland scheint sich ja alles um COVID-19 zu drehen. Das ist hier nicht so, auch nicht in den Nachrichten.

Südkorea wird immer als Vorbild genannt, wegen der Dichte an Tests und der systematischen Nachverfolgung.

Ja, es gab direkt die Möglichkeit, Tests zu machen. Es gab von Anfang an auch Drive-Ins und Gesichtsmasken. Viele Koreaner sagen, dass sie das eigentliche Geheimnis des Erfolgs sind. Die Leute waren auch von Anfang an vorsichtig. In der U-Bahn haben alle Masken getragen, auch auf der Straße, es würde als rücksichtslos gelten, wenn man sie nicht trägt. Es geht ja nicht nur darum, sich selbst zu schützen, sondern vor allem darum, andere nicht zu gefährden. Ohne Maske rumzulaufen, wäre ein bißchen wie Auto fahren ohne anschnallen.
Ich versteh die Aufregung in Deutschland nicht ganz. Hier haben auch vorher schon viele Masken getragen, etwa wenn man erkältet ist, teils tragen Jungen oder Mädchen die auch, wenn sie keine Zeit hatten, sich zu schminken, oder auch weil sie Bock haben, sich zu vermummen. Man sieht sie auch außerhalb der Corona-Pandemie. Die Furcht zu erkranken oder andere anzustecken, war vorher schon groß.

In Deutschland gab es nicht nur Angst vor dem Virus selbst, sondern auch davor, dass das Gesundheitssystem damit absehbar schnell an seine Grenzen kommt. Wie ist das bei euch?

Ich würde behaupten, das Gesundheitssystem in Südkorea ist besser, allein weil in den Krankenhäusern mehr Personal arbeitet. Mir fiel das direkt auf, als ich in letzter Zeit öfter da war. Die Krankenversicherung fordert von dir, dass du dich einmal im Jahr durchchecken lässt, sonst kriegst du Probleme, anschließend gibt es ein Gespräch mit der Ärztin. Das medizinische Personal ist sehr gut geschult, die Geräte sind sehr modern. Das einzige Problem ist, dass die Krankenversicherung, die man hier als Arbeitnehmer hat, nicht alles übernimmt.
Hier stehen auch überall Spender mit Desinfektionsmittel rum, wenn du in die U-Bahn gehst, in öffentlichen Gebäuden, selbst im Hausflur.

Gab es auch Entlassungswellen?

Natürlich, schon. Die koreanische Wirtschaft ist eine Exportwirtschaft und sowas wie Kündigungsschutz gibt es hier nicht. Jeder Koreaner hat vom Staat 100000 Won bekommen, als sog. Corona-Entschädigungsgeld, das wurde natürlich direkt ausgegeben. Das gab es aber nur für Koreaner.

Wie läuft das mit der Tracing App?

Als wir eingereist sind, mussten wir uns die App runterladen. Sie hat dich zwei Wochen lang jeden Tag gefragt, wie es dir geht. Ich hatte keine Symptome, deswegen weiß ich nicht, was sonst passiert wäre. Nach zwei Wochen konnte man die App löschen. Aber wenn ich jetzt COVID-19 hätte, würden sie meine Handydaten zurückverfolgen und eine Warn-SMS rausschicken. Es gibt auch Stadtkarten, auf denen man sehen kann, wo sich Infizierte aufgehalten haben.

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