Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2020

Was hilft gegen eine Gefahr, die man nicht sieht?
von Wolfgang Hien*

Die Corona-Krise zeigt: Der klassische Arbeitsschutz geht teilweise am Problem vorbei.

Der Arbeitsschutz war bislang darauf ausgerichtet, Unfälle und Berufskrankheiten zu vermeiden oder zumindest ihre Zahl zu reduzieren. Dem zugrunde lagen detaillierte technische Vorschriften und eingegrenzte Gefährdungs-Check-Listen. Die Gefahren wurden im vor­hin­ein genau beschrieben. Das Arbeitsschutzgesetz aus dem Jahr 1996 hat dem das Gebot hinzugefügt, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu untersuchen, zu beurteilen und entsprechende Schutzmaßnahmen zu treffen. Es gibt viele verschiedene Gefährdungen, die auch miteinander wechselwirken. Und es gibt nicht nur physikalische und chemische, sondern auch biologische und psychische Faktoren.
Den kundigen Fachleuten war klar, dass Gefährdungsbeurteilung und Maßnahmenfindung nur gemeinsam mit den Betroffenen, den Arbeitenden, erstellt werden können. Genau hier kommen entscheidende Fragen ins Spiel: Wie gut oder schlecht sind Information, Aufklärung, Kommunikation? Wie gut oder schlecht erlaubt die betriebliche Atmosphäre, über Gesundheit und Gesundheitsschutz zu sprechen? Und nicht zuletzt die Frage: Wieviel ist den arbeitenden Menschen ihre Gesundheit wert?
Die Corona-Krise ist ein Lackmustest dafür. Aus allen bislang fragmentarisch vorliegenden Betriebsberichten und aus ersten Interviews, die der Autor durchführen konnte, lässt sich schließen, dass Information, Aufklärung und Kommunikation überwiegend mangelhaft und ungenügend waren und sind. Auch wenn man über das neue Corona-Virus vieles noch nicht weiß, so dürfte es keinen Zweifel geben, dass es sehr ansteckend ist und bei Älteren sowie an Herz und Lunge Vorerkrankten schwere und zuweilen auch lebensbedrohliche Gesundheitsschäden hervorrufen oder verstärken kann.
Die Situation in Italien zeigt: Sind am Arbeitsplatz und in der Umwelt gesundheitsschädliche Stäube und weitere schädliche Faktoren vorhanden, so ergeben sich fatale Wechselwirkungen. Und nicht nur in Italien, sondern auch hierzulande haben Betriebsbosse in unverantwortlicher Weise Produktion und Dienstleistungen weiterfahren lassen, die ArbeiterInnen Kopf an Kopf und Schulter an Schulter, trotz des Wissens um die Übertragungsgefahr. Im Gesundheits- und Sozialwesen, wo notgedrungen weitergearbeitet werden muss, haben sich teilweise chaotische Situationen ergeben, die bis heute andauern.
Trotz des seit 2013 existierenden, unter Beteiligung des RKI verfassten «Berichts zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz», der allen Verantwortlichen bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, wurden die darin enthaltenen Vorsorgemaßnahmen durchweg ignoriert. Stattdessen wurden Neoliberalisierung und Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung weiter vorangetrieben.

So reden sie im Betrieb
Doch auch in den Belegschaften selbst, unter den Kolleginnen und Kollegen, entwickelten sich, das zeigen erste kritische Berichte, sehr unterschiedliche Diskussionen. Es gab und gibt KollegInnen, die «das Ganze für total hochgespielt» halten; es gibt andere, die um ihren Arbeitsplatz fürchten und sich heute schon im Arbeitslosigkeits-Aus sehen; und es gibt diejenigen, die eine mehr oder weniger große Angst um ihre Gesundheit entwickeln.
In manchen Arbeitsbereichen lassen sich Momente der Solidarität entdecken, d.h. Kommunikations- und Kooperationsformen, im Rahmen derer man sich hilft und gegenseitig unterstützt. In anderen Arbeitsbereichen greifen unsolidarische Formen der Ausgrenzung und Stigmatisierung um sich, vor allem gegenüber Menschen, die infiziert waren und aus der Quarantäne zurückkommen.
Einzelne Berichte schließlich offenbaren eine merkwürdige Abgrenzungstendenz gegenüber älteren «Risikopersonen», die – wie mir ein Interviewter sagte – «am besten zu Hause bleiben sollten», damit in gewohnter Weise und ohne Abstandsregeln weitergearbeitet werden könne. Das alles verweist auf die Frage, welchen Stellenwert Gesundheit und Gesundheitsschutz einnehmen und ob Gesundheit eher individualistisch oder eher kollektiv und solidarisch verstanden wird.
Wie mit Gesundheit am Arbeitsplatz umgegangen wird, hängt von einem komplexen Gefüge aus Bewusstsein, Haltung und Orientierung der ArbeiterInnen ab. Die IGM veröffentlichte im April eine Broschüre mit dem Titel Corona-Prävention im Betrieb. Darin finden sich viele nützliche Hinweise zur technischen und organisatorischen Arbeitsgestaltung, z.B. wie in Werks­hallen die Raumaufteilung und der Arbeitsablauf geändert werden können.
Das Hauptproblem aber, nämlich die soziale Atmosphäre – Individualismus oder Solidarität, Abgrenzung oder Mitempfinden und gemeinsames Suchen nach Lösungen, Ignoranz oder Rücksichtnahme –, wird nicht thematisiert. Gerade hier haben gewerkschaftlich Aktive die Aufgabe, zur Entwicklung eines solidarischen Bewusstseins und zu solidarischen Lösungsversuchen beizutragen. Doch weiß jeder gewerkschaftlich und politisch aktive Mensch, wie schwierig das manchmal ist. Es bilden sich oftmals informelle Gruppen, die gegeneinander arbeiten.
Und wenn der Druck von oben wächst, zeigen sich – das bestätigen leider viele Studien – deutlich mehr Mobbingtendenzen. Das ist in der aktuellen Corona-Krise nicht viel anders. Homeoffice wird als unternehmerisches Flexibilisierungsinstrument hoffähig, das Arbeitszeitgesetz wird ausgehebelt. Das erzeugt Angst, die sich mit der Angst vor dem Virus vermischt.

Angst ist nicht nur negativ
Angst ist ein existenzielles, grundmenschliches und unvermeidbares Gefühl. Was von linken, stark vom Kriterium des rationalen Denkens geleiteten AktivistInnen leider oft übersehen wird, ist die anthropologische Grundtatsache, dass Emotionen und Affekte den Rahmen darstellen, innerhalb dessen sich Kommunikation und Kooperation abspielen. Angst spielt darin eine entscheidende Rolle.
Während die Furcht vor etwas Bestimmten noch eingrenzbar ist, entwickelt sich bei nicht oder nur schwer einschätzbaren Gefahren Angst. Sie weitet sich zu einem Allgemeinbefinden aus, das den ganzen Körper ergreift, Herz und Lunge einengt und letztlich eher lähmt als aktiviert. Angst verbindet sich affektiv immer auch mit Endlichkeit und Tod. Sie ist unvermeidlich und überkommt den Menschen, wenn ihm Informationen fehlen oder er Informationen falsch einschätzt, wenn die soziale Umwelt unverständlich wird, wenn Handlungsoptionen aus dem Blickfeld geraten, wenn im eigenen Tun oder gar im eigenen Sein kein Sinn mehr erkennbar ist.
Doch Angst ist immer auch ein Signal, das uns auffordert, uns neu zu orientieren. Sie kann ein Signal sein, sich mit anderen auszutauschen und zu verbünden, um neue Handlungsoptionen, neue Wege aus dem Dickicht zu finden und gemeinsam zu begehen. Angst kann eine Energie sein, die zu einer neuen Stärke führt.
Es heißt oft, Angst sei kein guter Ratgeber. Doch das stimmt nicht. Vor der Angst zu fliehen, sie zu verleugnen oder gar zu verdrängen, ist kein guter Ratgeber. Unbearbeitete Angst führt zur Anpassung, zu Konformität, gehorsamer Unterordnung, zum Sich-Hineinwerfen in das alltägliche Getriebe, etwa in die Arbeit oder gar ins Heldentum der Arbeit. Unbearbeitete Angst führt nicht nur zu Anpassung und unsozialem Verhalten, sondern auch zu Autoaggression und Krankheit.
Um uns vor Verletzungen zu schützen, werden wir dann hart, entwickeln eine Elefantenhaut, mehr noch: wir bauen einen Panzer um uns herum und geraten – manchmal fast unmerklich – in einen Kriegszustand: alle gegen alle. Doch Verpanzerungen schützen nicht wirklich, ganz im Gegenteil: Sie sperren leibliche Energien ein und verwandeln sie in Aggressionen, die sich auch gegen uns selbst richten. Auch gegenwärtig verdichtet sich der Eindruck, dass die Bewegung der «Corona-Leugner» von einer männlich dominierten Fassade des Hart-Seins und Stark-Seins gespeist wird. Diesem Irrweg entgegenzutreten, ist das Gebot der Stunde.

Solidarität hilft, Gefahren zu bewältigen
Voraussetzung eines gelebten Gesundheitsschutzes im Betrieb ist nicht nur die Einhaltung von Gesetzen und Normen, sondern die Einsicht, dass wir alle verletzliche Wesen sind, d.h. dass Mitgefühl, Rücksichtnahme, Hilfestellung, wechselseitige Verantwortung und im Alltag gelebte Solidarität auf längere Sicht überlebensnotwendig für uns alle sind.
Wir können uns vor Gefährdungen, Zurichtungen und Drangsalierungen nur schützen, wenn wir zunächst einmal unsere grundsätzliche Verletzlichkeit anerkennen. Nicht alle Gefährdungen sind grundsätzlich kontrollierbar, wohl aber durch solidarisches Handeln eingrenzbar. In diesem Kontext können sich unsere Angst und unsere Wut zu einer kollektiven Kraft verwandeln, dann braucht sich die Wut kein Ersatzobjekt zu suchen.
Gesundheit ist eine elementare Grundvoraussetzung für ein gutes Leben. Gesundheit ist zwar nicht alles, doch ohne einen einigermaßen gesunden Körper und einen einigermaßen gesunden Geist ist alles nichts. Gesundheit ist viel mehr als die Abwesenheit körperlicher Gebrechen. Gesundheit ist psychosomatisches und soziales Wohlbefinden, d.h. eine Situation als Person, die eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.
Es geht nicht darum, Krankheit als solche aus der Welt zu schaffen. Krankheit und Tod gehören zum Menschsein. Es geht darum, sich der schädlichen Einflüsse, die vorzeitig zu Krankheit und unnötigem Leiden führen, bewusst zu werden, sie abzustellen oder so weit wie irgend möglich zu begrenzen. Ungünstige Arbeits- und Lebensverhältnisse tragen zu diesem unnötigen Leid bei. Die Aufgabe von Prävention bzw. Gesundheitsschutz ist die, ursächliche Faktoren dieser vermeidbaren Gesundheitsschäden herauszufinden und entsprechende Maßnahmen zu deren Verhütung zu treffen.
Doch das ist nicht alles. Die Bremer Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil sagt mit Recht: «Ich fürchte mich vor einer Gesundheitsüberwachung, die allein die körperliche Unversehrtheit zum höchsten Gebot erklärt» (Weser-Kurier, 25.4.2020). Wenn unsere sozialen Kontakte, im Betrieb wie im Privatleben, Gegenstand totaler Überwachung werden und wenn digitales Tracking und Denunziantentum in­ein­andergreifen, ist nicht nur unsere bürgerliche Freiheit bedroht, sondern auch unsere seelische und psychosomatische Gesundheit. Dann leben wir nur noch in Angst. Das kann und darf es nicht sein!
Wir können die Corona-Krise nutzen, um uns unserer Verletzlichkeit, unserer Hilfebedürftigkeit und der Notwendigkeit der Solidarität neu gewahr zu werden. Sie zeigt uns erneut die Notwendigkeit, den neoliberal verordneten Individualismus zu überwinden. Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz kann in diesem Sinne systemsprengend sein, und als solchen sollten wir ihn aufgreifen.

*Der Autor ist Arbeits- und Gesundheitswissenschafler und lebt in Bremen.

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