Der evolutionäre Dampfkochtopf hinter der kapitalistischen Urbanisierung
vom chinesischen Autor*innenkollektiv
Die Pandemie, die das Virus SARS-CoV-2 derzeit verursacht, ist wie seine Vorläufer SARS-CoV, die Vogelgrippe und die Schweinegrippe an der Schnittstelle von Ökonomie und Epidemiologie entstanden.
Es ist kein Zufall, dass viele dieser Viren Tiernamen in ihren Bezeichnungen führen, denn die Krankheiten, die sie unter den Menschen verbreiten, sind fast immer das Resultat «zoonotischer Übertragung», d.h. des Überspringens der Viren von Tieren auf Menschen. Diese artenübergreifende Ansteckung findet durch Nähe und regelmäßigen Kontakt statt, sie bilden die Umgebung, in der die Krankheit sich entwickelt. Ändert sich die Schnittstelle zwischen Menschen und Tier, ändern sich auch die Bedingungen, unter denen sich die Krankheit entwickelt.
Wuhan ist zusammen mit Chongqing, Nanking und Nanchang einer der vier im Jangtse-Tal gelegenen «Hochöfen» Chinas – so genannt wegen ihrer drückend heißen Sommer. In Wuhan konzentriert sich aber auch die Produktion von Stahl, Beton und anderen Materialien für Chinas Boomsektor Nr.1, die Bauindustrie. Hinter diesem Ofen, der die Industriezentren der Welt antreibt, findet sich jedoch noch ein zweiter, damit zusammenhängender: der evolutionäre Dampfkochtopf der kapitalistischen Agrikultur und Urbanisierung. Er liefert den idealen Nährboden für die Entstehung immer verheerenderer Seuchen, für ihre Modifikation und für die zoonotischen Sprünge, die ihnen erlauben, über Menschen herzufallen. Hinzu kommen ähnlich intensive Prozesse an den Rändern der Ökonomie, wo «wilde» Arten auf Menschen treffen, die dazu getrieben werden, zunehmend ausgedehntere Eingriffe in lokale Ökosysteme zu unternehmen.
Das jüngste Coronavirus enthält mit seinem «wilden» Ursprung und seiner plötzlichen Verbreitung entlang eines hochindustrialisierten und urbanisierten Kerns der globalen Ökonomie beide Dimensionen unserer neuen Ära politisch-ökonomischer Seuchen.
Dieser Grundgedanke wurde am gründlichsten von linken Biologen wie Robert G. Wallace entwickelt, dessen 2016 erschienenes Buch Big farms make big flu* die Verbindung zwischen kapitalistischem Agrobusiness und den Ursachen der jüngsten Epidemien von SARS bis Ebola ausführlich darstellt. Diese Epidemien können grob in zwei Gruppen unterteilt werden: Die erste hat ihren Ursprung im Kernbereich der landwirtschaftlichen Produktion, die zweite in deren Hinterland. An Hand der Untersuchung der Vogelgrippe (H5N1) benennt Wallace einige geografische Schlüsselfaktoren für solche Epidemien, die in Kernbereichen der Produktion entstehen:
«In vielen der ärmsten Länder sind die ländlichen Regionen heute durch ein nichtreguliertes Agrobusiness geprägt, das sich neben den Slums an der Peripherie der Städte breit macht. Die Übertragung des Virus in dafür anfällige Gebiete erhöht seine genetische Variation, wodurch H5N1 humanspezifische Eigenschaften entwickeln kann. Bei seiner Verbreitung über drei Kontinente schließlich kommt H5N1 in Kontakt mit einer wachsenden Vielfalt sozioökologischer Umwelten, einschließlich lokalspezifischer Kombinationen von vorherrschenden Wirtsformen, Formen der Geflügelhaltung und Maßnahmen der Tiermedizin.»
Diese Verbreitung wird natürlich von den globalen Warenkreisläufen und der regulären Arbeitsmigration angetrieben, die die Geografie der kapitalistischen Ökonomie bestimmen. Das Resultat ist «eine eskalierende Selektion in Populationen», über die sich das Virus auf einer größeren Anzahl evolutionärer Pfade in kurzer Zeit ausbreitet. Die Tatsache, dass die «Globalisierung» eine schnellere Ausbreitung solcher Krankheiten ermöglicht, lässt sich leicht aufzeigen und ist bereits Gemeinplatz in der Mainstream-Presse – allerdings mit dem bedeutenden Zusatz, dass dieser Zirkulationsprozess das Virus zu schnellerer Mutation anregt.
Genetische Monokulturen sind ein Seuchenherd
Die wirkliche Frage stellt sich jedoch schon früher: Noch vor der Zirkulation, die die Widerstandskraft solcher Krankheiten erhöht, hilft die Logik des Kapitals den zuvor isolierten oder harmlosen Virenstämmen in Umwelten zu dringen, die spezifische Eigenschaften begünstigen, die Epidemien verursachen. Dazu gehören schnelle virale Lebenszyklen, die Fähigkeit zur zoonotischen Übertragung des Virus auf verschiedene Träger und die Fähigkeit, neue Übertragungswege zu entwickeln. Diese Virenstämme treten wegen ihrer Virulenz hervor.
Man könnte annehmen, dass die Entwicklung virulenter Stämme den gegenteiligen Effekt hat, dass der schnellere Tod des Wirts dem Virus weniger Zeit zur Ausbreitung lässt. Die gewöhnliche Erkältung ist ein gutes Beispiel dafür, ihre niedrige Intensität erleichtert ihre große Verbreitung in der Bevölkerung. Doch in bestimmten Umgebungen macht die entgegengesetzte Logik mehr Sinn: Verfügt ein Virus über zahlreiche Wirte derselben Spezies in naher Umgebung, wird eine höhere Virulenz zum Evolutionsvorteil, besonders wenn solche Wirte einen kürzeren Lebenszyklus aufweisen.
Die Vogelgrippe ist hier wieder ein gutes Beispiel. Wallace verweist auf Studien, wonach es «endemische hochpathogene Stämme [der Grippe] bei Wildvogel-Populationen, dem absoluten Ursprungsreservoir nahezu sämtlicher Grippearten, nicht gibt». Stattdessen scheinen domestizierte Populationen in dicht gedrängter industrieller Haltung eine eindeutige Beziehung zu Krankheitsausbrüchen aufzuweisen – aus naheliegenden Gründen:
«Die Aufzucht genetischer Monokulturen von Haustieren beseitigt jede verfügbare Art von immunologischer ‹Brandschneise›, die eine Krankheitsübertragung verlangsamen könnte. Größere Populationen und Belegungsdichten erleichtern größere Übertragungsquoten, denn sie vermindern die Immunreaktionen. Ein hoher Durchsatz, Bestandteil jeder industriellen Produktion, liefert ständig neue Infektionskandidaten, Brennstoff für die Evolution der Virulenz.»
Jedes dieser Merkmale ist der Logik des industriellen Wettbewerbs geschuldet. Insbesondere hat die hohe Durchsatzrate in Tierfarmen eine stark biologische Dimension: «Sobald Tiere in industrieller Haltung das richtige Gewicht erreichen, werden sie getötet. Vorhandene Grippeinfektionen müssen in jedem Tier ihre Übertragungsschwelle schnell erreichen … Je schneller die Viren produziert werden, desto größer der Schaden für das Tier.» Ironischerweise kann der Versuch, solche Ausbrüche durch Massenschlachtung zu unterdrücken – wie im Fall der afrikanischen Schweinepest, wo sie zum Verlust von fast einem Viertel des weltweiten Angebots an Schweinefleisch führte –, unbeabsichtigt zur Zunahme des Selektionsdrucks führen und die Entwicklung hypervirulenter Stämme begünstigen.
Solche Ausbrüche haben sich in der Geschichte oft als Folge von Kriegen oder Umweltkatastrophen ereignet, wenn Viehpopulationen einem größeren Druck ausgesetzt waren. Doch die Zunahme der Intensität und Virulenz solcher Krankheiten ist unleugbar eine Folge der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise.
*Robert G. Wallace: Big farms make big flu. Dispatches on infectious disease, agribusiness, and the nature of science. New York: Monthly Review Press, 2016. Alle Zitate in diesem Artikel sind diesem Buch entnommen.
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