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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2020

Ruhe vor dem Sturm oder Fehleinschätzung des Ausmaßes der Pandemie?
von Christian Haasen

Der erste Corona-Fall auf dem afrikanischen Kontinent wurde Mitte Februar registriert, bis Mitte Mai waren dann in jedem afrikanischen Staat Fälle verzeichnet worden. Am 12.April postete Melinda Gates, mit ihrem Mann Bill philanthropisch in Afrika unterwegs, dass die COVID-19 Pandemie in Afrika ein tragisches Ausmaß annehmen würde: „it will make Africa have dead bodies lying on the streets“.

Diese Prognose basierte auf dem schlechten Zustand der Gesundheitsversorgung mit z.B. so gut wie keinen Beatmungsgeräten, der extremen Armut mit fehlenden sanitären Einrichtungen und ohne fließend Wasser, und der Schwäche der Regierungen bei der Bewältigung von großen Katastrophen.

Während es weltweit mittlerweile verschiedene Epizentren der Pandemie gibt – vor allem USA, Brasilien und Indien – so muss festgestellt werden, dass die prognostizierte Katastrophe zumindest bisher in Afrika nicht eingetroffen ist. Auch wenn ein ausgeprägter Mangel an Testkapazitäten eine höhere Dunkelziffer als in anderen Teilen der Welt vermuten lässt, so sind die Zahlen der positiv getesteten Personen und der Corona-Toten im Vergleich zu den USA und Europa wesentlich geringer: Bei einer Bevölkerung in ganz Afrika vom 1,3 Milliarden (USA: 330 Millionen, Europa: knapp 700 Millionen) waren Ende Juni gerade mal 400.000 getestete Fälle positiv (USA: 2,6 Millionen, Europa: 2,4 Millionen) und es gab 10.000 Corona-Tote (USA: 128.000, Europa: 190.000). Die Zahlen sind eher vergleichbar mit der Volksrepublik China, die mit einer ähnlichen Einwohnerzahl (1,4 Milliarden) nur 85.000 positiv-getestete Fälle und 4700 Corona-Tote verzeichnet.

Dieses doch bisher benigne Muster wirft Fragen auf. Es lassen sich drei Hypothesen aufstellen, die das Ausbleiben einer Katastrophe auf dem afrikanischen Kontinent erklären könnte. Die erste Hypothese lautet, dass Afrika noch am Anfang steht und die Katastrophe noch einbrechen wird. Die zweite Hypothese geht davon aus, dass die afrikanischen Regierungen alle frühzeitig die richtigen Maßnahmen eingeleitet haben und somit die Kurve flach halten konnten, ähnlich wie es die VR China von sich behauptet. Eine dritte Hypothese geht davon aus, dass die Bedingungen in Afrika sich so sehr von der restlichen Welt unterscheiden, dass das Coronavirus dort nicht so einen katastrophalen Verlauf anrichten kann, wie leider in Europa und den USA.

Die erste Hypothese
Die erste Hypothese bleibt natürlich spekulativ. Bei Betrachtung der Kurven ist festzustellen, dass es im April nicht, wie in den USA und Europa, zu einem Peak gekommen ist, sondern die Zunahme deutlich gemäßigter und konstanter über die letzten Monate verlief. Für diese Hypothese spricht vielleicht die Tatsache, dass in dem bisher am deutlichsten betroffenen afrikanischen Land, Südafrika, die Zahl der Neuinfektionen in den letzten Wochen eher zugenommen hat. Dagegen hat die Zahl der Neuinfektionen in Ländern wie Äthiopien und Somalia schon wieder abgenommen. Aus den Kurven lässt sich somit nur wenig ableiten, erstrecht wenn wir davon ausgehen müssen, dass die Zahl der Testungen viel zu gering ist. Der Verlauf der nächsten Monate wird dieses Rätsel lösen.

Die zweite Hypothese
Die meisten afrikanischen Regierungen haben recht früh mit teilweise drakonischen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus reagiert. So hat z.B. die ghanaische Regierung schon am 15.März – zu dem Zeitpunkt gab es nur sechs bestätigte Coronafälle in Ghana – alle Grenzen gesperrt, den Flugverkehr gestoppt, alle Schulen dichtgemacht, alle Versammlungen verboten und in der Metropolregionen von Accra/Tema und Kumasi eine Ausgangssperre verhängt. Ähnlich drakonisch waren die Maßnahmen in Südafrika, wo speziell die dann zusätzlich verhängte nationale Ausgangssperre mit polizeilicher Gewalt (und Todesopfern) durchgesetzt werden musste. Trotzdem werden diese Regierungen verlauten lassen, dass die Maßnahmen notwendig waren, um die bevorstehende Pandemie einzudämmen – und auf die Statistiken verweisen, um den Erfolg ihrer Strategie zu betonen, der ggf. die zweite Hypothese unterstützen würde.

Doch die Frage stellt sich, was diese Maßnahmen die Gesellschaft kosten. Dabei geht es nicht nur um die wirtschaftlichen Kosten, die alle Länder der Welt – egal ob mit oder ohne Lockdown – dank der globalen Krise zu verzeichnen haben. In den afrikanischen Ländern ziehen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eine Reihe von massiven gesundheitlichen Folgen nach sich: Programme für Frauengesundheit (z.B. Schwangerschaftsvorsorge) wurden komplett eingestellt, obwohl Afrika bereits die höchste Rate an Müttersterblichkeit hatte; Impfprogramme wurden unterbrochen, was z.B. einen Polioausbruch im April im Niger zur Folge hatte; Malariapräventionsprogramme und HIV-Eindämmungsmaßnahmen wurden ebenfalls unterbrochen, mit einem dadurch verursachten, geschätzten Anstieg von einer halben Million Todesfälle. Gäbe es eine verlässliche Statistik der Sterblichkeit in Afrika, würden wir trotz niedriger Corona-Todesfälle eine deutlich erhöhte Übersterblichkeit messen, die auf die Unterbrechung der Gesundheitsaktivitäten durch die Corona-Eindämmungsmaßnahmen zurückzuführen wäre.

Hinzu kommt die Frage, welche Auswirkungen eine Ausgangssperre auf eine Bevölkerung hat, die in der Regel täglich ihre Nahrung auf dem Markt kauft, schon allein deswegen, weil sie keinen Kühlschrank besitzt, und weil sie unter prekären Bedingungen von der Hand in den Mund lebt. Da bedeutet eine Ausgangssperre Hunger – ein Virus, der schon zu Millionen Toten in Afrika geführt hat, somit weitaus gefährlicher ist als das Coronavirus. Die Nahrungsmittelunsicherheit wird derzeit durch eine Heuschreckenplage zusätzlich angefeuert. Der „Hungervirus“ ist eine afrikanische Realität, die durch die Pandemie und die daraus folgende globale Wirtschaftskrise entweder mittelfristig, oder durch harte Ausgangssperren bereits kurzfristig massive Auswirkungen hat.

Die dritte Hypothese
Die dritte Hypothese für die Erklärung des milden Verlaufs der Corona-Pandemie in Afrika geht davon aus, dass COVID-19-Erkrankungen in Afrika weniger tödlich verlaufen, weil der Anteil der Bevölkerung, die als Risikopersonen gelten, hier weitaus geringer ist als z.B. in den USA oder Europa. Das Durchschnittsalter in Afrika ist weit niedriger, was nichts anderes bedeutet, als dass die Lebenserwartung hier mit circa 63 Jahren weitaus geringer ist als in den USA (circa 78 Jahre) und in Europa (circa 81 Jahre). Anders ausgedrückt: Die Todeskandidaten für COVID-19 sind in Afrika schon vorher aus anderen Gründen gestorben.

Aber auch andere Gründe können den milderen Verlauf der Pandemie in Afrika mit erklären: Ein größerer Teil des gesellschaftlichen Lebens findet draußen statt – die Infektionsgefahr ist aber größer in geschlossenen Räumen. Und vielleicht haben die Vorerfahrungen mit anderen Epidemien (z.B. Ebola) zu einer schnelleren Akzeptanz für Verhaltenseinschränkungen geführt, während Europa und die USA schon lange keine Epidemie mehr durchmachen mussten.

Die Erkenntnis, dass es vielleicht spezifisch afrikanische Gründe für einen milderen Verlauf der Corona-Pandemie gibt, müsste aber auch in spezifisch afrikanische Maßnahmen münden. Die Schließung von Schulen auf einem Kontinent, wo Schulen fast überall nicht in geschlossenen Räumen stattfinden, müsste hinterfragt werden – Afrika „leidet“ weiterhin am höchsten Analphabetentum von 30 Prozent. Bildungseinrichtungen zu schließen ist somit fatal – „education is the most powerful weapon to change the world“ (Nelson Mandela).

Andererseits ist die Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens mit dem Schwerpunkt der Prävention nicht nur in Bezug auf Corona, sondern insgesamt für alle Gesundheitsfragen in Afrika der zentrale Pfeiler. Es geht nicht um den Aufbau von modernen Krankenhäusern mit Intensivstationen (wie jüngst das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und BMW werbewirksam mit einer Spende von Krankenhausbetten und Sauerstofftanks für Südafrika vormachten), sondern um den (vielleicht auch durch internationale Institutionen wie die WHO gestützten) Ausbau von Gesundheitszentren in allen Regionen, die sowohl für Frauen- und Kindergesundheit, Impfkampagnen, Hygieneförderung und Epidemieprävention zuständig sind. Flankiert werden muss diese Entwicklung vom Ziel einer allgemeinen Gesundheitsabsicherung (Universal Health Coverage), wie sie von der Zivilgesellschaft in Afrika gefordert wird (https://phmovement.org/african-civil-society-statement-on-universal-health-coverage/). Dies bedeutet auf alle Fälle eine Umkehr von dem derzeitigen marktgesteuerten privatwirtschaftlichen Gesundheitssektor zu einem öffentlich gestützten, bedarfsorientierten Gesundheitssystem für alle (siehe auch http://roape.net/2020/06/25/exposing-africas-stark-inequities-of-private-health-care/).

Weiterhin muss uns im globalen Norden klar sein, dass unsere Schlachthöfe nicht nur für Corona-Hotspots verantwortlich sind, sondern durch die viel zu geringen Fleischpreise den afrikanischen Markt auch mit billigem Hühnerfleisch überschwemmen und damit die Hühnerzucht in Afrika unterminieren und das „Hungervirus“ fördern. Nur durch eine Beendigung des Ausbeutungssystems hierzulande und die Unterstützung von lokalen Bildungs- und Gesundheitsinitiativen können wir einen Beitrag leisten, der sich nicht auf eine von uns definierte Katastrophe (COVID-19-Pandemie) stürzt, sondern dem Wohlergehen der Menschen in Afrika dient.

Der Autor ist im Vorstand des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte.

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