Neffe des Präsidenten Kurt Landauer vom FC Bayern
von Dietrich Schulze-Marmeling
Gestern verstarb im Alter von 97 Jahren Uri Siegel, der Neffe des legendären und von den Nazis vertriebenen Bayern-Präsidenten Kurt Landauer.
Mitte der 1990er war Uri mein erster Kontakt bei meinen Recherchen zur Geschichte der jüdischen Mitglieder des FC Bayern. Eine Geschichte, die fast komplett in Vergessenheit geraten war. Seither hat man sich immer wieder gesehen. So bei Diskussionen im Bayern-Museum in der Allianz Arena und beim Antirassistischen Fußballturnier um den Kurt-Landauer-Cup, veranstaltet von der "Schickeria".
Die Begegnungen mit Uri Siegel gehören zu den beeindruckendsten in meinem Leben. Er hinterlässt eine riesige Lücke. Wir werden ihn vermissen.
Hier Auszüge aus meinem Buch "Der FC Bayern, seine Juden und die Nazis", die die Familie Siegel betreffen:
Ein Foto, das um die Welt geht
Außer Kurt Landauer überlebt von den Landauers nur noch die Schwester Henny den Holocaust. Mit Ehemann Julius Siegel und zwei Kindern kann sie sich rechtzeitig nach Palästina retten.
Julius Siegel betrieb mit seinem Vetter Michael Siegel eine Anwalts-Sozietät. Beide hatten – wie Kurt Landauer – am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Michael Siegel ist auch in der liberalen jüdischen Gemeinde Münchens und im Alpenverein aktiv. Münchens Juden besaßen eine große Leidenschaft für die Berge, aber bereits 1924 wurde in der Sektion München der Alpinisten die »Judenfrage« diskutiert und eine antisemitische Entwicklung eingeleitet.
Zu den Mandanten der Siegels gehört auch Max Uhlfelder, Besitzer und Leiter des Kaufhauses Uhlfelder im Rosental. Am 9. März 1933, wenige Stunden nach der Ernennung Heinrich Himmlers zum kommissarischen Polizeipräsidenten Münchens, wird Max Uhlfelder verhaftet und in Dachau interniert. Einen Tag später sucht der 40-jährige Michael Siegel in Uhlfelders Auftrag die Münchner Hauptpolizeiwache in der Ettstraße auf. Siegel will die Freilassung seines Mandanten erwirken und um Schutz für das Kaufhaus Uhlfelder bitten, dessen Fenster am Vorabend von braunen Sturmtruppen zerstört worden sind. Siegel wird in einen Raum gebeten, wo ihn aber nicht Polizeibeamte, sondern SA-Männer erwarten. Der Anwalt wird fürchterlich verprügelt. Ihm werden einige Vorderzähne ausgeschlagen, und sein Trommelfell platzt. Anschließend schneidet man ihm seine Hosenbeine ab und hängt ihm ein Plakat um den Hals, auf dem geschrieben steht: »Ich werde mich nie mehr vor der Polizei -beschweren.«
Barfuß, blutverschmiert und mit dem Schild um den Hals wird Michael Siegel nun von SA-Leuten durch die Ettstraße über die Kaufinger-/Neuhauserstraße und von dort über die Prielmayerstraße zum Hauptbahnhof getrieben. Hier richten die SA-Leute ihre Gewehre auf Siegel und drohen ihrem Opfer: »So, Jude, jetzt stirbst du!« Anschließend lässt man ihn laufen.
Die Hetzjagd wird vom Berufsfotografen Heinrich Sanden festgehalten, der seine Fotos den lokalen Zeitungen anbietet, die aber eine Veröffentlichung ablehnen. Sanden ruft die US-Presseagentur International News Photographic Service an, die die Negative kauft. Der Fotograf sendet die Bilder an die Berliner Niederlassung der Agentur, die sie nach Washington D.C. weiterschickt, wo sie am 23. März 1933 auf der Titelseite der »Washington Times« erscheinen. Das Foto geht um die Welt und ist eines der ersten fotografischen Dokumente zur Judenverfolgung im Nazi-Deutschland.
Trotz dieser brutalen Erfahrung ist es zunächst nicht Michael Siegel, sondern sein Vetter Julius, der die Zeichen der Zeit erkennt. Julius Siegel gibt 1934 seine Anwaltszulassung auf und emigriert noch im gleichen Jahr mit seiner Familie nach Palästina. In München lässt er eine sehr gut gehende Anwaltskanzlei zurück, die jährlich zwischen 30.000 und 32.000 Reichsmark einspielt. Seinen Sohn Uri, der in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters treten wird, wird man später als Entschädigung mit gerade mal 10.000 DM abfinden.
Als Junge hat Uri Siegel 1932 Bayerns ersten deutschen Meistertitel gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern am Radio verfolgt – im bereits erwähnten Landhaus von Kurt Landauers Schwester Gabriele in Untergrainau bei Garmisch, »einem norwegischen Holzhaus mit 14 Zimmern, mit Wiese, Bach und rundherum Wald« (Siegel). Und von Gabriele Landauers Haus in der Kaufingerstraße beobachtete er wenig später den Einzug der Meistermannschaft zum Marienplatz: »Der Onkel und der Trainer saßen in der Kutsche. Neben dem Kutscher saß mein Vetter Otto.«
In München hat Siegel jun. das katholische Ludwigs-Gymnasium besucht, wo er nur einer von zwei jüdischen Schülern ist. Seine Lehrer, so sagt er, hatten »mit den Nazis nichts zu tun«. Erfahrungen mit dem Antisemitismus in der Stadt machte er dennoch. Darüber berichtete er im September 2006 im »Jetzt-Magazin« der »Süddeutschen Zeitung«: »Als ich einmal mit der Trambahn nach Hause gefahren bin, hat ein Schaffner zu mir gesagt: ›Du bist doch ein Judenbüble, warum bist du noch nicht in Palästina?‹ Ein anderes Mal hat ein Pulk von Jungs bei uns um die Ecke meinen Freund Wolf Bacherach umzingelt. Als ich dazu kam und wissen wollte, was los ist, haben sie gesagt: ›Den schicken wir jetzt nach Dachau, wo die Juden Torf stechen müssen.‹ Damals war ich zehn. Ich hab’ mir nicht viel gedacht dabei, sondern bin einfach rein in den Pulk und habe den Wolfi heimgebracht. Was uns erwarten würde, habe ich gar nicht mitbekommen. Aber das illus-triert, wie unbefangen und naiv ich damals war. Es war eine trügerische Ruhe – bis auf die Geschichte mit dem Michael Siegel.«
Wie viele andere deutsch-jüdische Emigranten lässt sich auch die Familie Siegel in Palästina in der Nähe von Haifa nieder. Uri Siegel lernt in der Schule Hebräisch – und spricht dies mit bayerischem Akzent. Der Schuldirektor kommt aus Sachsen und lehrt das Alte Testament mit sächsischem Dialekt.
Vater Julius absolviert in der neuen Heimat noch im Alter von 50 Jahren ein weiteres juristisches Studium, das er 1938 erfolgreich abschließt. In Haifa wird er daraufhin als Advokat zugelassen und übt diesen Beruf bis zu seinem Tod 1951 im Alter von 67 Jahren aus.
Von Palästina aus bleibt die Familie Siegel in Kontakt mit Kurt Landauer. Uri Siegel: »Wir waren in Verbindung mit ihm, die Schweiz war ja neutral. Über ihn erfuhren wir auch etwas über das Schicksal der anderen Geschwister. Aber in Palästina gab es ja auch eine Zensur während des Krieges. Meine Mutter wahr wohl in Verbindung mit ihm.«
Mehrfach fordert die Familie auch ihren Verwandten Michael Siegel auf, Nazi-Deutschland zu verlassen und nach Palästina zu kommen. Michael Siegel stammt aus Arnstein in Franken, der Vater war Landwirt und Pferdehändler, weshalb der Onkel nach Uri Siegels Auffassung hervorragend nach Palästina gepasst hätte. Doch Michael Siegel antwortet: »Ich bin Deutscher und gehöre hier hin.«
1939 schickt er seine Kinder Beate und Peter mit dem Kindertransport nach England. Ihm selbst und seiner Frau Mathilde gelingt erst in letzter Minute die Flucht, und dies auch nur dank eines Zufalls. Siegel nahm Spanischunterricht bei einem Studenten, der ein Neffe des Innenministers von Peru war. Dank dieses Kontakts gelangt das Ehepaar in den Besitz der nötigen Visa und kann 1940 nach Peru auswandern. Dort dient Siegel der deutsch-jüdischen Vereinigung als Funktionär. 1971 meldet sich noch einmal sein Heimatland: Michael Siegel bekommt das Große Bundesverdienstkreuz am Band verliehen – für seine Mithilfe bei der Einrichtung der deutschen Auslandsvertretung in Peru. Acht Jahre später stirbt er 96-jährig in Lima.
(…)
Uri Siegels Erfahrungen
Zu den Rückkehrern gehört auch Kurt Landauers Neffe Uri Siegel. Als 19-Jähriger hatte sich Siegel der britischen Armee angeschlossen. Siegel ging zur Artillerie, für die ihn sein Onkel Franz begeistert hat, der in den Ersten Weltkrieg als glühender Patriot gezogen war. In britischer Uniform und in den Reihen der Royal Artillery kämpfte Siegel gegen Nazi-Deutschland. »Wir sagten uns: Wenn wir nicht gegen Hitler kämpfen, wer dann?« Beim israelischen Unabhängigkeitskrieg war Siegel ebenfalls dabei, nun als Artillerist in der Zahal, der israelischen Armee.
Erstmals besucht Siegel im November 1945 seine Heimatstadt München, noch als englischer Soldat, der in Belgien stationiert ist. Zwischen 1951 und 1956 hält sich Siegel, der in die anwaltlichen Fußstapfen seines Vaters getreten ist, fünfmal in München auf, zumeist aus beruflichen Gründen. Bei einem dieser Besuche, im April 1951, lernt er bei »Annast« im Hofgarten (früher und heute wieder: Café Luigi Tambosi) seine spätere Frau Judith kennen. Siegel in einem Interview mit dem »Jetzt-Magazin« der »Süddeutschen Zeitung«: »Ich war in München und sie war eigentlich auf dem Weg von Los Angeles, wohin ihre Familie emigriert war, nach Israel. In München machte sie nur einen kurzen Stop, um sich von ihrer Stiefmutter zu verabschieden, die hier ihre Wiedergutmachungsangelegenheiten regeln sollte. Dabei haben wir uns kennen gelernt und im November 1951 haben wir in Israel geheiratet.«
1956 erlangt Siegel seine deutsche Staatsangehörigkeit wieder. Ein Jahr später übernimmt er die Vertretung einer israelischen Wiedergutmachungskanzlei in München und lässt sich mit seiner Frau hier nieder. Siegel: »Ich glaube, es ist leichter, in ein Land zurückzukehren, gegen das man kämpfte, als in eines, das einen verfolgt hat und wo man tatenlos zusehen musste.«
Damals dachte er noch, »das ist eine Sache von einigen Jahren, aber dann ging es immer weiter.« So richtig willkommen fühlen sich die Rückkehrer allerdings nicht. So berichtet Uri Siegel: »Ich habe vorwiegend in München Bekannte meiner Eltern getroffen, mit denen bin ich gut ausgekommen. Die Stimmung war positiv. Aber ein ›echtes‹ Willkommen hat gefehlt. Mein Vater kannte zum Beispiel Wilhelm Hoegner, den einzigen SPD-Ministerpräsidenten Bayerns. Als mein Vater in den Ersten Weltkrieg zog, musste er einen Vertreter für seine Kanzlei bestellen. Das war Hoegner. Als Hoegner 1946 Ministerpräsident wurde, hat ihm mein Vater einen Gratulationsbrief geschrieben. Ich kenne nur die Antwort: Da bedankt sich Hoegner und freut sich, dass mein Vater ein neues Zuhause in Palästina gefunden hat. Aber kein ›Kommen Sie doch wieder zurück. Wir wären froh, wenn unsere alten Mitbewohner zurückkämen.‹« Wie Uri Siegel später erfährt, konnte sich Hoegner angeblich »wegen Widerständen im eigenen Kabinett nicht erlauben, einen Juden zur Rückkehr zu ermuntern«.
Angenehm ist sein Anwaltsjob nicht. Bei seinen Gängen zum Landgericht und Entschädigungsamt spürt Siegel »wenig vom Geist der Wiedergutmachung und schlechtem Gewissen«: »In Bayern wurde das Thema der Wiedergutmachung sehr stiefmütterlich behandelt.« Für einen Tag im KZ oder Ghetto gab es fünf Mark, was heute einer Kaufkraft von zwölf Euro entspricht.
Zurück in Deutschland und München, zeigt Siegel nun ein viel stärkeres Interesse am jüdischen Leben als während seiner Kinderzeit. Nicht nur, weil Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung aus den »deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens« »Juden in Deutschland« gemacht haben. Auch die israelische Sozialisation und die Arbeit spielen eine Rolle. Siegel: »Ich kam aus Israel, wo es naturgemäß jüdisches Leben gab. Außerdem betreuten wir in der Kanzlei vorwiegend jüdische Mandanten, die meisten waren polnische Juden, deutsche Juden waren selten, Münchner Juden nur wenige. Aber in die Synagoge bin ich immer noch selten gegangen.«
In den 1960ern lässt sich Siegel erstmals in den Vorstand der Jüdischen Gemeinde wählen, »nachdem ich mich habe überreden lassen, auf der Liste von Fritz Neuland, dem Gründer der Gemeinde nach dem Krieg, zu kandieren«. Neuland ist der Vater von Dr. h.c. Charlotte Knobloch, seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern sowie zwischen 2006 und 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der aus Bayreuth stammende Neuland war vor dem Ersten Weltkrieg Konzipient (Referendar) bei Uri Siegels Großvater gewesen und hatte anschließend acht Jahre in der Kanzlei von Julius Siegel gearbeitet. Krieg und Holocaust überlebte Neuland als Zwangsarbeiter. Von 1951 bis 1969 ist der renommierte Anwalt bayerischer Senator.
Landauer-Neffe Siegel fungiert zwei Jahre lang als Vizepräsident der Münchner Gemeinde und 17 Jahre als Geschäftsführer der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. Über den Unterschied zwischen den Gemeinden vor 1933 und nach 1945 berichtet er: »Vor dem Krieg waren in der Gemeinde deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, die in erster Linie Deutsche waren, dann gab es die Ultrareligiösen, die in erster Linie Juden waren, die Zionisten und alle dazwischen. Die Gemeinde war liberal. Es waren vor allem Leute, die sich als Juden gefühlt haben, aber wenig in die Synagoge gegangen sind. Seit dem Krieg ist es eine orthodoxe Gemeinde, obwohl im Vorstand vielleicht einer mit Kippa saß.«
27. Juni 2020
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