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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2020

Erfolg nach zehn Jahren Kampf: In der Persönlichen Assistenz in Berlin gilt jetzt der Tarifvertrag der Länder
Gespräch mit Klaus Drechsel

Bei den Assistenzbetrieben Neue Lebenswege GmbH und ambulante dienste e.V. in Berlin mit zusammen etwa tausend Beschäftigten ist es im April und Mai gelungen, zwei der ersten Haustarifverträge in der Persönlichen Assistenz durchzusetzen – mit beinahe vollständiger Angleichung an den Tarifvertrag der Länder (TVL).

Violetta Bock sprach mit KLAUS DRECHSEL, Tarifkommissionsmitglied bei ambulante dienste (ad), über die Ergebnisse und wie sie im Laufe von zehn Jahren dorthin kamen.

Was macht man eigentlich als persönlicher Assistent?

Die Persönliche Assistenz ist ein Produkt der Behindertenbewegung. Ab den 70er Jahren, mit einer Hochphase in den 80ern, haben Menschen mit Behinderung militant darum gekämpft, dass sie genauso wie «normale» BürgerInnen in ihrer privaten Häuslichkeit leben können und nicht mehr in Heime abgeschoben werden. Die Dienstleistung, die Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben in der Häuslichkeit ermöglicht, das ist die Persönliche Assistenz.
Das ist ein breit gefächertes Feld von Tätigkeiten in der Pflege, in der Mobilitätshilfe, Kommunikations-, Arbeits-, Studienassistenz, Ernährung etc. um die Bedürfnisse des Individuums herum. Man produziert selbstbestimmtes Leben, da kann man schon auch ein bisschen stolz drauf sein. Die Bedingungen in den Betrieben sind sehr verschieden, das Gemeinsame ist die Prekarität.

Wie sind die Arbeitsbedingungen?

Im Tarifprozess haben wir um den schwierigen Teil der Arbeitsbedingungen eine Klammer gemacht. Das Grundproblem bei ad sind die Nullstundenarbeitsverträge. Da hat der Gesetzgeber mittlerweile nachgebessert, indem laut Teilzeit- und Befristungsgesetz nun automatisch zwanzig Wochenstunden vereinbart sind, wenn keine Stundenzahl eingetragen ist. Unser Arbeitgeber unterläuft das mit Zehn-Stunden-Verträgen.
Dann gibt es im Konzept der Persönlichen Assistenz die Wahlfreiheit: einE AssistenznehmerIn kann sich aussuchen, wer bei ihm die Dienstleistung erbringt. Das ist nachvollziehbar, begründet für die Assistentin aber eine prekäre Situation, etwa wenn sie oder er in Ungnade fällt und dann plötzlich ihr Monatseinkommen verliert.

Was habt ihr erreicht?

Das gesamte materielle Volumen des TVL ist jetzt wirksam: Zuschläge, Zulagen, Jahressonderzahlungen, Urlaubsanspruch, Zusatzurlaubsanspruch, Wechselschichtzulagen. Nicht alle, aber ziemlich viele aus verschiedenen Funktionsgruppen haben durch eine andere Entgeltgruppe eine Aufwertung erfahren. Die AssistentInnen waren in der Gehaltsgruppe 3 und sind jetzt in der Gehaltsgruppe 5. Nur bei den Überstunden haben wir eine Sonderregelung getroffen. Das hat mit der spezifischen Struktur unseres Betriebes zu tun.
Geschätzt haben wir jetzt also 300 bis 500 Euro mehr im Monat. Das ist ein ganz schön dicker Brocken und entsprechend groß ist die Freude. Unser Ergebnis strahlt definitiv positiv aus, nicht nur in Berlin, sondern auch bundesweit findet es in diesem Feld Beachtung, insbesondere die Entgeltgruppe 5.
Was es als relevante Größe sonst noch in Berlin gibt, ist das Arbeitgebermodell über das persönliche Budget. Die Beschäftigten in diesem Modell haben noch die Gruppe 3, sie haben keine Tarifbindung und damit auch nicht bestimmte Zulagen. Dort gibt es nun Bemühungen in Richtung Gleichstellung.

Ihr habt zwei Haustarifverträge gemeinsam durchgesetzt?

Wir haben in Berlin eine gemeinsame Betriebsgruppe in der Persönlichen Assistenz. Die Tarifkommissionen, die im August 2018 gewählt wurden, sind getrennt. Die Tarifverhandlungen wurden im wesentlichen gemeinsam geführt. Zum Schluss war bei der Lebenswege GmbH der Prozess schwieriger, so dass es dort noch ein paar separate Verhandlungen gab. Grundsätzlich war unser Herangehen als Beschäftigte: Zusammen sind wir stärker, das hat sich auch die ganze Zeit als roter Faden durchgezogen.

Das Komplizierte bei euch ist ja, dass das Geld woanders herkommt.

Der Bereich «frei gemeinnützige Träger» ist etwas sehr Spezifisches. Die Arbeitgeber in der persönlichen Assistenz sind in der Regel nicht profitorientierte Träger, da ist nicht unbedingt ein antagonistischer Interessengegensatz gegeben. Du hast immer ein Dreieck, das du beachten musst: die Belegschaft, die Betriebsleitung und den Kostenträger, der die Refinanzierung der Dienstleistungen vereinbaren. Wir haben immer darauf geschaut, dass es nicht zu einer Allianz der Betriebsleitung mit dem Kostenträger gegen uns kommt, im Zweifelsfall haben wir selbst eine Allianz gebildet.
Die Refinanzierung durch den Kostenträger musst du bei frei gemeinnützigen Trägern immer im Auge haben, wenn du eine erfolgreiche Tarifpolitik entfalten willst, weil die sonst Ping Pong mit dir spielen. Im Mai 2019 hatten wir mit der Betriebsleitung eine Einigung unter Finanzierungsvorbehalt, danach war lange unklar, wie sich die Kostenträger verhalten. Obwohl sie aus unserer Sicht durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) 2018 eigentlich zur Refinanzierung verpflichtet sind.
Da steht, ausgehend von der seit 2009 ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, eindeutig drin, dass die Bezahlung tariflich vereinbarter Vergütungen nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden kann. Nichttarifgebundene Betriebe müssen sich an den ortsüblichen Kostensätzen orientieren. In Hessen, Berlin und Brandenburg gibt es deshalb Initiativen der Arbeitgeber, sich zu Tarifgemeinschaften zusammenzuschlie­ßen.

Wie habt ihr das geschafft?

Das Wichtigste ist, dass wir seit 2010 im Betrieb präsent sind. 2011 haben wir eine erste Tarifkampagne gemacht und einen Organisationsgrad von etwa 12 Prozent erreicht. Seither gibt es eine Gruppe. Das gemeinsame Betriebsgruppentreffen ist hilfreich, ebenso die Änderung im Bundesteilhabegesetz. Anders als mit dem rot-roten Sparsenat bei der ersten Tarifkampagne gab es nun andere Signale. Der Staatssekretär Alexander Fischer von der LINKEN von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales hat gesagt, sein Projekt für diese Amtsperiode ist, die Tariflücke bei den freien Trägern zu schließen.
2017 fiel dann die Entscheidung für eine zweite Tarifkampagne. Wir haben einen Kampagnenplan erstellt, hatten eine stabile Arbeitsbeziehung mit Ver.di, erste Erfahrungen durch die erste Tarifkampagne und dann haben wir im Oktober losgelegt. Zentral war die Präsenz auf den Betriebsversammlungen (BV), weil wir so dezentralisiert und vereinzelt sind. Und wir haben eine sehr anstrengende Tour durch die monatlich etwa 115 Teamtreffen gemacht.
Bei uns war auch entscheidend, dass die Betriebsratsmehrheit den Prozess unterstützt hat, in der Regel nicht unbedingt aktivistisch, aber sie hat dafür geredet und uns auf jeder Betriebsversammlung den Raum dafür gegeben.
Ver.di hat bei uns seit 2010 das Konzept der bedingungsgebundenen Tarifarbeit verfolgt, bei dem es darum geht, aktive Belegschaften zu fördern. Im Frühjahr 2018 hatten wir einen Organisationsgrad von 30 Prozent. Darauf aufbauend konnten wir den nächsten Schritt tun: Wahl einer Tarifkommission, dann Diskussion über die Forderungen im Herbst 2018.
Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war, dass sich zwei weitere Funktionsgruppen im Betrieb mit eingebracht haben, nämlich die Pflegefachkräfte und diejenigen aus der Büroorganisation. Da hat sich auch was Solidarisches etabliert, was früher eher von einem Gegenein­ander «Büro vs. Assistenz» geprägt war.
Wir haben verschiedenste Kommunikationskanäle bedient – Homepage, Newsletter, Messengergruppe. Eine der Lehren in solchen dezentralen Betrieben, würde ich sagen, ist schon: Organisierung ist möglich, aber es ist unheimlich viel Arbeit und bedarf vieler Gespräche.
Mit Bezug auf die Geschäftsleitung haben wir versucht, viele gemeinsame Interessen reinzupacken. Es ging also erst einmal um die Anhebung des Lohnniveaus, denn auch für die Geschäftsleitung war es ein Problem, genügend Leute zu finden. Daraus resultierte dann im Mai 2019 eine Niederschrifterklärung, die aber unter Finanzierungsvorbehalt stand. Und das hieß, im nächsten Schritt waren die Kostenträger gefragt. Auch da waren wir als Tarifkommissionen bei den Refinanzierungsverhandlungen dabei.
Im Sommer haben sich die Kostenträger noch ein bisschen bedeckt gehalten. Anfang September haben wir daher zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Außer den Pflegekassen waren alle Seiten da. Die Vertreter des Landes haben da die Schließung der Tariflücke nochmal bestätigt.
Daraufhin haben wir – gemeinsam mit unserer Geschäftsführung – zu einer Kundgebung vor der AOK-Pflegekasse aufgerufen. Das hat denen gar nicht geschmeckt. Dann haben wir mit den Pflegekassen eine gemeinsame Presseerklärung abgemacht, in der sie sich zur Refinanzierung bekennen. Und um diesen Preis haben wir die Kundgebung dann zurückgenommen. So hatten wir im November eine mündliche Zusage. Wir mussten also nicht streiken, bei uns haben kleine Aktionen gereicht, mit denen wir unsere Schritte jeweils begleitet haben.

Ihr seid als Betriebsgruppe sehr eigenständig organisiert?

Ja, definitiv. Grundhaltung im Kern der Aktiven ist, im Zweifel machen wir alles selber. Die Adressverwaltung von Kontakten, oder wenn es um politische Initiativen geht, das haben wir uns nicht aus der Hand nehmen lassen. Denn auf Ver.di ist nicht immer Verlass, oft stellt sich einem die Gewerkschaft als Institution in den Weg. Das hatten wir etwa, als Bildungsurlaubstage kurzfristig abgesagt wurden, was im prekären Sektor fatal ist. Das hat entmutigt und uns auch Aktive gekostet.
Der für uns zuständige Fachbereich 3 von Ver.di hat aber auch freiwillig Arbeit abgegeben, weil sie zu wenig Sekretäre haben und es sehr viel zu tun gibt. Die sind regelmäßig überfordert. Unsere beiden GewerkschaftssekretärInnen waren super, und auch in der ersten Tarifkampagne hat sich ein Sekretär mächtig ins Zeug gelegt und viel mit uns zusammengearbeitet.

Du bist ja nicht nur Gewerkschafter, sondern auch Sozialist. Wenn du aus dieser Perspektive auf so einen Kampf nach zehn Jahren blickst, welche Rolle hat das gespielt?

Wenn ich nicht Sozialist wäre, hätte ich die ganze Ochsentour vielleicht nicht gemacht. Wenn ich nicht Sozialist wäre, hätte ich auch nicht das Instrumentarium gehabt, um in diesem schwierigen Feld eingreifend tätig zu werden. Als Sozialist hat man die klare Grundhaltung, dass im solidarischen Zusammenschluss gegen Konkurrenz der Anfangsgrund von allem liegt. Das ist eine Ressource, die es bei Lebenswege und ambulante dienste gab. Da gibt es ein paar Leute, die links und fortschrittlich sind, und so konnte man auch relativ leicht einen Betriebsrat gründen.
Von da kamen wir zur Gründung des bundesweiten Netzwerks UAPA, da haben wir uns dann über die Gewerkschaftsfrage gestritten. Ich war einer von denen, die gesagt haben, es ist wichtig, gewerkschaftlich aktiv zu werden, wir müssen Anschluss an das Tarifsystem finden.
Seit damals, seit 2011, angefangen mit einem Kampf gegen Lohnsenkung erleben die KollegInnen eine Verbesserung ihres Lohnniveaus. Wenn auch spät, aber die Lohnanpassung an den TVL ist gekommen. Und das alles, weil wir irgendwann gesagt haben, wir wehren uns gegen die Verschlechterungen und gegen das, was uns der Austeritätsstaat immer weiter zumutet – das wird indirekt gesteuert, denn die Geschäftsleitungen müssen das weitergeben, wenn sie zu viel Angst haben. Da haben wir es geschafft, das Ruder herumzudrehen.
Das andere, wenn du nach mir als Sozialist fragst, ist, ich wollte beruflich eigentlich mal woanders hin, aber irgendwann war klar, ich bin jetzt hier und ich führe jetzt den Nahkampf um meine Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das Konzept der Persönlichen Assistenz an sich finde ich emanzipatorisch und als Teil für eine befreite Gesellschaft relevant. Da war es mir auch ein Anliegen, das zu vervollständigen, also nicht nur ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderung, sondern auch zuträgliche Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu haben. Das war auch ein Punkt bei der Gründung von UAPA, da war viel von dieser utopischen Energie mit drin.

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